Hosengrabscherei

Seit einer Woche bin ich endlich fertig mit meinem dreimonatigen Pflegepraktikum, das ich für mein Studium brauche. Der eine Monat in der Pflegeeinrichtung wird angerechnet, so dass ich nur zwei Monate im Krankenhaus arbeiten musste. Ich bin reif für die Insel, aber ich habe es geschafft. Es war spannend, ich habe sehr viel dazugelernt, sehr viele Leute kennen gelernt und vor allem: Dinge erlebt, die ich niemals erleben wollte. Und von denen ich mich frage, ob sie mich auf meinem Lebensweg ein Stück nach vorne gebracht oder lediglich nicht aus der Bahn geworfen haben.

Seit einer Woche habe ich also wieder mehr Zeit, vor allem mehr Zeit zum Bloggen. Entsprechend muss es einen guten Grund geben, warum dann in den letzten Tagen so wenige neue Beiträge erschienen sind wie schon lange nicht mehr – keiner. Es gab einen guten Grund. Und dieser gute Grund ist leider gleichzeitig ein schlechter Grund: Frank hat mir dringend davon abgeraten, irgendetwas schriftliches zu äußern, was nicht durch seine Hände gegangen ist und jede Kommunikation zu unterlassen, die nicht unbedingt sein muss. Inzwischen hat er diesen Rat wieder zurückgenommen.

Was passiert ist, ist so unglaublich, dass ich fest damit rechne, dass die ersten Kommentare mich nach den Pillen fragen, die ich vor Verfassen dieses Beitrags eingeworfen habe. Nein, ich habe die Krankenhausapotheke nicht überfallen und ich hatte auch keinen Schlüssel für den Giftschrank auf der Station. Ich bin ganz nüchtern.

Alles begann damit, dass ich am Freitagabend eine SMS von meiner Mutter bekommen hatte, in der sie schrieb: „Nachdem ich nun wirklich alles versucht habe, was eine Mutter tun kann, um dir zu helfen, gebe ich es auf. Ich lasse mich von dir nicht mehr erniedrigen. Von mir wird keine Reaktion mehr kommen. Vielleicht bist du nun zufrieden. Lebe wohl.“

Ich dachte zunächst: Okay. Sie ist nicht glücklich, aber sie hat verstanden, dass sie mich in Ruhe lassen soll. Das ist ein erster Schritt und wenn sie dann in ihrer Therapie ein Stück weiter gekommen ist, wird sie vielleicht verstehen, was sie falsch gemacht hat und künftig anders handeln. Dann kann man vielleicht einen neuen Versuch starten.

Ich habe Frank davon erzählt und bin mit ihm so verblieben, dass wir diese einmalige Aktion als Anerkennung der Auflagen werten und nicht deshalb schon das Gericht einschalten, auch wenn sie damit bereits gegen
die Auflagen verstoßen hat. Wenn ansonsten danach Ruhe ist, belassen wir es dabei. Sollte keine Ruhe sein, könnte das später immernoch mit einfließen, denn man ist ja nicht verpflichtet, alles sofort dem Gericht
zu melden.

Das Wochenende war entspannt, wir haben mir ein paar Leuten eine Handbiketour an der Elbe gemacht, später zusammen gekocht, es waren zwei sehr schöne Tage. Die neue Woche brachte dann die erste Schwimmstunde, bei der meine Mutter nun wirklich damit rechnen muss, dass es Konsequenzen hätte, wenn sie dort auftaucht. Das weiß selbst ein kleines Kind.

Ich habe mir gedacht, dass ich ganz entspannt mein Schwimmtraining mache, denn es würde schon an Hysterie grenzen, wenn ich sie suchen würde. Ich wollte mich entspannen und darauf vertrauen, dass nun wirklich Schluss mit dem Theater ist. Unsere Bahn war mehr als überfüllt, so dass sich an den Enden jeweils Schlangen bildeten. Man muss ja immer etwas Abstand zum Vordermann lassen, und wenn zu viele Leute in der Bahn sind, muss man am Rand kurz warten, bevor man starten kann. Hier bildeten sich bereits Schlangen aus vier oder fünf Leuten. Ätzend, aber nicht zu ändern.

