Gebrauchsanleitung

Ich glaube, man kann gar nicht oft genug darüber schreiben. Nein, nicht über das Wetter (wieso sind draußen 13 Grad plus um diese Zeit?!).
Über was anderes:

Gebrauchsanleitung: Rollstuhlfahrer in der Öffentlichkeit

1. Wer in der Öffentlichkeit im Rollstuhl durch die Gegend fährt, fragt, wenn er Hilfe braucht.

2. Wer Hilfe braucht, aber nicht fragen kann, macht anders auf seine Hilfsbedürftigkeit aufmerksam. Derjenige kommt in aller Regel nicht an diesem Tag zum ersten Mal in diese Lage und kann sich entsprechend vorbereiten.

3. Wer Hilfe braucht und das selbst nicht weiß, verhält sich auch ansonsten erkennbar auffällig.

4. Wer freundlich angebotene Hilfe freundlich ablehnt, weiß, was er tut.

5. Wer einen Rollstuhlfahrer ungefragt oder gar gegen seinen Willen anfasst, ist ein Idiot.

Noch deutlicher kann ich es nicht mehr formulieren. Der Grund für das gefühlte 128. Aufgreifen dieses Themas? Einerseits eine Mail aus der letzte Woche, dessen Verfasser meinte, ich sei zu unnachsichtig mit meinen Mitmenschen, die nicht wüssten, wie man mit Behinderten umgehen soll. Andererseits der heutige Tag, an dem ich mich im Dreck liegend in einer U-Bahn wiederfand. Warum?

Ich stand mit Cathleen auf dem Bahnsteig, die Bahn fuhr ein, die Türen öffneten sich, einige Leute stiegen aus. Cathleen und ich rollten zu einer Tür, warteten ab, bis alle ausgestiegen waren. Ich wollte gerade einsteigen, als ich merkte, dass irgendjemand seine Finger an meiner Rückenlehne hatte. Ich drehte meinen Kopf um, direkt hinter mir stand ein älterer Herr. „Ich helfe Dir.“ – „Nein danke. Lassen Sie mich bitte los.“

Er dachte gar nicht dran. „Ich kenne mich aus. Meine Schwester saß auch im Rollstuhl. Du hast ja gar keine Schiebegriffe dran, das ist sehr
gefährlich, man hat ja gar keinen richtigen Halt.“ – „Lassen Sie mich sofort los!“

Der Typ schob mich die zwei Meter vor die Tür, wollte mich umdrehen und mich wahrscheinlich rückwärts in die Bahn ziehen. Mit „lassen Sie mich sofort los“ hatte ich doch wohl klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ich seine Aktion nicht wollte. Er ignorierte das, also blieben nur noch zwei weitere Eskalationsstufen. Erstens brüllen und die
Greifreifen festhalten, zweitens die Greifreifen wieder loslassen und ihm eine Ohrfeige verpassen.

„Sie sollen mich loslassen, habe ich gesagt!“ brüllte ich ihn an. Cathleen brüllte dazu: „Sag mal, hörst du schwer oder was?“ – Durch den Lärm wurden diverse andere Fahrgäste auf uns aufmerksam. Ein junger Mann
sprang von seinem Sitz auf und kam zu uns. „Hallo, hallo, lassen Sie die Frau mal los hier, ja?!“ – Und dann das unglaubliche: „Mischen Sie sich da mal nicht ein, die gehört zu mir.“

Ja, der Typ sagte allen Ernstes, ich gehöre zu ihm. Ich erwiderte: „Ich kenne Sie überhaupt nicht!“ – „Ich helfe dir doch nur beim Einsteigen!“ – „Was duzen Sie mich überhaupt?“

Der Typ ließ mich los. Über Lautsprecher kam die obligatorische Aufforderung, sich doch mal ein wenig zu beeilen: „Einsteigen bitte!“ – Ich tauschte mit Cathleen einen Blick, wir waren uns ohne ein Wort einig. Wir rollten ein Stück zurück. Der Zugführer schien uns per Kamera
zu beobachten. Er wiederholte: „Einsteigen bitte!“ – Wir rollten noch ein Stück weiter zurück und drehten uns mit dem Gesicht zueinander. Das war deutlich genug. „In Richtung Mümmelmannsberg: Zurückbleiben bitte.“

Die nächste Bahn würde in fünf Minuten kommen. Der Typ war im Wagen, die Türen schlossen sich. Die Bahn fuhr ab. Als die nächste Bahn einfuhr, starteten wir einen neuen Versuch. Cathleen fuhr vorweg, ich hinterher durch die geöffnete Tür. Das Einsteigen selbst dauert höchstens zwei Sekunden. Wäre da nicht … der nächste, der mich anfasst. Von hinten. Und zwar in dem Moment, wo ich leicht ankippel, um die Vorderräder über den Zwischenraum zwischen Bahnsteig und Wagen zu heben.
Durch das Anschieben von hinten drückt er meinen Stuhl vorne runter, der Stuhl bleibt an der Wagenkante hängen.

Normalerweise passiert da nichts. Im schlimmsten Fall geraten die kleinen Räder des Rollstuhls quer zwischen Bahnsteigkante und Waggon, dann kippt der Stuhl halt fünf bis zehn Zentimeter vorne runter, bis entweder die Fußplatte oder irgendein Teil vom Rahmen irgendwo aufschlägt. Das ist mir zwar noch nie passiert, aber wir hatten schon mehrmals so ein Mobilitätstraining, bei dem man das bewusst ausprobieren
konnte, um sich selbst die Angst vor diesem Spalt zu nehmen. Es passiert eben nichts schlimmes. Man hält sich am Stuhl fest, um beim Kippen nach vorne nicht aus dem Stuhl zu fallen, dann hält man sich mit einer Hand an der Tür oder an irgendeinem Griff fest, nimmt die zweite Hand an den Greifreifen und kippelt noch einmal neu an. Dabei zieht man die Vorderräder wieder aus dem Spalt. Oder man fragt halt einen Fußgänger, ob er mal helfen kann. Oder man lässt sich auf den Boden fallen, setzt sich hin, holt den Stuhl aus dem Spalt, zieht ihn in die Bahn und setzt sich wieder rein.

Alles kein Problem, wäre da nicht der Typ, der geschoben hat, und der
auf diesen plötzlichen und abrupten Stopp nicht vorbereitet war und über mich stolpert. Sich also an meinem Oberkörper abstützt, um nicht über mich hinweg zu fallen. Und dann lag ich im Dreck. Schön auf dem pitschnassen Fußboden der Bahn. Meine Füße hatten sich zwischen Fußplatte und Rollstuhlrahmen verfangen und verdreht. Cathleen hörte nur
das Gepolter, drehte sich um. „Was machst du denn?!“, fragte sie ungläubig.

Der Typ, der mich geschoben hatte und von hinten auf mich drauf gefallen war, rappelte sich auf und nahm seine Beine in die Hand. Und tschüss. Ein anderer kam angerannt und wollte meine Füße mit Gewalt aus dem Rollstuhl zerren. Bevor er mir noch die Knochen bricht, konnte ich ihn nur überdeutlich anblubbern: „Flossen weg. Ja? Immer mit der Ruhe. Nicht einfach irgendwo anfassen und rumzerren.“ Unglaublich. Ein anderer
Typ zog die Notbremse. Auch das noch – der Zug wäre mit dem Stuhl in der Tür sowieso nicht losgefahren. Solange die Tür blockiert ist … der Zug fährt ja nicht mit offener Tür. Nur jetzt musste erstmal der Zugführer kommen und die Notbremse wieder freigeben.

Inzwischen krabbelte ich wieder in meinen Stuhl. Ich sah aus wie ein Erdferkel. Der Zugführer kam, ich war schon auf eine Gardinenpredigt gefasst, der war aber nett, er hatte das Spektakel wohl auf seinem Monitor beobachtet. „Haben Sie sich verletzt?“, fragte er mich. Und dann: „Hatte der Mann Sie geschubst?“ – Ich nickte. „Wohl in bester Absicht, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass da plötzlich einer schiebt.“ – „Einen Krankenwagen brauchen Sie aber nicht, oder?“ – „Um Gottes Willen.“ – Ein Typ fing an zu pöbeln: „Geht das jetzt bald mal weiter hier oder was?“ Er drehte sich zum Fenster und blubberte vor sich
hin: „Nur weil die da mit ihrem Rollstuhl nicht in die Bahn kommt, verpass ich meinen Anschlussbus.“

Falsch. Nur weil Idioten mich anfassen, verpasst er seinen Anschlussbus. Aber egal. Du hast Recht und ich hab meine Ruhe. Bis … zur
Rückfahrt. Wir nahmen die S-Bahn, nicht nochmal die U-Bahn. Das hatte aber andere Gründe. Jedenfalls stiegen am Mittleren Landweg vier Kontrolleure ein. „Einmal die Fahrausweise bitte“, sagte der, der bei uns eingestiegen war. Bevor ich meinen Ausweis rausholen konnte, sagte er zu Cathleen und mir: „Ihr lasst den mal stecken.“ – Na klar. Rollstuhlfahrer werden sowieso kostenlos befördert, es wäre quasi nur der Nachweis, dass wir wirklich Rollifahrer sind.

Beiläufig bekamen wir mit, wie der Kontrolleur einen Mann, der es sich mit seinem Fahrrad und einem Buch in einer Ecke gemütlich gemacht hatte, ansprach: „Ihre Karte ist nur gültig, wenn Sie Ihren Namen mit Kugelschreiber dort in dem Feld eingetragen haben. Holen Sie das bitte schnellstmöglich nach, okay?“ – Der Mann, schätzungsweise Mitte 40, wirkte eigentlich völlig harmlos. Aber: „Hören Sie auf, mich zu belehren, was glauben Sie, wer Sie sind?“ – „Ich weiß, wer ich bin. Sie müssten Ihren Namen da bitte noch nachtragen, so ist der Fahrausweis nicht gültig.“ – „Nun spinnen Sie nicht rum, geben Sie mir meine Karte wieder.“

Der Typ versuchte, dem Kontrolleur die Karte aus der Hand zu nehmen. Ich sah die beiden schon ringend auf der Erde. Aber nein, der Kontrolleur ging einen Schritt zurück. „Nun bleiben Sie mal geschmeidig.
Ich kann die Karte auch einziehen.“ – „Das können Sie nicht, ich habe die bezahlt, das ist meine.“ – „Die Karte bleibt im Besitz des HVV und kann bei missbräuchlicher Benutzung eingezogen werden. Und die liegt vor, wenn Sie die Karte nicht mit ihrem Namen kennzeichnen, so dass sie von verschiedenen Leuten benutzt werden könnte.“ – „Ich weiß, dass ich da meinen Namen reinschreiben muss und die Karte nur zusammen mit meiner
Kundenkarte gilt, Sie sind ein alter Besserwisser, geben Sie mir meine Karte wieder und Sie können sich schon auf eine saftige Beschwerde gefasst machen morgen. Und da werde ich auch erwähnen, dass Sie die behinderten Mädchen hier gar nicht erst kontrolliert haben. Das ist reine Schikane, was sie hier machen. Und jetzt will ich meine Karte wiederhaben.“

Er riss sie dem Kontrolleur aus der Hand. Der drehte sich um und ging
zum nächsten. Ich konnte mir ein „Unglaublich“ nicht verkneifen. Allerdings so leise, dass der Typ nicht noch auf mich losging. Aber er pöbelte weiter: „Die Behinderten können schwarz fahren, aber ich werde hier angemacht, obwohl ich eine gültige Karte habe.“ – Cathleen und ich guckten aus dem Fenster. – „Ja ja, tut ruhig so als wenn ihr mich nicht hört.“

Am Hauptbahnhof trafen wir die vier Kontrolleure wieder. Sie stiegen gerade aus einem anderen Wagen derselben S-Bahn. Ich sprach den einen an: „Beschwert der sich jetzt wirklich morgen?“ – „Rechnen muss man mit allem.“ – „Wollen Sie meinen Namen haben? Falls es sein muss, schreibe ich dazu was.“ – „Schaden kann es nicht.“ – „Aber nicht, dass mein Name in die Schwarzfahrerdatei kommt“, scherzte ich.

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