Brigitte

Wie gestern schon angekündigt, muss ich unbedingt von meinen letzten neun Tagen berichten. Es ist sehr schlimm für mich, nicht schreiben zu können…

Ich lag nach meiner OP in einem Vierbettzimmer. Nicht unbedingt toll,
es war aber so groß, dass man zumindest noch etwas Privatsphäre hatte. Ich würde mal tippen: Etwa 50 Quadratmeter (7 x 7 Meter), rolligerechte Dusche und WC gingen pro Zimmer von einem Vorflur ab, das habe ich noch nicht mit eingerechnet. Vor dem Fenster standen lediglich ein paar Bäume, also schöne Aussicht hatte man nicht.

Ein Bett wurde in meinen neun Tagen drei Mal neu belegt, das waren immer nur kurze Aufenthalte, in einem weiteren Bett lag Marion (14), in einem lag Brigitte (60+) und im vierten die Stinkesocke (18). Marion hatte irgendwas mit einem Oberarm, Brigitte hatte was mit einer Bandscheibe – und Stinkesocke hatte ein paar Schrauben locker.

Obwohl … nee, eigentlich hatte Brigitte die Schrauben locker. Und zwar alle, die sich irgendwie lösen können. Ich weiß, Lästerei gehört sich nicht, aber ich muss es dennoch loswerden. Ich weiß nicht, was schlimmer war, die Schmerzen nach der OP oder diese Frau ertragen zu müssen. Ich habe ja öfter mal solches Glück bei meinen Krankenhausaufenthalten.

Sie war adlig. So tat sie zumindest. In Wirklichkeit war sie vermutlich nur infoweit adlig, als ihre Mutter ein Adler war. Ihr Vater war ein Fasan. Okay, der Spruch ist von Sascha Grammel geklaut, aber genau an seinen Freiherr vom Furchensumpf erinnerte mich Brigitte. Die Frisur stimmte, sie kratzte sich auch permanent irgendwo und egal, was passierte: Sie war stets davon überzeugt, dass sie jemand ärgern, provozieren oder angreifen wollte, dass sie nicht ernst genommen oder ihr nicht genug Respekt gezollt werden würde, dass ihre Umwelt ungezogen
ist und überhaupt die ganze Gesellschaft nur noch aus einem elendigen Haufen Versager und Jammerlappen besteht.

Dass ein paar Mal pro Tag auf dem Krankenhausgelände der Rettungshubschrauber landete und startete, empfand sie als Zumutung. Dabei flog er den Landeplatz grundsätzlich von der anderen Seite an und startete auch immer in die vom Krankenhaus abgewandte Richtung. Natürlich nervt das, aber wenn man bedenkt, warum das Ding startet und landet, wird man das doch wohl in Kauf nehmen können. Immerhin fliegen die damit ja nun nicht zum Brötchenholen.

Wenn nachts die Schwester reinkam, fing Brigitte laut zu pöbeln an, dass sie schlafen wolle. Danach waren alle wach. Die Schwester kam wirklich leise rein, mit einer Taschenlampe, leerte im Dunkeln meine Wunddrainage aus. Ich habe das, bis Brigitte zu schreien anfing, nicht mal mitgekriegt. Überhaupt waren die Schwestern und Pfleger dort sehr nett. Viele kamen aus dem osteuropäischen und russischen Raum, aber alle
sprachen Deutsch und waren – nett.

Auch das Essen war okay. Für Krankenhausessen war es durchweg gut. Morgens frische Brötchen, Obst, Saft, verschiedene Marmelade, Honig … nee, man kann wirklich nicht klagen. Es sei denn, man heißt Brigitte und
ist adlig. Und ich wette, zu Hause frühstückt sie gar nicht.

Sie redete den ganzen Tag und versuchte ständig, mich in Gespräche zu
verwickeln. Diese handelten dann davon, dass der Nachbar zu Hause seine
Blumen nicht pflegt, dass irgendwo in ihrer Straße seit Wochen eine Laterne defekt ist oder ihre Nachbarin fast blind ist und gerne bestimmte Musik hört. Jeder zweite Satz war entweder: „Was sollen die Leute davon denken“ oder „Das gehört sich doch nicht.“

Sie suchte unbedingt Anschluss und wurde, wenn man höflich versuchte,
sie ein wenig auf Distanz zu halten, immer aufdringlicher. Irgendwann wusste ich mir in meiner Genervtheit nicht mehr anders zu helfen und brachte diesen Spruch: „Man, sind Sie sabbelig. Nehmen Sie sich doch mal
10 Euro und gehen Sie zum Frisör.“ – Es bewirkte genau das Gegenteil, sie meinte, ich sei ungezogen, hätte keine Erziehung genossen und „ein Straßenkind“.

