Hättest du doch bloß

Ist schon doof. Ich weiß. Ich möchte öfter schreiben, aber ich bin im Moment so eingespannt – Wahnsinn. Das wird auch noch mindestens einen
Monat so weitergehen. Ich bin noch immer mit meinem Pflicht-Pflege-Praktikum beschäftigt. Inzwischen habe ich einen weiteren
Monat rum und darf noch ein weiteres Mal wechseln. Offiziell, weil ich gerne einmal bei jemandem Blutdruck gemessen haben möchte, bevor ich mein Studium anfange, inoffiziell, weil es mir in der Psychiatrie zu krass ist.

Nein, nein, ich habe weder meine Haare abgeschnitten noch beiße ich meine Fingernägel kurz oder entwickle irgendwelche Ticks, aber meine Freundinnen und Freunde empfehlen mir bereits nachdrücklich, lieber heute als morgen dort rauszukommen. „Das tut dir nicht gut“, habe ich inzwischen mehrmals gehört. Ein einschneidender und mich völlig überfordernder Hammertag war in der letzten Woche.

Man muss dazu wissen, dass es sich bei den vier Stationen, auf denen ich im Wechsel arbeite, um offene Stationen der Kinder- und Jugendpsychiatrie handelt. Offen heißt: Die Kinder und Jugendlichen dürfen zu den normalen Tageszeiten das Gebäude verlassen, so oft und so lange sie wollen, sie müssen sich nur ab- und wieder anmelden. Therapie-
und Gruppentermine müssen sie zwar einhalten, aber insgesamt erinnert auch der Aufbau der Stationen eher an eine betreute WG als an ein Krankenhaus. Suchtprobleme, Psychosen, überhaupt Erkrankungen, für die es mehr als Psychotherapie braucht, werden auf diesen Stationen nicht behandelt. Die meisten Patienten haben Essstörungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, Belastungsreaktionen, Probleme im Elternhaus, Schulprobleme, … wobei man das nicht unterschätzen darf. Da geht es teilweise schon richtig heftig zur Sache.

Das Gebäude ist barrierefrei, es gibt sogar eine Rollstuhlfahrerin mit Spina bifida auf einer Station. Allerdings hat man bei der Planung des Gebäudes nicht damit gerechnet, dass auch mal Mitarbeiter im Rollstuhl sitzen könnten. Da ich nicht unbedingt auf die (Kinder-) Patiententoiletten gehen möchte, muss ich zum Pinkeln in den Keller fahren. Dort gibt es eine barrierefreie Toilette für Mitarbeiter. Eigentlich ist das WC direkt unter einer Station, auf der ich arbeite, aber der einzige barrierefreie Weg dorthin führt durch den Verwaltungstrakt, wo ein Aufzug in den Keller fährt, durch mehrere Türen, die nach Feierabend der Bürodamen natürlich verschlossen sind. Aber ich habe einen Schlüssel bekommen und muss nun jedes Mal, wenn ich zum Klo muss, vier Türen vor mir auf- und hinter mir zuschließen, die Klotür nicht mitgezählt. Es gibt schlimmeres – das alles ist so gut planbar, dass ich, wie auch zu Hause, immer so rechtzeitig zum Klo komme, dass ich während der Arbeitszeit keine Windeln brauche. Hat den Vorteil, dass ich die gestellte Kleidung anziehen kann und mir keine Gedanken darum machen muss, was denn da möglicherweise am Rücken aus der
Hose schaut und mit Sicherheit zur allgemeinen Belustigung der teilweise ohnehin schon unausstehlichen Patienten beitragen würde.

Letzte Woche, es war der Hammertag, war es kurz vor dem gemeinsamen Abendessen. Ich machte mich auf den Weg zum Klo, rolle im Keller aus dem
Aufzug und habe mir, da ich den Weg inzwischen kenne, abgewöhnt, extra die Festbeleuchtung einzuschalten. Die Notbeleuchtung reicht mir zur Orientierung. Ich rolle durch die Flure und bin kurz vor dem Klo, nehme die letzte Ecke und kann gerade noch verhindern, dass ich über etwas falle, was dort an der Erde liegt. Drei Gedanken schossen mir bei Anblick des Umrisses durch den Kopf: 1. Da liegt jemand, 2. da hat sich jemand hingelegt und will dich erschrecken, 3. da hat jemand eine Puppe hingelegt und verarscht dich. Dass mein Herz augenblicklich bis in den Hals klopfte und ich zittrig wurde, muss ich, glaube ich, nicht erwähnen. Ich drehte mich um, rollte zum Lichtschalter.

