Ganz viel Schokolade

Man kommentiert, ich sei ein Magnet für schräge Leute. Ob das stimmt?

Ich erlebe viele Dinge. Ob mehr oder weniger als andere Menschen – vielleicht stimmt beides. Ich glaube, ich nehme bestimmte Dinge einfach intensiver wahr. Eine andere Rollstuhlfahrerin äußerte kürzlich, dass es
ihr genauso ginge wie mir und sie vermutet, dass das daran liegt, dass ich Menschen sehr viel genauer beobachte, insbesondere, wenn ich mit ihnen in Kontakt kommen muss. Weil ich sie um Hilfe bitten möchte, weil sie mich ansprechen, weil sie mich beobachten, weil sie von mir eine Antwort wollen, weil sie mich vollsülzen…

Ich muss mal wieder etwas anderes schreiben als von meiner Mutter. Ein schräges Erlebnis kommt da gerade recht. Wer aber immer weitere Spannungssteigerungen erwartet, den muss ich enttäuschen. Es wird eher unterhaltsam.

Kurzum: Es gibt in dem Krankenhaus, in dem ich behandelt wurde, einen
Angestellten, dessen Namen ich nicht verrate, weil ich ihm nicht schaden möchte. Er selbst schadet sich allerdings schon genug, indem er ständig irgendwelche Kommentare bei Facebook online stellt, die einen Bezug auf seine Arbeit haben. „Ist das wieder langweilig“, „in 3 Stunden
endlich Feierabend“, „die Kunden sind heute alle blöd“ sind noch die harmlosen Sprüche. Neuerdings hat er einen Faible für Erotik und stellt regelmäßig einschlägige Kommentare auf seine Seite, dazu Bilder von Frauen im Latex-Einteiler, Blondinen mit übergroßen Hupen und ähnliches.
Kann man ignorieren, man muss den Typen auch nicht als Freund hinzugefügt haben, dann bekommt man das alles nicht mit.

Ich hätte das alles auch nicht mitbekommen, hätte nicht am Dienstagabend jemand ein verdrahtetes Spielzeug auf einem Bahnhofsmülleimer abgelegt. Ich war gerade von der Schäferkampsallee zum
Bahnhof Sternschanze gerollt, als die im Lautsprecher wohnende Frauenstimme von einem Gong geweckt wurde und aufsagte: „Verehrte Fahrgäste, wegen eines Feuerwehreinsatzes im Bahnhof Dammtor ist der Zugverkehr zwischen Hauptbahnhof und Holstenstraße unterbrochen. Ein Ersatzverkehr mit Bussen wird in Kürze eingerichtet. Wir bitten um Entschuldigung. Knack. Puff.“

Weil der Aufzug nicht funktionierte, war ich mit der Rolltreppe nach oben gefahren. Problem: Es gab nur eine Rolltreppe aufwärts, keine abwärts. Und oben kam man nicht weg, weil kein Zug mehr fuhr. Während ich so überlegte, was ich tun könnte, kam Jana mit der Rolltreppe nach oben. Orientierte sich kurz, sah mich, blieb stehen und schien so gar nicht begeistert zu sein. Hallo? Enge Freundschaft? Keine Umarmung?

„Komm mir nicht zu nahe“, blubberte sie vor sich hin. Ich guckte sie fragend an. Sie schaute betont durch mich durch. Ich fragte: „Wieso?“ – „Machs einfach.“ – „Na du hast ja ne Laune.“ – „Ja und mit solchen Kommentaren erst recht.“ – „Hab ich dir was getan?“ – „Lass mich in Ruhe.“ – „Wenn du meinst…“ – „Ja, meine ich.“

Sie schaute auf die Anzeigetafel: Bitte Ansage beachten! Sie guckte mich an, fragte: „Was ist denn das jetzt noch fürn Scheiß?“ – „Feuerwehreinsatz am Dammtor, Ersatzverkehr kommt irgendwann und der Aufzug ist kaputt. Mäuschen in der Falle. Sag mal, wieso bist du eigentlich barfuß?“ – „Ach halt die Klappe!“, fuhr sie mich an und fing an zu heulen. Als ich sie in den Arm nehmen wollte, rollte sie vor mir weg.

Jetzt reichte es. An der nächsten Gelegenheit überholte ich sie, stellte mich vor sie und bremste sie aus. „Hat dir einer was getan? Hat dich einer angefasst? Ich bin deine Freundin, ich mach mir Sorgen! Jetzt
rede endlich, verdammt!“ – „Es ist nichts los. Heute ist ein Scheißtag,
alles läuft schief, ich hab mich heute morgen in der Uni vor allen Leuten blamiert, weil ich mit meiner Tasche an dem Geländer hängen geblieben bin und es mich nach hinten aus dem Stuhl gezogen hat und ich lag auf der Rampe wie ein Maikäfer auf dem Rücken, die Knie im Gesicht und der Stuhl rollte die Rampe runter und quer über den Parkplatz und alle fanden es irre komisch. Außer mir.“

„Och Scheiße. Aber sowas kann doch passieren.“ – „Und dann wollte mir
ausgerechnet der Typ helfen, den ich so toll finde und der nichts von mir will und der hat mich dann auch noch umarmt, um mich wieder in den Rollstuhl zu heben und dann haben alle die drum herum standen auch noch ‚Küsst euch, küsst euch‘ gerufen. Und eine Freundin von mir, von der ich
dachte, sie sei aus dem Kindergartenalter raus, hat auch noch mitgemacht.“ – „Hättest du ihn nicht einfach küssen können?“ – „Jetzt fang du auch noch an! Und dann war das, was ich zu Hause ausgedruckt hatte, zur Hälfte nass und zur anderen Hälfte weggeflogen. Ich hab mich umgezogen und bin in Sporthose in die Vorlesung, denn meine Jeans war matschig. Und dann wollte ich heute mittag meine Tabletten nehmen und dann waren die auch weg, das war sowieso die letzte, weil die Apotheke, die das heute morgen da haben wollte, es erst heute abend bekommt, und nun komme ich nicht mehr dazu, sie abzuholen, weil ich nicht nach Hause komme wegen diesem Scheißdreck hier.“

„Blase oder Schilddrüse?“, fragte ich sie, weil ich wusste, dass sie für beides etwas nahm. „Blase“, antwortet sie. Ich nickte. „Blase!“, wiederholte sie. – „Ja, hab ich verstanden.“ So langsam dämmerte mir, warum sie das wiederholte. Sie bekam ein Präparat, das niemand anderes in der WG bekam, insofern brauchte sie das unbedingt. Smartphone sei dank, gelang es uns, die Telefonnummer der Apotheke herauszubekommen. Aber zur Bitte, das Medikament noch auszuliefern, kam es nicht, denn das
Präparat war bei einem Großhandel nicht verfügbar und käme erst morgen früh vom anderen Großhandel. Das gab Jana den Rest. Sie wurde richtig aufgebracht und motzte in der Gegend rum. „Diese beschissene Behinderung, mich kotzt das alles an, nirgendwo kommt man rein, nirgendwo kommt man raus, dann packst du dich auf die Fresse in den Dreck, dann klemmst du im S-Bahnhof fest, dann kriegst du die Tabletten nicht, man ey, ich kann gar nicht so viel essen wie ich kotzen möchte.“

„Und was ist mit deinen Schuhen?“ – „Die hab ich auf dem Klo beim Übersetzen vollgepisst. Das war kurz nachdem ich gemerkt hab, dass meine
Tablette für mittags weg ist und irgendwo mit im Dreck liegt. Hör bloß auf, ich würde hier am liebsten alles einzeln die Treppe runterfeuern, den Rollstuhl gleich hinterher.“ Ich wollte sie in den Arm nehmen, sie stieß mich weg. Ein Mann beobachtete das. Er fragte: „Habt ihr Stress?“ –
Ich antwortete: „Wir lieben uns!“, drückte meine Hände gegen Janas Wangen, presste sie zusammen, zog so ihren Kopf zu mir und gab ihr einen
Kuss auf den Mund. Sie antwortete: „Bäh, dass du mich überhaupt anfassen magst.“

„Ich liebe Nelken“, sagte ich. Sie antwortete: „Pissnelken oder was. Manchmal könnte ich dir eine knallen.“ – „Mach doch“, sagte ich, hielt ihr meine Wange hin, bekam eine symbolische Ohrfeige und hatte sie zumindest zum Schmunzeln gebracht. Zwei Minuten später schmiedete sie schon wieder Pläne, wie wir nun nach Hause kommen. Ich sage nur: Stufenweise die lange Treppe rückwärts mit dem Rollstuhl runter, dabei am Geländer festhalten *schepper*, anschließend durch die Schanze zur U-Bahn … die fuhr immerhin.

Und in der Bahn trafen wir dann eben ausgerechnet den Typen, der so gerne Latexfrauen mit großen Hupen bei Facebook reinstellt. Und er gesellte sich ausgerechnet zu uns und quatschte uns voll, ob wir nicht Lust hätten, im nächsten Jahr mit ihm zu einer großen Erotikmesse zu gehen, die leider gerade vorbei sei. Am besten hätten ihm dort zwei Frauen gefallen, die in Latexkleidung in einem Käfig eingesperrt worden waren. Ich sagte: „Du, das ist nicht so unser Interessengebiet.“

Er hörte aber nicht auf, sondern fuhr fort: „Das war irre da. Man konnte zwei Frauen sogar auf der Bühne beim Pinkeln zuschauen!“ – Das hatte gerade noch gefehlt. „Und warum erzählst du uns das?“, wollte Jana
wissen. Seine Antwort: „Na, ich wollte euch schonmal auf den Geschmack bringen für nächstes Jahr.“ – „Ich kotz gleich“, sagte Jana. Deutlicher konnte die Antwort nicht ausfallen. Der Typ war beleidigt, ich überlegte
noch, ob ich das noch relativieren sollte, aber ich dachte mir, es ist vielleicht so am besten. Nein, ich möchte nicht auf solch eine Messe.

Jana bekam von mir eine Badewanne eingelassen und anschließend von Cathleen und mir in ihrem Bett eine Wohlfühlmassage. Nein, keinen Schweinkram, sondern nur den Schulter-Nacken-Bereich und den Rücken und die Arme und Hände. Danach war sie wieder ganz zahm. Damit in dieser einen Nacht ohne Tabletten das Bett trocken blieb, hatte sie von mir eine Pampers bekommen. Sie meinte, das sei das erste Mal in ihrem Leben seit sie 3 ist, dass sie so etwas trage. „Das ist übrigens die Facebook-Seite von unserem Freund aus der U-Bahn“, meinte sie und holte ihr Smartphone raus. Und fragte dabei, wieso so auffallend viele Männer (im Gegensatz zu Frauen) ein aktives Interesse am Pinkeln haben. „Frauen
tun das einfach und Männer finden das spannend.“

Cathleen hatte die Idee, dass es daran liegen könnte, dass Männer ihr
Ding dafür jedes Mal in die Hand nehmen müssten, damit im Schnee schreiben könnten und ähnliches, während Frauen das, was da passiert, nicht mal sehen und nur hinterher einmal abwischen müssen. Spannende Theorie, oder?

Das Spielzeug am Bahnhof Dammtor war nicht explosiv. Ausgerechnet einen Tag später legte der nächste (oder der selbe?) Spinner einen Karton in der S-Bahn ab, auf dem geschrieben stand: „Vorsicht explosiv. Nicht anfassen, sondern Polizei rufen.“ Der „Bombenleger“ konnte noch vor Ort von der Polizei verhaftet werden. Im Karton war kein Sprengstoff, sondern ganz viel Schokolade…

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