Barrierefrei heißt nicht barrierefrei

Barrierefreier Wohnraum ist (nicht nur) in Hamburg Mangelware. Ich habe schon oft darüber geschrieben, über die fehlende Notwendigkeit für private Hausbauer, ein Haus barrierefrei zu bauen, über die vielen Bestimmungen, die es zu beachten gilt, wenn jemand barrierefrei bauen möchte, über die Mehrkosten, die das wiederum unattraktiv machen – kurzum: Barrierefrei baut in aller Regel nur, wer sozialen Wohnraum baut und auf öffentliche Mittel zurückgreifen kann.

In Hamburg bestimmt damit auch eine Behörde, wer in diese Wohnungen einziehen darf. Barrierefreier Wohnraum wird zentral vergeben und um überhaupt in dieses Vergabeverfahren aufgenommen werden zu können, sind diverse Kriterien zu erfüllen. Ein Wohnungswechsel (auf Deutsch: Umziehen) ist zum Beispiel nur aus medizinischen Gründen möglich, also nur, wenn die bisherige Wohnung aus medizinischen Gründen nicht mehr geeignet ist. Ein Zuzug aus anderen Bundesländern (zum Beispiel für Studenten) in eine mit öffentlichen Mitteln geförderte barrierefreie Wohnung in Hamburg ist nicht vorgesehen.

Gehört man zu den Glücklichen, die auf die Warteliste der zentralen Wohnungsvergabe gelangt sind, bekommt man in den nächsten Monaten und Jahren einige Wohnungsangebote zugeschickt. Eine große Auswahl hat man dabei natürlich nicht, offiziell heißt es: Wer drei Wohnungsangebote ohne triftigen Grund ablehnt, fliegt wieder von der Liste. Welche Gründe triftig sind, möchte ich mal offen lassen – mit Blick auf die „medizinische Begründbarkeit“ eines Umzugswunsches kann ich es mir aber lebhaft vorstellen.

Ich will nach drei langen Absätzen auf eine Sache hinaus: Dass die vermittelte Wohnung nicht im Erdgeschoss liegt, dürfte als Ablehnungsgrund nicht ausreichend sein. Das Gegenargument wird sein: Es sind in allen Häusern Aufzüge vorhanden.

So weit, so schlecht. Ich bin nun als Rollstuhlfahrerin darauf angewiesen, dass dieses technische Gerät einwandfrei funktioniert. Bleibt das Ding stehen, komme ich nicht mehr aus meiner Wohnung. Oder schlimmstenfalls gar nicht erst hinein. Wie lange dieser Zustand andauert, hängt davon ab, ob einerseits der Hauseigentümer einen Wartungsvertrag abgeschlossen hat, der eine zeitnahe Entstörung vorsieht (nicht innerhalb von 72 Stunden, sondern vielleicht schon innerhalb von 12), andererseits ob die Ersatzteile greifbar sind.

Im Fall unseres neuen Wohnprojektes hat der Hauseigentümer einen 72-Stunden-Vertrag abgeschlossen. Die Organisation, die die einzelnen Zimmer wiederum an Rollifahrer vermietet, ist auch nur Mieter, nicht Eigentümer, kann also nur durch „politischen Druck“ einigen Einfluss auf den Hauseigentümer nehmen. Was aber im Moment auch nichts nützt, da ein Ersatzteil nicht verfügbar ist. Seit einer Woche.

Die Aufzüge in dem Haus sind nagelneu. Frank hatte bei den Verhandlungen mit dem Hauseigentümer seinerzeit als sehr wichtig betont, dass die Aufzüge voneinander unabhängig steuerbar sein müssen. Das heißt: Im Alltag, wenn beide funktionieren, ist es ja okay, wenn nur einer kommt, sobald jemand drückt. Es ist ja Quatsch, dass man beide Aufzüge getrennt voneinander rufen kann und dann an jeder Etage immer beide Aufzüge gerufen werden, der Ungeduldige in den ersten einsteigt und der zweite Aufzug fährt umsonst dorthin – bzw. hält in einer Tour vergeblich. „Auf jeden Fall!“, betonte die Aufzugsfirma. Sobald ein Aufzug ausfällt, fährt der andere.