Ein Mädel von der Station, auf der ich mittwochs bin, lag dort, hatte
sich wohl an die Wand gelehnt und war bis auf die Erde runtergerutscht.
Die Augen geschlossen, das Shirt halb vollgekotzt, Kopf abgeknickt und Kinn auf der Brust, sah aus als hätte sie sich bis zur Bewusstlosigkeit besoffen. Ich sprach sie an, rüttelte fest an ihrer Schulter, bekam aber
keine Reaktion. Immerhin atmete sie, wenn auch recht flach. Ich ließ mich aus dem Stuhl auf die Erde fallen, schnappte sie am Hemdkragen, zog
sie von der Wand weg, legte ihren Kopf auf die Erde und drehte sie auf die Seite. Und damit es richtig eklig wird: In dem Moment lief mir mindestens ein halber Liter Kotze entgegen. Es roch nicht säuerlich, sondern süßlich und war alles andere als lecker. Ich bekam sie in die stabile Seitenlage und ihr Gesicht aus der Kotze, dann wollte ich mit dem Handy auf der Station anrufen, nur leider war kein Empfang. Der Notrufversuch mit dem Handy scheiterte ebenfalls am fehlenden Empfang.

Als nächstes pinkelte ich mir erstmal in die Hose. War ja schließlich
noch nicht genug Sauerei auf dem Fußboden. Meine gelähmte Blase war in dem Moment allerdings das kleinste Problem. Ich musste dringend Hilfe holen. Brüllen half nichts, obwohl ich direkt am Treppenaufgang zur Station war, hörte mich niemand. Ich wollte nicht minutenlang durch den Verwaltungstrakt zurückfahren und das Mädel so lange alleine lassen. Im Rolli-WC war ein Notruf installiert, das sollte doch erheblich schneller
gehen. Ich krabbelte wieder in meinen Rolli, düste um die nächste Ecke und glaubte fast an ein Déjà-vu, nur dass diesmal das Licht schon leuchtete: Dort lag die nächste Patientin. Zwischen etlichen Tablettenpackungen, einer blutigen Schere, Wodka, Kotze, Blut, halbnackt. Lag auf dem Rücken, hatte die Augen weit offen, sagte auch keinen Piep. Und atmete, soweit ich es auf die Schnelle aus dem Rolli heraus feststellen konnte, nicht. Wie ich später erfuhr, hatten sich die
beiden überlegt, zusammen Schluss zu machen.

Ich ließ sie liegen, wollte erstmal zum Klo, zum Notruf. Natürlich fiel mir in der Aufregung dann noch zweimal der Schlüssel aus der zitternden Hand und als ich endlich drin war, war dort nur eine Strippe,
die aber hochgebunden war. Diese Unsitte der Putzleute hasse ich wie die Pest!!! Man konnte den Notruf über eine Taste neben der Tür ausschalten, aber nicht auslösen. Das ging nur über die Strippe neben dem Klo und die war in ungefähr 180 Zentimeter Höhe über einem Mülleimer. Ich überlegte, ob es sinnvoller wäre, erst Hilfe zu holen (das würde immerhin mindestens 4 bis 5 Minuten dauern) oder erstmal die zweite Patientin zu beatmen. Wie ich mich entscheiden würde, es war auf jeden Fall falsch. Ich entschied mich, Hilfe zu holen, denn ich wusste nicht, wie lange die Leute da schon lagen und wie es um die erste Patientin stand und ob die möglicherweise auch schon lange Zeit zu wenig
atmete. Eine schwierige Enscheidung, über die ich mir bereits einige Nächte den Kopf zerbrochen habe.

Auf dem Weg zurück zum Aufzug kam ich an einem Feuermelder vorbei. Ich nahm mein Schlüsselbund, schlug die Scheibe ein und drückte den Alarmknopf. Im selben Augenblick gab es ein ohrenbetäubendes Gepiepe auf
dem Flur, sämtliche Türen fielen zu. Und zwar die Tür in Richtung Aufzug und die Tür in Richtung der beiden Patienten. Ich machte mich wieder auf den Weg zu den Patientinnen und schaffte es auch im dritten Anlauf, die schwere Tür so weit aufzustoßen, dass ich hindurch fahren konnte. Ich konnte sehen, dass sich bei der ersten Patientin nach wie vor der Brustkorb bewegte, hören konnte man bei dem Lärm nichts. Ich ließ mich neben der zweiten Patientin eher unkontrolliert (weil schnell)
aus dem Stuhl fallen, schürfte mir dabei an der Wand noch schön den Oberarm auf. Das Mädel atmete nicht und ich konnte auch keinen Puls tasten. Ich versuchte, sie zu beatmen und versuchte auch eine Herzmassage, allerdings gestaltet sich das, wie ich schon aus den Ersthelferkursen weiß, im Sitzen neben dem Patienten immer sehr schwer. Es bringt etwas, sich auf die eigenen Füße zu setzen, um eine etwas erhöhte Position zu haben, allerdings ist dann der Wechsel zwischen Beatmen und Herzdruckmassage aufwändiger.

Zwei Mal beatmen, 30 Mal Herzdruckmassage. Und darauf achten, dass meine blutende Oberarmwunde nicht mit ihrem Blut (sie hatte an den Armen
herumgeritzt) in Berührung kommt. Oder andersrum. Schweiß tropfte mir aus dem Gesicht. Beim sechsten Wechsel hörte ich oben eine Tür zuschlagen. Ich brüllte, aber das Gepiepe war so laut, dass derjenige mich nicht hörte. Zu allem Überfluss ging auch noch die Flurbeleuchtung aus. Zeitschaltuhr… Kurz danach hörte das Piepen auf. Oben im Treppenhaus waren wieder Stimmen. Ich brüllte nochmal. Nun schien man mich gehört zu haben. Ein Pfleger von meiner Station. Er sagte: „Mach weiter, ich hol schnell Hilfe.“ – Ich konnte ihm gerade noch zurufen: „Um die Ecke liegt noch eine.“

Es hat dann nur noch wenige Sekunden gedauert, bis Leute, immer mehr Leute, kamen, die sich um die beiden gekümmert haben. Ich bin nur noch aus dem Weg gekrabbelt, hab mich gegen eine Wand gelehnt und geheult. Was für ein Stress. Ohne jede Ahnung, ob ich alles richtig gemacht hatte, am Oberarm blutend, vollgekotzt, eingepinkelt, mit beschissenem Geschmack im Mund, zittrig, frierend.

Nach einiger Zeit, der ganze Gang war voller Leute im Kittel, in rotweißer Uniform, in Polizeiuniform, mit Kameras, mit Notizblöcken, kamen zwei Pfleger, einer griff mir unter die Arme, einer unter die Kniekehlen. Sie hoben mich in meinen Rolli und brachten mich in einen Untersuchungsraum und legten mich dort auf die Liege. Ich wurde zugedeckt, bekam eine Infusion gelegt und einen Clip an den Finger. Ich sollte einen Moment liegen bleiben, dann könnte ich duschen fahren. Eine
Frau kam rein, meinte, sie sei von der Polizei, ob ich ihr einige Fragen beantworten könnte. Die Ärztin, die im Raum war, sagte, sie soll die drei wichtigsten Fragen stellen, aber nicht mehr, ich stünde unter Schock.

Sie wollte wissen, warum ich im Keller war, ob ich mit den beiden geredet hätte und ob ich den Feuermelder eingeschlagen hätte und warum. Ich antwortete ihr. Sie machte sich Notizen. Am Ende strich sie mir über
die Schulter und ging raus. Ich fragte die Ärztin, was mit den beiden Mädchen ist. Sie antwortete: „Die eine wird auf die Intensivstation gebracht. Das sieht wohl nicht so schlimm aus. Aber genaues weiß man erst in ein paar Stunden.“ Mehr sagte sie nicht. Ich fragte nach: „Und die andere?“ – Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. Ich fragte noch einmal: „Was ist mit der?!“ – Sie schüttelte erneut den Kopf. „Die war schon tot als du sie gefunden hast.“ – Ich weiß noch, wie ich sie angestarrt habe und widersprochen habe, dass sie doch aber noch ganz warm war. Die Ärztin meinte, dass das nichts zu sagen hätte.

Alle sagen, dass ich alles richtig gemacht habe. Alle. Alle Ärzte, die mit mir gesprochen haben, alle Pfleger und Schwestern, die danach mit mir gesprochen haben, sogar der Klinikdirektor hat mich in sein Zimmer bestellt und mir gesagt, dass ich vorbildlich gehandelt hätte. Und dennoch, jedes Mal wenn ich an diese Sache zurück denke, denke ich: Hättest du doch bloß…, wärest du doch bloß…

Zwei Dinge haben sich für die letzten Tage, an denen ich dort war, geändert. Erstens mache ich Licht an, bevor ich durch den Flur fahre. Zweitens hat man die Notrufstrippe auseinander gebunden, so dass man sie
jetzt auch erreichen kann.

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