Heiße Nacht auf dem Kiez

Am letzten Samstag waren Cathleen, Simone, Jana, Sofie und ich auf dem Kiez. Mit „Kiez“ meint der Hamburger die Reeperbahn plus Nebenstraßen. Um 22 Uhr haben wir uns am S-Bahnhof Sternschanze getroffen, haben uns im Schanzenviertel noch einen leckeren Kartoffelauflauf ins System geworfen und sind anschließend „zu Fuß“ weiter durch die Straßen mit den lustigen Namen, an deren Straßenschildern immer etliche Touristen stehen und die Unterschriften lesen, um zu erfahren, was ein Amüsierviertel mit dem Grünen Jäger, Papa
und Tochter Wohlwill, den Brigitten, Paulinen und Annen zu tun hat.

Auflösung: Gar nichts. Genauso wie die nach dem Kirchenbaumeister Johannes Otzen benannte Parallelstraße sicherlich nicht deswegen dort verläuft, damit irgendwelche besoffenen Banausen auf die Bäume klettern und das Straßenschild in Fotzenstraße umsprühen, bevor sie zurück in die
Kneipe wanken. Und wer glaubt, dass die direkt in die Reeperbahn einmündende Silbersackstraße die Etablissements der 2. Klasse beheimatet, sucht die Goldsackstraße vergebens. Namensgeber war der Grundeigentümer im 15. Jahrhundert, ebenso wie es die „Große Freiheit“ bereits seit dem 17. Jahrhundert gibt und ihr Name auf die damals dort angesiedelten freien Handwerker zurückgeht.

So viel Kultur bin ich von mir eigentlich gar nicht gewöhnt, nur muss
das hin und wieder sein, sozusagen als Gegenpol zu dem an diesem Abend Erlebten. Ich glaube, ich habe noch nie so viele volltrunkene Leute gesehen wie an diesem Abend. Vermutlich gab es irgendwo eine Flatrate-Party, sonst kann es nicht sein. Ständig musste man aufpassen, dass man nicht durch irgendwelche Kotze fährt, mehrmals prügelten sich Chaoten mitten im Geschehen. Zuerst waren wir in zwei Kneipen am Hamburger Berg.

In der ersten quatschte mich sofort ein Typ an. Beziehungsweise brüllte, da die Musik so laut war: „Na? Sitzt du im Rollstuhl?“ – Ich musterte das Gefährt unter meinem Po. „Lass mich kurz überlegen … ja.“ –
„Hast du schlechte Laune?“ – „Nö.“ – „Du hast schlechte Laune.“ – „Wenn
du meinst…“ – „Ich bin Psychotherapeut und ich weiß viel über Rollstuhlfahrer. Bist du ein Querschnitt?“ – „Nö, ich bin Jule, bin fast
20 und komme aus Hamburg. Und du?“ – „Ich sag doch, du hast schlechte Laune.“ – „Okay, ist in Ordnung.“ – „Sag ich doch. