Ich hatte noch „Schulden“ offen und daher konnte ich absolut nicht „Nein“ sagen, als ich heute morgen gefragt wurde, ob ich jemandem bei seiner Schwimmgruppe helfen könnte. Davon abgesehen, dass ich das gerne mache, hatte ich anfangs Schiss, damit überfordert zu sein.
In dem Krankenhaus, in dem ich einige Monate meines Lebens verbracht hatte, hat mein Sportverein einige Gruppen installiert. Ein wesentlicher Nutzen: Die Patienten sollen schon während der Behandlung oder Reha mit
anderen Rollifahrern in Kontakt kommen. Für meinen Verein ist es natürlich super, diese erstklassigen Anlagen für das eigene Sportangebot nutzen zu dürfen.
Zu einer Schwimmgruppe sollte heute erstmals ein Mädchen, Sara, kommen, das wegen einer Zerebralparese (Spasti nach Hirnverletzung) im Rolli sitzt. Elf Jahre alt, verhältnismäßig stark eingeschränkt, könne nicht frei sitzen, müsse im Rolli angeschnallt werden, damit sie nicht rauskippt, Gehen oder Stehen sei völlig unmöglich und überhaupt … Muddi schiebt, Muddi füttert, Muddi zieht an und zieht aus, Muddi dreht sie sogar im Bett um – sagt Muddi. Physio- und Ergotherapie laufen seit Jahren, durch die Physiotherapie mache sie große Fortschritte beim Greifen und in der Bauchlage und ihr Muskeltonus in Beinen und Armen sei deutlich zurückgegangen. Geistig sei sie völlig normal entwickelt, eher überdurchschnittlich.
Bin ich Therapeutin? Ein eindeutiges Nein. Daher auch meine Befürchtung, mit dieser Aufgabe überfordert zu sein. Anders sah das unser Chef, der mit den sieben anderen Jungs und Mädels im großen Schwimmbecken nebenan war, während er mich ins flache (120 cm), warme, kleine Becken schickte – ganz alleine. Nun gut, eine Aufsicht saß in einem Glaskasten und strickte. Aber die beaufsichtigte eben nur und würde uns vor dem Ersaufen retten. „Was soll ich denn mit ihr machen?“ fragte ich ihn vor der Stunde. – „Dir fällt schon was ein. Wenn sie am Ende der Stunde im Wasser ist und sich an Dir festhält, bin ich glücklich. Dafür gibt es kein Rezept. Wir therapieren nicht, wir verschenken nur Selbstbewusstsein. Also geht baden, spielt miteinander und lass sie die Stunde in einer tollen Erinnerung behalten. Egal wie.“
Das alles war leichter gesagt als getan: Immerhin konnte Sara nicht sitzen, ohne nach vorne oder hinten umzukippen und sich auch nirgendwo anlehnen oder selbst festhalten. Angeblich. Und Muddi stand die ganze Zeit daneben und nervte, indem sie ihrer Tochter ständig helfen wollte und ihr jede Bewegung quasi abnahm. Also schickte ich als erstes die Mutter raus: „Wollen wir die Mama mal los schicken, dass sie mal schaut, wo wir am Ende der Stunde ein Eis herbekommen?“ – Muddi guckte mich entsetzt an, Sara nickte aufgeregt und rief: „Tschüß, Mami! Wir schaffen das auch alleine!“ Ich musste herzhaft lachen und hätte sie knuddeln können. Muddi fand es kaum lustig, war eher besorgt.
Sara saß noch angeschnallt in ihrem Rolli. Ich fuhr mit ihr an die Stirnseite des Beckens, gab ihr ein langes Seil in die Hand. „Nicht fallen lassen“, sagte ich ihr. „Schön festhalten.“ Ich rollte mit dem anderen Ende des Seils um das komplette Becken herum. Nach dem dritten Versuch schaffte sie es, es nicht aus der Hand gleiten zu lassen. Indem sie nicht quatschte, sondern sich konzentrierte. Ich setzte mich auf den Beckenrand, krabbelte auf eine schwimmende Styroporplatte und forderte Sara auf, mich zu ziehen. Ich musste noch zwei Mal aus dem Wasser wieder raus und ihr das Seil wiedergeben, das sie fallen ließ, dann hatte sie den Dreh aber raus und zog mich über das Wasser zu sich hin. Vor lauter Aufregung kreischte sie wie am Spieß und rief: „Hihi, ich bin dein Kapitän!“
Ich antwortete: „Nö, du bist nur eine Matrosin, die das Schiff durchs Wasser zieht. Kapitän bin ich, denn ich bin auf dem Schiff.“ – Aus ihrem Lachen wurde eine ernste Miene. Am liebsten hätte sie mir wohl Spielverderberei an den Kopf geworfen. Bevor es dazu kommen konnte, fragte ich sie: „Willst du mit aufs Schiff?“ – Sie nickte eifrig. – „Dann musst du mir aber helfen. Ich kann dich nicht tragen und Mama geht ein Eis suchen.“ – „Verflixt! Nie ist sie da, wenn man sie braucht!“ – „Genau. Wir setzen dich gemeinsam vom Rolli auf den Beckenrand. Du hältst dich am Geländer fest, damit du nicht umkippst. Schaffst du das?“ – Sie nickte. Auf dem Beckenrand war ein Rutschfläche, über die man vom Rolli ins Wasser kommen konnte. Ich stellte ihre Beine auf den Fußboden, unterstützte sie an der Hüfte, sie zog sich am Geländer hoch und plumpste mit dem Po auf das Rutschblech. Autsch. Sie gackerte aber, also war alles gut.
„Du musst dich jetzt ganz doll festhalten. Ich kann dich nicht halten, ich muss mich selbst umsetzen.“ – „Keine Panik!“ sagte sie. Soviel zum Thema „Unselbständigkeit“. Ich kletterte ins Wasser, schob die Styroporplatte auf den (an dieser Stelle extra breiten) Beckenrand, legte mich mit dem Rücken nach unten auf die Platte und zog Sara zu mir auf den Bauch. Sie legte sich direkt auf mich drauf, ihren Kopf auf meine Brust. „Du musst jetzt ganz still liegen bleiben, okay? Nicht dass unsere Mission hier kentert.“ – „Klaro. Ich hoffe, ich krieg keine Spastik.“ – „Ich halte dich fest, okay?“ – „Ich halte mich auch fest“, sagte sie, war aber viel zu aufgeregt, um fest zuzugreifen. Ich schob die Styroporplatte langsam und mit viel Kraft auf das Wasser. Hauptsache, das Scheißding kippt jetzt nicht um oder geht unter, dachte ich mir. Aber nein, das tat es nicht. Es sank etwas ins Wasser ein, aber es trug uns beide. Sara lag ganz ruhig auf mir drauf, bewegte sich keinen Millimeter (was für einen Spasti in so einem Moment sehr anstrengend sein kann) und ich paddelte uns mit den Händen durch das Wasser.
„Ich höre dein Herz klopfen“, sagte sie plötzlich. „Hört sich mein Herz genauso komisch an?“ – „Könnte sein. Schlägt mein Herz denn doll?“ – „Sehr doll.“ – Wir fuhren ein paar Mal gegen den Beckenrand und Sara gackerte über meine Unfähigkeit, das Boot so zu steuern, dass es keine Kollision gab, dann erzählte ich ihr, dass ich mich auf die Seite drehen würde, sie neben mich legen und von unserem Boot langsam ins Wasser rutschen würde. Sie müsse sich von der Seite wieder auf den Bauch drehen, sonst plumpst sie auf der anderen Seite ins Wasser. Sie schaffte es auf Anhieb! Und lag alleine auf dieser Styroporplatte, während ich schwimmend ihr Boot durch das Becken schob. Und natürlich noch den einen oder anderen Unfall mit dem Beckenrand provozierte. Zu Saras Belustigung.
Dann bot ich ihr an, ins Wasser, aber auf meinen Arm zu kommen. Nur dass ich sie nicht halten könnte, wegen meiner Behinderung. Ich brauchte die Arme ja zum Schwimmen. „So eine Behinderung ist Scheiße oder?“ – „Naja, man muss manchmal Umwege gehen und braucht die Hilfe von anderen. So wie ich jetzt mal deine Hilfe brauche, weil ich dich nicht festhalten kann, müsstest du dich mal selbst an mir festhalten.“ Und einige Minuten später hatte sie so viel Vertrauen und war so ruhig, dass ich in Rückenlage schwamm und sie sich auf mir drauf liegend an mir festgeklammert hatte. Ich hatte Mühe, meinen Kopf über Wasser zu halten und bekam fast Panik, abzusaufen, aber Sara gefiel die ganze Sache und aus ihr könnte mal eine richtige Wasserratte werden.