Während ich also am Rand klammerte, sah ich, wie 25 Meter entfernt auf der anderen Seite meine Mutter in der dort abgestellten Sporttasche von Tatjana wühlte und ihre Mappe mit Klemmbrett rauskramte und aufklappte. In dieser Mappe sind alle möglichen Aufzeichnungen von ihr: Trainingspläne, Anwesenheitslisten und ähnliches. „Und eine Adressen- bzw. Telefonliste“, schoss es mir durch den Kopf. Ich war zwar noch nicht dran, egal, ich drängelte mich einfach dazwischen und schwamm quasi mittig durch die Bahn und etlichen Leuten in die Quere – vermutlich meine Tagesbestzeit. Drüben angekommen, klammerte ich mich einfach an irgendwelchen Leuten fest, zog mich zwischen ihnen an den Beckenrand, stützte mich auf und brüllte Tatjana an: „Tatjana, was macht
sie da?“

Tatjana drehte sich um, ging auf meine Mutter zu, sprach sie an, wollte ihr das Klemmbrett aus der Hand nehmen. Meine Mutter hielt es mit beiden Händen fest und zappelte wie ein kleines Kind, das seine Sandschaufel nicht hergeben möchte. Tatjana krallte sich mit beiden Händen ihre Mappe und drückte meine Mutter mit dem Ellenbogen weg und drehte sich mit dem Rücken zu ihr. Jetzt begann meine Mutter, mit den flachen Händen auf Tatjana einzuprügeln, ebenfalls wie ein kleines Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Tatjana drehte sich um und schubbste sie nochmals zurück, diesmal mit den Worten: „Beim nächsten Ding tut es weh. Legen Sie es nicht drauf an.“

Da Vereinstraining war, ist kein Schwimmhallenpersonal in der Halle. Ein Typ eines anderen Sportvereins, der in der Nachbarbahn trainiert, kam Tatjana zur Hilfe. Ohne ein Wort packte er meine Mutter von hinten an der Jacke, schob sie vor sich her, machte den Notausgang auf und schob sie nach draußen auf die Wiese. Tür wieder zu. Damit war das Problem vorerst gelöst, da sie vorne nicht mehr reinkommt. Ab 18.00 Uhr ist Vereinstraining und wer bis 18.15 Uhr nicht drin ist, steht draußen.
Sie muss also bereits vor 17.00 Uhr (letzter Einlass) eine reguläre Eintrittskarte gelöst und sich so lange irgendwo im Gebäude aufgehalten haben.

Meine Schwimmstunde war damit erstmal zu Ende. Tatjana beruhigte mich und wie sich dann herausstellte, war keine Adressenliste in der Mappe gewesen. Tatjana sagte, sie hätte sie nur in ihrem Handy und das liegt ausgeschaltet in ihrem Rucksack. Da war sie aber nicht dran. Das einzige, was fehlte, war ein Zettel, den Tatjana zu Hause ausgedruckt hatte, da ging es um eine Weihnachtsfeier. Es handelte sich um eine Rundmail, auf der oben alle unsere Mailadressen sichtbar waren. Aber Mailadressen kann man im Notfall ändern oder den Spamfilter entsprechend konfigurieren.

Tatjana brachte mich nach dem Training zum Auto. Das Auto war ganz, meine Mutter war weg, alles schien in Ordnung. Bis ich am Mittwochabend eine Mail von der Mutter eines 14jährigen Jungen, der mit uns trainiert und in der selben Bahn geschwommen ist wie ich, bekomme. Die Mail ist in Kopie an einen großen Verteiler geschickt, einschließlich Tatjana, einschließlich Abteilungsleitung, einschließlich Vorstand, insgesamt acht Personen. In der Mail verlangt diese Mutter von mir eine schriftliche Erklärung, dass ich mich freiwillig verpflichte, ihren Sohn
künftig in Ruhe zu lassen.

