Der Kommentar von Stefan zu meinem letzten Beitrag ist nicht das einzige dieser Art, zwei weitere habe ich nicht veröffentlicht, weil sie nach Meinung eines Juristen mit dem Strafrecht nicht vereinbar wären. Drei Mails zu dem Thema habe ich gelöscht.
Ich möchte noch ein paar ergänzende Informationen liefern, die diejenigen, die nach harter Arbeit viel in die Sozialsysteme einzahlen, weiter auf die Palme bringen. Portugal zahlt für die monatlichen Leistungen, die Maria hier bekommt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, keinen Cent. Auch die Krankenbehandlungskosten und ihre Pflege bzw. Assistenz zahlt alleine der deutsche Steuerzahler. Vielleicht kommt mal ein Krankenhausaufenthalt dazu, vielleicht sogar eine stationäre Rehamaßnahme … zusammengenommen wird man von einer jährlichen Summe von derzeit rund 100.000 € für eine ehemals kriminelle Ausländerin ausgehen müssen.
Warum zahlt Portugal nicht? Weil Maria deutsche Staatsbürgerin ist. Sie hat Portugal verlassen, als ein deutsches Forschungsprojekt in den 1990er-Jahren europaweit Kinder und Jugendliche suchte, die wie Maria erkrankt waren. Da das Erkrankungsbild sehr diffus und vielfältig und auch leicht verwechselbar ist (dieselben Anfangssymptome treten beispielsweise auch bei einem simplen Vitaminmangel auf, aber auch bei viel schwerer verlaufenden ähnlichen Erkrankungen), war ein Meilenstein in der Forschung gefunden, als man 1996 den Genort einer Mutation im Erbgut fand und nun per Blutuntersuchung bestimmen konnte, welche Erkrankung vorlag. Damit hatte man einen Startschuss abgefeuert für viele Forschungsprojekte: Endlich konnte man klar benennen, welche Menschen unter Marias Krankheit litten und welche an einer anderen mit ähnlichen Symptomen und entsprechend forschen.
Da die Erkrankung die häufigste ihrer Art ist, jedoch insgesamt nur selten vorkommt und sich auch nur rezessiv (also mit Überspringen einer Generation) weitervererbt, war es sehr schwierig, für diese Langzeitforschungsreihe geeignete Probanden zu finden. Daher wurden europa- und später sogar weltweit Kinder und Jugendliche gesucht. Marias Eltern konnten sich damals aussuchen: Entweder sie ließen ihre Tochter in Portugal, wo sie damals keine angemessene Schulbildung erhalten hätte und vor allem keine medizinische Versorgung, oder sie trennten sich von
ihr und schickten sie nach Deutschland, wo sie aufgrund eines Forschungsprojektes die beste medizinische Versorgung bekommen sollte, die es zu der Zeit dafür gab. Dazu eine Schulausbildung und eine Unterbringung in einer Pflegefamilie. Im Gegenzug durften deutsche Mediziner an ihr forschen. Das Projekt wurde damals für fünf Jahre angelegt, insgesamt rund 60 Kinder und Jugendliche wurden damals dafür nach Deutschland geholt. Als Maria nach Deutschland kam, konnte sie noch
frei laufen.
Heute, etwa 15 Jahre später, sind diese Forschungen insgesamt lange beendet. Man hat keine Therapiemöglichkeit für diese Erkrankung gefunden. Außer bestmögliche Pflege, Physiotherapie, Logopädie und eine gute Hilfsmittelversorgung sowie soziale Teilhabe gibt es keinen wirksamen Ansatz – bei allen Menschen, die ihre Erkrankung haben.
Als Maria 16 Jahre alt war, war ihr Krankheitsverlauf, kurz vor Ende des Projektes, bereits so weit fortgeschritten, dass sie im Rollstuhl saß. Die Rückführung nach Portugal war damals verpflichtend vorgesehen, wurde damals aber von deutschen Behörden ausgesetzt: Man stelle sich mal vor, eine Familie, die sich von Weinbau ernährt und ihren täglichen Bedarf über ein paar Tiere deckt, bekommt nach fünf Jahren plötzlich ein pflegebedürftiges Kind zurück, das sie, als es noch relativ gesund war, in ein fremdes Land geschickt hat, damit es dort behandelt wird. Diese Verantwortung wollte damals niemand übernehmen. Und aus heutiger Sicht muss ich sagen: Man war auf diese Situation anscheinend schlecht vorbereitet.
Maria hat in Deutschland ihr Abitur gemacht, spricht akzentfrei unsere Sprache, ist inzwischen deutsche Staatsbürgerin und hat in Deutschland sehr wohl in die Sozialkassen eingezahlt. Von 2003 bis 2005 hat sie studiert (in der Zeit natürlich nicht) und von 2005 bis 2010 hat sie in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Und dabei Arbeiten gemacht, die die meisten Leute nicht mal anleiten wollen würden – für einen Stundenlohn von etwa 63 Cent brutto.
