Ich komme trotzdem

Seit über einem Jahr habe ich meine Eltern nicht gesehen. Meine Mutter war zuletzt in einem Krankenhaus, mein Vater ist aus Hamburg weggezogen. Ich weiß lediglich, dass sie sich getrennt haben. Zu meiner restlichen Familie habe ich auch keinen Kontakt mehr. Und es geht mir gut. Auch wenn es böse klingt: Ich vermisse sie nicht. Das, was ich zuletzt mit ihnen erlebt habe, war so schlimm, dass ich auf weitere Kontakte lieber verzichtet habe. Sie kennen auch meine neue Adresse und Telefonnummer nicht, lediglich die alte Handynummer ist ihnen noch bekannt.

Hin und wieder, insgesamt so 5 bis 7 Mal, schrieb meine Mutter mir eine SMS, die ich zwar gelesen, aber konsequent nicht beantwortet habe. In diesen SMS warf sie mir meistens vor, unsere Familie zerstört zu haben und verlangte, dass ich Verantwortung dafür übernehme. Sie wolle mich sehen. Aus den bisherigen Erfahrungen, die ich mit solchen Treffen gemacht hatte, kann ich sagen, dass das nach spätestens 30 Sekunden derart eskaliert ist, dass es für mich unerträglich wurde. Und mit Eskalation meine ich nicht, dass sie sich über unpolierte Schuhe aufregt, sondern derart elementare Vorwürfe macht, dass ich mich verbal erschossen fühlte.

Letzte Woche bekam ich mal wieder eine SMS. Der Text: „Habe jetzt so oft versucht, Dich per SMS zu erreichen und anders ja keine Möglichkeit.
Verstehe nicht, wenn man so gern Kontakt möchte und an Deinem Leben interessiert ist, dass Du Dich dann nicht meldest. Ist es so schlimm, wenn man als Mutter Kontakt möchte? Nenn mir dann doch wenigstens den Grund, was ich Dir getan habe, damit man zur Ruhe kommt.“

Argh!!! Wie ich derartige Texte hasse! Ich habe mich dann, ich weiß, es war blöd, dazu hinreißen lassen, folgenden Text zu antworten: „Nein, Mama, anders hast du keine Möglichkeit. Und das hat auch einen guten Grund. Was du nicht verstehst, ist, dass eine Freundschaft immer von zwei Seiten bestehen muss. Es reicht nicht, dass du Kontakt möchtest und
an meinem Leben interessiert bist, ich muss es auch wollen. Ich bin ein
vollwertiger und unabhängiger Mensch. Ich entscheide selbst, mit wem ich wann und wie oft Kontakt haben möchte. Und nein, es ist nicht schlimm, wenn du, egal ob als Mutter oder nicht, Kontakt möchtest, es ist jedoch schlimm, wenn du nicht akzeptieren kannst, dass ich es nicht möchte. Wir haben seit meinem Unfall so unterschiedliche Ansichten, dass
wir nicht einmal für eine oberflächliche Beziehung zusammenkommen. Das ist der Grund. Und jetzt lass mich bitte endlich in Ruhe.“

Danach passierte erstmal nichts. Bis gestern. Gestern abend war ich beim Schwimmtraining. Ich bin direkt vom Praktikum zum Training gefahren
und war nach dem Training auf dem Weg zum Parkplatz (es hatte geregnet und war schon dunkel), als plötzlich jemand zwischen den Autos heraus mir entgegen kommt. Wer könnte es nach den letzten Absätzen anderes sein
als meine Mutter?! Ich war alleine. Sie begrüßte mich nicht, sondern sprach mich direkt an, dass sie meine Antwort-SMS sehr verletzt hätte. Ich habe darauf bewusst gar nichts gesagt, sondern bin direkt zu meinem Auto gerollt. Sie fragte: „Willst du dazu nichts sagen?“

Ich antwortete: „Ich hatte dich gebeten, mich in Ruhe zu lassen. Stattdessen tauchst du hier unangemeldet auf und machst mir Vorwürfe. Ich möchte diese Gespräche nicht, und jetzt lass mich bitte in Ruhe. Ich
hatte einen anstrengenden Tag, möchte nach Hause, essen und schlafen.“

Sie erwiderte: „Unangemeldet? Muss ich mich jetzt schon anmelden? Bei
deiner Sekretärin vielleicht? Und interessiert es dich überhaupt nicht,
ob ich vielleicht mit dir sprechen möchte? Du denkst immer nur an dich.
Anstrengender Tag! Du bist 20, was soll ich denn sagen? Ich bin in deinem Alter morgens zur Arbeit, abends nach Hause, Geld für den Bus hatten wir nicht, ich musste jeden Tag fünf Kilometer mit dem Rad fahren, und abends sind wir dann noch weggegangen. Armes hungriges Kind,
fährt einen Mercedes und hat nichts zu essen, du bist echt zu bedauern.“

Ich öffnete mein Auto, setzte mich auf den Fahrersitz, begann, meinen
Rollstuhl zu zerlegen und zu verladen. Sie fragte, ob ich sie wenigstens zum Hauptbahnhof fahren könne. Ich sagte: „Nein.“ Und schüttelte den Kopf. Sie schimpfte: „Du tust mir weh mit diesem Verhalten! Ich bin deine Mutter! Hab ich nicht immer alles getan für dich? Ich habe dich großgezogen! Ich habe dich überall hingefahren, nachts irgendwo abgeholt, ich habe alles versucht, damit du eine schöne Kindheit hast. Ich bin …“

„Mama? Kannst aufhören, kenn ich schon alles. Ich möchte keinen Kontakt zu dir. Akzeptier das. Mach aus mir meinetwegen das undankbare Kind, sei vorwurfsvoll, verstehe mich nicht – aber lass mich dabei wenigstens in Ruhe. Und hör auf, mir nachzustellen und hier unangemeldet
aufzutauchen. Ich möchte nicht, dass du hier zum Training kommst und mich auf dem Parkplatz im Dunkeln abfängst.“ – „Anders habe ich ja keine
Möglichkeit.“ – „Auch das ist keine Möglichkeit, denn ich möchte das nicht.“ – „Ich komme trotzdem.“

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