Ich hatte mein Handy am Bett. Drei Mal hat sie Schwestern und Ärzte darauf angesprochen, dass ich ja ein Handy hätte und das sei ja verboten. Sie wolle mich nicht verpetzen, aber es ginge ums Prinzip. Die
Stationsärztin: „Grundsätzlich haben Sie Recht, aber wir sehen das nicht so eng, wenn keine technischen Geräte im Raum sind. Das Handyverbot ist eher zur Sicherheit, dass man im Bedarfsfall darauf verweisen kann, ohne lange diskutieren zu müssen.“

Dann hatte ich Butterkekse in meinem Nachtschrank. Und mir hin und wieder mal einen in den Mund gesteckt und Marion auch einen angeboten. Sagt Brigitte doch zu der Schwester: „Sie hat da Naschkram im Nachtschrank. Ich habe das genau gesehen! Ich wollte nur Bescheid sagen.“ – Wo sind wir denn hier? So eine ähnliche Bettnachbarin hatte ich schonmal! Und ein wenig erinnerte sie mich auch an meine Tante. Aber
wenn schon in der Schule niemanden mehr interessiert, ob man im Unterricht isst (sofern man beim Antworten den Mund leer hat und keine dampfenden Speisen mit reinbringt), warum sollte ich dann hier keine Butterkekse essen?

Einen Tag habe ich mir was zu essen bringen lassen. Eine Gruppe Jungs
im Rollstuhl hatte mich „entdeckt“ und besuchte mich regelmäßig und fragte, ob ich auch was bestellen möchte. So bekam ich zwischendurch mal
was mit Reis und Hühnchenfleisch, das war sehr lecker. Brigitte: „Ich habe Angst, dass Sie erwischt werden.“ – Ich zuckte nur mit den Schultern – wer sollte mich erwischen? Das war doch nichts verbotenes. Die Nachtschwester hat die Aluschale weggeräumt und Brigitte fragte sie:
„Wissen Sie, was das ist? Sie hat sich Essen bestellt mit den anderen Leuten.“ – Ich habe nur noch müde gelächelt und mir meinen Teil gedacht.
So ein blödes Waschweib. Die Nachtschwester hat gegrinst. Brigitte erklärte dann irgendwann, sie hätte Sorge um mich und würde denken, ich gefährde meinen Therapieerfolg. Sie petze nur aus fürsorglichen Gründen.
Es fehlte nur der Spruch: „Früher hätte es so etwas nicht gegeben.“ Immerhin konnte sie sich am nächsten Tag bei der Chef-Visite verkneifen,
nochmal auf mein externes Essen hinzuweisen. Sagte sie. Sie habe überlegt, ob sie es sagen solle, aber sie wolle mir ja nicht schaden. Ob
sie so überhaupt nicht merkt, wie lächerlich sie sich macht?

Ich bekam nach der OP vorbeugend Cipro, ein Antibiotikum, das bei mir
ziemliche (Achtung lecker) Blähungen auslöst. Davon abgesehen, dass ich
das meistens ohnehin nicht kontrollieren kann (Querschnitt sei Dank), würde ich auch als Nicht-Querschnitt keinerlei Veranlassung sehen, mit meinen ganzen Schläuchen etc. aus dem Bett aufzustehen, um auf dem Klo zu pupsen. Im Alltag sage ich bei Leuten, die mich nicht kennen, meistens einmal „Entschuldigung“, ich muss ja nicht jedem erklären, dass
ich das nicht kontrollieren kann. Aber auch dazu sehe ich im Krankenhaus keine Veranlassung. Zumal das unter der Bettdecke war und der Raum groß genug war, belüftet wurde… okay. Brigitte, nach meinem zweiten hörbaren Pups: „Sind Sie das andauernd? Ich finde das nicht in Ordnung, hier sind auch andere Leute mit im Zimmer.“ – „Ist mir egal, was Sie finden.“ – Zwei Sekunden später klickte die Schwesternklingel. Als die Schwester kam, war sie nach 10 Sekunden wieder draußen: „Das müssen Sie unter sich ausmachen.“

Ende vom Lied (sprichwörtlich): Ich habe munter rumgepupst und Brigitte hat jedes Mal entweder empört mit der Zunge geschnalzt, sich empört geräuspert oder so Ausrufe wie: „Na! Sag mal! Also wirklich!“ zum
Besten gegeben. Nach einiger Zeit haben sich Marion und ich immer gegenseitig die Schuld zugeschoben: „Das war sie.“ – „Nein sie.“ – Einer
14-jährigen macht sowas ja eine Zeitlang Spaß, als auch das langweilig wurde, haben wir das dann komplett ignoriert. Brigitte bis zum Schluss nicht.