Ich habe Maria gefragt, insbesondere weil es von einem Kommentator zu meinem letzten Post aufgegriffen worden war, was sie damals genau gemacht hat, als sie mit 17 oder 18 Jahren, in ihrer „heftigen Zeit“ geklaut, geschlagen, betrogen und Behinderte geärgert hat. Sie sagte: „Ich bin mit 12 von zu Hause weg, in ein fremdes Land, weil es angeblich das Beste für mich sein sollte. Ich konnte nur meine Muttersprache, kein Englisch – und hier keiner Portugiesisch. Alle sprachen Deutsch. Meine Pflegefamilie war sehr bemüht, ich lernte Deutsch auch sehr schnell. Mir wurde immer gesagt, ich könne vermutlich nie nach Hause zurück. Ich habe meine Eltern jahrelang nicht gesehen, so etwas wie Urlaub oder Familienheimfahrt gab es nicht. Telefon hatten meine Eltern nicht, wir konnten uns nur schreiben. Ich versuchte, in meiner Pflegefamilie einen gewissen Eltern-Ersatz zu finden – bis die mich dann mit 16, als meine Behinderung immer schlimmer wurde, in ein Heim gaben.
Damals bekam ich 60 Mark Taschengeld im Monat, musste mir davon aber Kleidung, Kosmetik und laufend Schulsachen kaufen. Geld für eine CD oder Kino war nicht drin. Oft hat es nicht mal für eine Tüte Gummibärchen gereicht und oft wurden auch schon Gelder abgezogen für Frisör, Medikamente oder Fahrdienste. Manchmal habe ich in einem Monat nicht einen Pfennig in bar in der Hand gehabt, hatte aber schon Schulden, die im nächsten Monat gegengerechnet wurden. Da kommt man irgendwann schonmal auf dumme Ideen.“
Ich fragte nach: „Was hast du denn konkret gemacht?“ – „Süßigkeiten im Supermarkt geklaut. Ich bin sogar mal erwischt worden, als ich eine Tüte Gummitiere in meinem Rucksack hab verschwinden lassen. Da kam plötzlich der Ladendetektiv hinter mir her. Allerdings habe ich mich erfolgreich rausreden können. Eine Sporthose habe ich auch mal geklaut, das hat keiner gemerkt. Und einmal habe ich einer Lehrerin von mir 100 Mark geklaut. Die hatte ihre Handtasche neben dem Tisch stehen, direkt vor mir, offen, ich habe sie während des Unterrichts unauffällig zu mir rangezogen, habe zwischen alten Taschentüchern und einer Schnapsflasche ihr Portmonee gefunden, es rausgezogen, es geöffnet und dann mindestens sechs- oder siebenhundert Mark gesehen. Ich habe einen Hunderter rausgezogen, in meine Hosentasche gesteckt, alles wieder verschlossen und die Tasche zurückgeschoben. Es hat nie jemand gemerkt. Ich habe das nie zurückgegeben, allerdings hat das noch Jahre später immer wieder mein Gewissen belastet. Ich habe das irgendwann mal gebeichtet und mir dann geschworen, nie wieder zu klauen. Seitdem habe ich mich auch daran gehalten.“
„Und wen hast du geschlagen und betrogen?“ – „Naja. Man löst Probleme verbal. Wenn mich im Heim einer geärgert hat, habe ich mir auch schonmal mit körperlicher Gewalt Respekt verschafft.“ – „Gab es Tote und
Verletzte?“ – „Treten konnte ich nicht, koordiniert schlagen auch nicht, derjenige musste mir also schon sehr nahe gekommen sein und dann hatte er es meistens auch verdient. Geblutet hat aber niemand meinetwegen. Und was das Betrügen angeht … wenn du einen Jugendlichen fragst, ob er seinen Pudding schon bekommen hat oder das Geld für ein Schulbuch, ist er entweder ehrlich oder er betrügt und hofft auf einen Vorteil. Eine Zeitlang gehörte ich zu denjenigen, die immer versucht haben, Profit daraus zu schlagen, dass andere schlecht organisiert sind oder Dinge vergessen haben. Allerdings habe ich sehr schnell gemerkt, dass es meiner Glaubwürdigkeit schadet. Weil mir Glaubwürdigkeit sehr wichtig ist, habe ich es schnell wieder gelassen.“
Ich bin der Meinung, dass alles das nicht rechtfertigt, dass eine Krankenkasse jemanden schikaniert. Ja, sie soll prüfen, bevor sie eine Leistung bewilligt. Aber das gilt für alle gleichermaßen. Eine noch so kriminelle Vergangenheit rechtfertigt nicht, Leistungen vorzuenthalten. Und wer völlig ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein. Über den E-Rolli wurde übrigens noch immer nicht entschieden.