Pustekuchen. Die Steuerung, die dort eingebaut worden ist, ist ausschließlich auf so genannten Zwillingsbetrieb ausgelegt. Das heißt: Ist ein Aufzug gestört, ist auch der zweite aus. Das Programm, das im Störfall den einen Aufzug unabhängig von dem anderen fahren lässt, muss nachbestellt und eingespielt werden. Kostenpunkt: Rund 1.500 Euro. Seriös, seriös!!! Und der Hauseigentümer möchte das nicht nachkaufen.

Aber: Es wäre im Moment auch egal. Zur Zeit warten wir auf eine Platine, die für die Steuerung verantwortlich ist, und zwar sowohl im Einzel- als auch im Zwillingsbetrieb. Das heißt: Auch mit dem Programm-Update würden die Dinger zur Zeit still stehen.

Für alle Rollifahrer bedeutet das zur Zeit: Niemand kommt seit rund einer Woche aus oder in seine Wohnung. Franks Organisation hat nun immerhin (bisher auf eigene Kosten) einen ambulanten Krankentransportdienst beordert, der die Leute mit einem Krankensitz die Treppe hoch- und runterträgt. Zu nicht unerheblichen Kosten kommt jedes Mal ein Krankenwagen und mit ihm zwei Leute, ein Typ mit Rückenschmerzen und ein Chick im Freiwilligen Sozialen Jahr…

Schön, dass alle bis auf zwei sich noch in dem Monat befinden, wo sie noch auf ihre bisherige Wohnung / Zimmer bei den Eltern etc. zurückgreifen können. Nächsten Monat ist das anders. Und so kommt dann auch die Frage auf, wie das wohl wäre, wenn wir nicht bei Frank, sondern bei einem kommerziellen Unternehmen gemietet hätten. Die Antwort ist ganz einfach: Die Mehrkosten für diesen Krankentransportdienst müsste der Rollstuhlfahrer selbst zahlen. Nach einem Gerichtsurteil dürfte der rollifahrende Mieter einer Wohnung im 2. OG nach einer Mängelrüge und verstrichener Frist von drei Werktagen eine Mietminderung von 15% geltend machen. Das wären bei einer fiktiven Kaltmiete von 400 Euro: Ganze 2 Euro pro Tag. Wie niedlich!

Das Gericht hat dabei geurteilt, dass die Gründe, warum für den Rollstuhlfahrer die Mietsache (Wohnung) unbenutzbar seien, nicht alleine vom Vermieter zu vertreten seien. Gründe, die in der Person des Mieters
liegen, bleiben bei einer Mietminderung grundsätzlich (Rechtsprechung des BGH) unberücksichtigt. Und wenn die Wohnung sonst in Ordnung ist, bedeutet „Treppe laufen“ höchstens 15% nach drei Werktagen vergeblichen Wartens.

Solange also nicht explizit „barrierefreier Wohnraum, einschließlich seiner barrierefreien Erreichbarkeit“ vermietet wird, ist der Wohnraum zwar barrierefrei gebaut, aber noch lange nicht barrierefrei erreichbar. Barrierefrei heißt also nicht unbedingt barrierefrei. Fällt der Aufzug aus, kommt der Rollstuhlfahrer weder rein noch raus. Das Risiko trägt der Rollstuhlfahrer fast vollständig alleine, und es gibt außer den Hinweis auf Moral und Gewissen (der bei öffentlichen Vermietern mit Hunderten Angestellten aber nicht bei jedem ankommt) keine Möglichkeit, Druck auszuüben.

Während Frank sich nun intensivst bemüht, das Theater abzustellen, weiß ich aus meiner Szene (als ich von dieser Sache erzählte), dass andere (insbesondere öffentliche) Vermieter durchaus gleichgültiger sind. Ist da ein Ersatzteil nicht greifbar, ist man gut bedient, wenn man sich ein Hotel leisten kann oder nette Freunde hat, die einen ein paar Tage bis Wochen aufnehmen.

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