Und wo wir schon bei solchen Ekelthemen sind, was wäre Jules Blog, wenn ich das aussparen würde: Als der Dauerkatheter draußen war, sollte ich anfangs wieder intermittierend selbst kathetern, später dann zusammen mit der Schwester aufs Klo. Bettpfanne oder ähnliches fällt bei
Querschnitten grundsätzlich aus. Erstens kommen sie alleine nicht drauf, zweitens kann das Metall schon bei einmaliger Anwendung die Haut verletzen. Hautverletzungen in dem Bereich heilen mitunter über Wochen nicht ab.

Es war morgens, ich sollte duschen, viele sollten duschen, es war entsprechend viel los, ich hatte geklingelt, weil ich zusammen mit der Schwester aufs Klo wollte (alleine durfte ich noch nicht), es kam aber niemand. Ich sagte zu Marion: „So, hoffentlich kommen die jetzt bald, sonst pinkel ich ins Bett.“ – Brigitte fühlte sich berufen und sagte: „Das machen Sie nicht! Sie werden jawohl ein bißchen Anstand haben. Das ist eine Zumutung für uns alle, die hier noch im Zimmer liegen.“ – „Ich muss aber dringend und kann das nicht mehr lange halten.“

Nun muss man wissen, dass es eine Schwesternklingel gibt und auch einen Patientennotruf über eine zentrale Notrufanlage. Man könnte die Schwester auch noch intern auf ihrem mobilen Telefon anrufen – wenn man die Nummer weiß. Bei der Schwesternklingel leuchtet es rot über der Tür und piept auf dem Flur, beim Notruf wird eine Sprechverbindung mit dem Pförtner hergestellt, der dann wiederum auf dem schnurlosen Telefon, dass die Schwestern mit sich herumtragen, eine Durchsage machen kann (der kennt die Nummer sicher!) oder zur Not gleich den Arzt anpiept oder
die Feuerwehr ruft oder ähnliches. „Ich muss pinkeln“ ist eindeutig die
Kategorie „Schwesternklingel“, auch wenn es dringend ist.

Brigitte drückte den Notruf und erzählte dem Pförtner, dass ihre Mitpatienten gleich „unter sich nässt“ und das doch menschenunwürdige Zustände seien. Der Pförtner antwortete nur: „Klingeln Sie bitte nach der Schwester. Mehr kann ich von hier nicht für Sie tun. Knack. Aus.“

Ich sagte zu Marion: „Was meinst du … ob die Schwestern böse sind, wenn das Kissen dabei auch nass wird?“ – Marion merkte, dass ich Brigitte damit verarschen wollte, schielte mehrmals zu ihr rüber und grinste. Brigitte saß da mit offenem Mund und glaubte vermutlich, ihren Ohren nicht zu trauen. Ich schob das Kopfkissen an meinen oberen Bettrand. „Ich rette das mal aus der Gefahrenzone. Und die Decke leg ich
auch mal so hin, dass ich nirgendwo draufliege. Es reicht ja, wenn das Laken nass wird. Hoffentlich sickert es nicht bis auf den Fußboden durch.“ Blödsinn – es lag ja was aufsaugendes drunter und die Matratze war wasserdicht eingeschweißt.

Brigitte verzog das Gesicht und klopfte abwechselnd mit ihren Händen auf ihre Bettdecke. „Das ist so schlimm, das ist so schlimm“, rief sie. Haschmich! – Ich unterhielt mich nur mit Marion. „Das wird bestimmt nicht schlimm. Hast du schonmal mit Absicht ins Bett gemacht?“ – „Mit Absicht noch nicht. Obwohl, als ich klein war, habe ich das, glaube ich,
mal gemacht, um meine Mutter zu ärgern oder gegen irgendwas zu protestieren. Aber da muss ich etwa 3 oder 4 Jahre alt gewesen sein.“

Brigitte war völlig außer sich. „Wollen Sie sich jetzt wirklich mit Absicht einnässen? Die Schwester kommt doch bestimmt gleich.“ – Ich sagte zu Marion: „Ich überlege gerade, was besser ist. Wenn man auf der Seite liegt oder wenn man auf dem Rücken liegt. Oder lieber auf dem Bauch?“ – Marion antwortete: „Ich würde es auf dem Rücken liegend machen. Bauch ist eklig und auf der Seite verteilt sich das so weit nach
oben und unten.“