„Hast du schonmal gehört, was für Geräusche es unter Wasser gibt?“ fragte ich sie und legte meinen Kopf seitlich auf die Wasseroberfläche, als wir uns wieder am Beckenrand festhielten. Sara machte es mir nach. „Das klingt lustig.“ – „Und hast du schonmal geschaut, ob man unter Wasser was sieht?“ – Sie schüttelte den Kopf. Ich erklärte ihr, dass wir zusammen tauchen, uns kurz unter Wasser anschauen, dann wieder hochkommen. Und weil wir keine Fische sind, darf man unter Wasser keine Luft holen. Sonst verschluckt man sich. „Traust du dir das zu?“ – „Ich bin doch kein Baby mehr!“, war die prompte Antwort.
Wir tauchten immer und immer wieder, sprachen unter Wasser miteinander und es funktionierte. Sara verschluckte sich am Anfang einmal, aber das war, wie sie selbst sagte, ihre eigene Blödheit, denn ich hatte doch gesagt, sie solle nicht einatmen. „Wer nicht zuhört, muss leiden“, war ihr Spruch dazu und sie probierte es gleich noch einmal. Überhaupt mangelte es nicht an irgendwelchen Sprüchen: „Wenn das hier alles schiefgeht heute, kommst du dann morgen zu meiner Beerdigung?“
Ich umklammerte Sara von hinten, in den Händen eine Schwimmnudel, die ich mir in den Nacken legte. Jetzt hatte ich zwar ihre Haare im Gesicht und bei einer von ihren drei Millionen Streckspastiken donnerte ihr Kopf ziemlich übel gegen mein Kinn, aber wir trieben im Wasser und Sara hatte den Job, mit den Beinen so zu strampeln, dass wir rückwärts schwimmen würden. Als Spasti konnte sie ihre Beine bewegen, nur eben eher nicht kontrolliert. Zum Strampeln reichte es aber und wir drehten sechs Runden durchs Wasser. Dann kam: „Ich muss mal auf die Toilette.“ – Immerhin schön, dass sie Bescheid sagte.
Aber jetzt, wo alles so gut klappte, hätte ich es schöner gefunden, wenn sie die letzten 15 Minuten noch ausgehalten hätte. Ich bekomme sie alleine nur schwer aus dem Becken, hätte das lieber der Mutter überlassen. Ich bekomme sie nur schwer vom Rolli auf ein Toilettenbecken umgesetzt, geschweige denn, dass ich gerne mit nackten Kindern, noch dazu mir unbekannten, in abgeschlossene Räume gehe. Aber es half nichts,
sie sagte, dass es sehr dringend sei und so schwamm ich mit ihr zum Ausstieg. Ich drückte sie hoch, so dass sie auf der Rutschplatte saß, bat sie, sich festzuhalten. Sara war nur so hibbelig, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Immer, wenn ich dachte, sie hält sich fest, ließ sie wieder los, wollte sich in den Schritt fassen, rutschte wieder ins Wasser. Und gackerte. Ich winkte die Schwimmhallenaufsicht zu mir heran. „Könnten Sie sie einmal festhalten, während sie hier sitzt?“ – „Tut mir Leid, das ist mir untersagt. Dafür bin ich nicht ausgebildet.“ –
„Sie sollen doch nur einmal festhalten, bitte“, erwiderte ich. Ich war doch auch nicht ausgebildet. – „Sorry, ich darf das nicht. Wenn dabei was passiert, verliere ich meinen Job.“
Komische Welt. Ich bedankte mich, die Aufsicht zog sich wieder zu ihren Stricksachen zurück und Sara und ich schauten uns an. Ich versuchte herauszufinden, ob die Muddi schon in Sichtweite war. War sie nicht. Ich versuchte es noch ein Mal, Sara auf das Rutschbrett zu heben. Diesmal in Bauchlage. Halt Dich fest! „Das ist noch fieser, sorry!“, sagte sie und ließ sich wieder ins Wasser gleiten. Ich musste sie ständig wieder auffangen und hatte schon Affenarme. Die andere Gruppe war noch beschäftigt, von denen schaute auch niemand herüber, die Muddi war immernoch nicht zu sehen, die Aufsicht strickte. Sara klammerte sich an mir fest und während ich mir überlegte, ob ich sie sich im Wasser festhalten lassen soll, mich mit dem Po auf das Rutschbrett setze und sie dann hinter mir herziehe, wurde es plötzlich ganz heiß an meinem Bauch. Lalala… und es nahm kein Ende!