Man wolle keine große Sache daraus machen, aber ihr Sohn sei 14 und noch am Anfang seiner geschlechtlichen Entwicklung. Er finde meine Nähe zu ihm schmeichelhaft, nur sei er noch damit überfordert, mich mit dem Nachdruck zurückzuweisen, den ich offensichtlich bräuchte. Sie hätte sich gewünscht, dass ein einfaches „Nein“ von ihm ausreiche, stattdessen müsse sie als Mutter einschreiten. Das falle ihr nicht leicht. Sie wirft mir vor, dass ich ihren Sohn an diesen Wartepositionen am Bahnende regelmäßig von hinten umarmt und ihm an und einmal sogar in die Badehose gegriffen haben solle. Auch wenn der Sohnemann sich nicht so deutlich wehre, wie es vielleicht angebracht wäre, wünsche er diesen Kontakt und vor allem diese Hosengrabscherei nicht. Sie bittet darum, dass auch der Verein noch einmal mit mir Tacheles redet und meinen Verbleib in dieser Trainingsgruppe davon abhängig mache, dass ich ausdrücklich versichere, küntig diese Grenzen zu beachten.

Ich fiel aus allen Wolken, denn an diesem Vorwurf war nichts dran. Null. Ich komme mit diesem Jungen zurecht, ich quatsche mit dem, wir albern manchmal ein bißchen herum, er ist oft recht kiebig zu den Mädels, aber mehr nicht. Ich will nix von dem und er auch nicht von mir.
Was sollte also diese Mail? Wollte er so mit mir ins Gespräch kommen? Hatte ich ihm etwas getan? War er eifersüchtig? Hatte ich ihn mit meinen Beinen berührt, ohne etwas davon gemerkt zu haben? Alles unwahrscheinlich. Es wurde eine aktive, belästigende Handlung beschrieben. So etwas passiert nicht aus Versehen.

Am nächsten Morgen wurde ich von unserem Abteilungsleiter angerufen und ins Büro bestellt. Ich überlegte, ob ich Frank mitnehmen sollte. Ich entschied mich dafür, Frank nahm sich auch die Zeit und sagte einen anderen Termin ab. Ich bat ihn, sich im Hintergrund zu halten und mich möglichst selbst sprechen zu lassen, denn eigentlich kann man mit unserem Chef sehr gut reden. Alleine die Tatsache, dass er zunächst meine Darstellung hören wollte, bevor er irgendetwas unternimmt, zeigt eigentlich, dass das ein sehr fairer Typ ist.

„Was ist denn das für eine beschissene Geschichte?“ fragte er mich. Ich sagte ihm, dass ich absolut nichts getan hätte. Absolut nichts. Ich will auch nichts von dem Typen. Er sagte mir dann, dass es überhaupt kein Problem gewesen wäre, wenn die Mail von einem anderen Mitglied gekommen wäre und sich dieses Mitglied darüber beschwert hätte, dass er mich und meinen Freund dabei beobachtet hätte. Dann hätte ich jetzt von ihm einen symbolischen Anschiss bekommen, so etwas doch während des Trainings zu unterlassen, weil das andere nervt, und dann wäre es erledigt. „Geht dann halt in die Umkleide und erledigt das dort. Aber schließt vorher ab.“

Nur das hier sei etwas anderes: Der Junge ist 14 und damit steht er unter besonderem Schutz. Alles, was nicht eindeutig einvernehmlich geschehen sei, sei gegen den Willen geschehen und damit strafbar. Und wenn er noch so willig geguckt habe, wenn er später sagt, er habe das nicht gewollt, zähle nur noch das. „Jule, warum lässt du dich überhaupt mit einem 14jährigen ein?“ – „Ich habe überhaupt nichts gemacht!!! Ich habe den nicht mal angeguckt!“ – „Ich glaube dir das. Nur ich muss auch der anderen Partei glauben. Sonst darf ich diesen Job hier nicht machen.“ – „Das bedeutet?“ – „Schreib mir was dazu. Antworte auf die Mail, setz mich in Kopie. Dann wird sich die Mutter ja irgendwie nochmal äußern. Solange kann ich dir nicht mehr gestatten, an unseren Gruppen teilzunehmen. Du unterschreibst mir also an Ort und Stelle, dass du das vorläufige Hausverbot erhalten hast.“