Wie gesagt, ich habe das nicht endlos unter Kontrolle und kann mich noch so sehr anstrengen, irgendwann automatisiert sich das. Der Zeitpunkt war dann auch gekommen, es wurde schön warm am Rücken… Ich tat
aber weiterhin so, als wäre das noch nicht passiert und ärgerte Brigitte, indem ich mit Marion aushandelte, wann ich das denn machen sollte. „Am besten zählst du von 10 rückwärts runter und bei 0 gehts dann los.“ – Marion zählte. „2 – 1 – Nullkommasiebenfünf – Nullkommafünf
– Nullkommazwofünf – Nullkommaeinszwofünf.“ – „Kommazahlen waren nicht abgesprochen, ich habe bei Nullkommasiebenfünf schonmal angefangen.“ – „Und wie isses so?“ – „Ja, schön warm am Po und so, fühlt sich ein bißchen an wie die Sitzheizung im Auto oder wie ein defektes Wasserbett,
aber insgesamt … mal was anderes.“ – „Ob ich das auch mal ausprobieren sollte?“

Es war natürlich alles nur Blödsinn. Erstens merke ich das am Po so gut wie gar nicht, zweitens wollte das Marion nicht ausprobieren. Aber Brigitte glaubte das. Als die Schwester endlich reinkam und sich gerade entschuldigen wollte, dass es etwas länger gedauert hat, ergriff Brigitte das Wort und sagte: „Ich würde sie zur Strafe drei Stunden in ihrer Suppe liegen lassen. Das war komplett mit Absicht!“ – Ich sagte: „Zum Glück haben Sie hier nichts zu sagen.“ – Die Schwester fragte, ob das Bett nass sei und entschuldigte sich mindestens fünf Mal, es habe aber einen Notfall gegeben und sie hätte nicht früher kommen können. Es täte ihr sehr leid.

Brigitte konnte es nicht lassen: „Sie hat das mehrmals angekündigt, dass sie das jetzt mit Absicht macht! Die beiden haben sogar einen Countdown gemacht. Sie haben das doch auch gehört?“ fragte sie die vierte Zimmerbewohnerin. Die redete kaum, sagte dann aber: „Sie haben doch nen Knall.“ – Die Schwester jedenfalls sagte: „Sie sind eine ziemliche Petze, oder?“ – „Es stimmt aber!“ – „Das ist mir ganz egal, ob
das stimmt. Sie sollten sich mal ein bißche mehr um ihre Sachen kümmern.“

Sie schob mich mitsamt dem Bett in den Duschraum, damit ich mich dort
gleich umsetzen konnte, ohne noch meinen Rollstuhl nass zu machen. Ich erklärte ihr dann, dass es zwar den Countdown gegeben hatte, dass das aber nur Spaß war, in dem Moment war schon alles gelaufen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Schwester sagte: „Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Ich wüsste nicht, wie ich als Querschnitt zurecht kommen würde und solange ich das nicht weiß, halte ich ganz gepflegt meine Klappe. Auch wenn ich das Bett alle 10 Minuten beziehen müsste.“ – „Naja, wir haben hauptsächlich die Frau gegenüber geärgert. Die nervt den ganzen Tag.“ – „Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Aber ich darf dazu nichts sagen.“ – Klar.

Brigitte jedenfalls erzählte mir dann auch noch ungefragt, dass sie ja in einer Wohnungsverwaltung gearbeitet hat, und sie auch öfter mit „solchen Leuten“ zu tun gehabt hat, die als Rollifahrer eine Wohnung suchen. Es sei nicht immer einfach gewesen. In der Nachbarschaft habe mal ein Spastiker gewohnt, der sei „immerhin nicht dumm“ gewesen. Mir hätte eigentlich nur noch ein Ausflug in die Nazi-Zeit gefehlt – das wäre bestimmt lustig geworden, nachdem sie ohnehin schon paar Mal geäußert hatte, dass sie die ganzen ausländischen Krankenschwestern nicht gut fände. „Die klauen bestimmt auch mal was“, meinte sie. Ich kann dazu nur eins sagen: Mir haben sie nichts geklaut. Und mich haben sie zuvorkommend behandelt. Und nun kann ich endlich das Thema „Brigitte“ zu den Akten legen. Danke, Blog.

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