So. Dann konnten wir ja auch noch die letzten 10 Minuten nutzen und weiter schwimmen üben. „Ich möchte, dass du dich im Wasser auf den Rücken legst auf meine Hand“, sagte ich. „Dabei musst du aber wieder ganz still liegen bleiben.“ – „Kannst du mir was versprechen?“ – „Kommt drauf an, was.“ – „Doch, du musst es mir versprechen. Sag einfach ‚Ja‘, okay?“ – „Okay: Ja.“ – „Du darfst meiner Mami das von eben nicht erzählen, okay? Sie hat mir das nämlich eigentlich vorher verboten. Sie hat gesagt: Du bist da nicht in deiner eigenen Badewanne, sondern da schwimmen noch andere Leute mit.“ – Ich musste schon wieder lachen. „Ich bin ja gewissermaßen auch Schuld, du hast ja rechtzeitig Bescheid gesagt. Aber ich konnte dich nicht aus dem Wasser heben.“ – „Du hast mir aber versprochen, es nicht zu erzählen.“ – „Wird Muddi böse?“ – „Bitte erzähl es nicht.“ – „Nein, mach ich nicht. Hab aber trotzdem nicht solche Angst davor. Sie würde dich schon nicht umbringen.“ – „Weißt du das?! Du kennst meine Mami nicht.“ – „So schlimm?“ – „Noch viel schlimmer.“ – Auweia.
Sara schaffte es, sich auf meine Hand zu legen. Nase aus dem Wasser. Sie schaffte es, sich so weit unter Kontrolle zu bekommen, dass sie keine Spastik bekam, während sie im Wasser lag. Das war eine sichtbar große Anstrengung für sie. Sie war hochkonzentriert, ihre Augen bewegten sich aufgeregt hin und her. Es war noch nicht so weit, dass ich die Hand unter ihr weglassen konnte, ich wollte auch kein negatives Erlebnis in den letzten Minuten haben, aber ich bin mir sicher: Beim nächsten Mal würde sie das schaffen.
Muddi kam in die Halle, hatte blaue Überzieher über den Schuhen und ein total verquollenes Gesicht. „Hast du geweint, Mami?“, fragte Sara. Muddi heulte gleich wieder: „Du hast das so schön gemacht, meine Prinzessin.“ – „Du sollst nicht immer Prinzessin zu mir sagen, wenn andere daneben stehen! Das ist end-peinlich!“ – „Ich hab dich so lieb, meine Prinzessin. Das hast du so toll gemacht.“ – „Das war alles ganz easy, Mama.“ – „Und Sie haben das auch so toll gemacht, ich hätte nie geglaubt, dass das so gut klappt.“
Eigentlich wollte ich antworten: „Wir waren doch nur eine Stunde schwimmen.“ Aber ich verkniff mir das und bedankte mich artig. Nun kam noch der Knüller zum Abschied: „Ich hab die ganze Zeit von dem Fenster da oben zugeschaut. Am Anfang wollte ich andauernd helfen kommen, aber nachher habe ich gesehen, dass ihr doch alleine zurecht gekommen seid. Man muss nur Geduld haben und die habe ich so oft nicht.“ – „Konntest du
uns hören, Mami? Oder nur sehen?“ – Sara hatte das P in den Augen. – „Nur sehen“, sagte Muddi, „aber ich hab gesehen, was ich nicht hören darf.“ – Auweia. Da sie aber nicht mehr weiter drauf einging, sondern noch 1000 mal betonte, wie toll Sara das gemacht hatte und wie stolz sie auf ihre Tochter war, denke ich, ist das Thema damit abgehakt.
Als Muddi mit Sara duschen ging, ließ ich mich in das tiefe, kalte Becken zu den anderen fallen und schwamm noch einige Bahnen mit. „Na? Hat alles geklappt?“, fragte mich unser Häuptling. – „Hörst du sie nicht aus der Dusche krähen?“ – „Haste fein gemacht. Bin stolz auf dich.“ – Eigentlich wollte ich antworten: „Wir waren doch nur eine Stunde schwimmen.“ Aber ich verkniff mir das und bedankte mich artig.