Ich guckte Frank an, der zuckte nur mit den Schultern. Ich fing an zu heulen. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Ich hab nichts gemacht!“ – „Jule, ich glaub dir das. Aber mir sind die Hände gebunden. Ich werde die Mutter spätestens 24 Stunden nach deiner Mail anrufen und versuchen, zu einer Lösung zu kommen. Das verspreche ich dir. Wenn sich das alles geklärt hat, darfst du sofort wieder mitmachen. Aber bis dahin musst du dich erstmal gedulden. Schreib sofort was dazu, je schneller geht es.“

Ich antwortete der Mutter schriftlich, dass ich die Vorwürfe entschieden zurückweise. Ich hätte ihren Sohn nicht angefasst und ich könne mir nicht erklären, wie es zu seiner Behauptung gekommen ist. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir uns zusammen mit einem Moderator, beispielsweise dem Chef des Vereins, treffen und gemeinsam über den Vorfall sprechen könnten. Es kam keine Antwort.

Gestern morgen rief der Verein bei der Mutter an. Sie habe abgestritten, jemals eine solche Mail geschrieben zu haben und sie habe auch keine Antwort erhalten. Auch hätte sich der Sohn nie bei ihr beschwert. Die Mutter könne meinem Namen ein Gesicht zuordnen, da sie mich das eine oder andere Mail beim Training oder beim Trainingslager, wenn sie ihren Sohn vorbeigebracht oder abgeholt hätte, gesehen habe. Sie hätte mich als nett und freundlich wahrgenommen und auch ihr Sohn hätte niemals schlecht über mich geredet, im Gegenteil. Aber er habe doch eine Freundin und … blabla.

Bei der weiteren Überprüfung kam heraus, dass die Mailadresse der Mutter unter vorname-nachname@gmx.de registriert war. Die Mailadresse, von der diese komische Mail gesendet worden war, lautete vorname-nachname@gmx.net. Außerdem war ein vollständiger Name übermittelt worden, so dass man nur über „Eigenschaften“ die dahinter stehende Mailadresse angezeigt bekam. Die Mutter des Jungen war genauso in dem Mailverteiler zur Weihnachtsfeier wie der Junge selbst. Und den Zettel hatte … meine Mutter.

Ich darf inzwischen wieder Sport machen. Aber der Verein war so gar nicht amused und meinte, dass er so einen Stress nicht haben wolle. Ich solle also daran mitwirken, dass dieses Theater aufhöre. Dieses Theater stünde in Verbindung mit meiner Person und der Verein wünsche dieses Theater nicht. Immerhin konnte ich erreichen, dass meiner Mutter auch vom Verein ein Hausverbot für sämtliche Trainingsstätten ausgesprochen worden ist. Sie bekommt es per Einschreiben zugestellt. Gleichzeitig ist noch gestern ein Fax an das Gericht rausgegangen, das die Bannmeile angeordnet hatte. Frank hatte mir das getippt, so dass ich es nur noch unterschreiben und abschicken musste. Darin heißt es, dass ich die SMS bekommen habe, sie in der Halle aufgetaucht ist, dabei Dokumente mit Daten aus einer Tasche entwedet hat und diese anschließend vermutlich verwendet hat, um diese Mail zu schreiben. Ich ließe mich gerade anwaltlich beraten, ob über diese Meldung hinaus noch eine Strafanzeige wegen Verleumdung sinnvoll erscheine. Frank meinte: Das dritte Ding wird richtig teuer, wenn sich der Verdacht bestätigt, dass sie dahinter steckt.

Insofern hatte die SMS, die ich am letzten Freitag bekommen hatte, wohl eine ganz andere Bedeutung als zunächst gedacht. „Nachdem ich nun wirklich alles versucht habe, was eine Mutter tun kann, um dir zu helfen, gebe ich es auf.“ Das bedeutet anscheinend, dass sie nun alles versucht, was eine Verrückte tun kann, um mir zu schaden – das kann ja heiter werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert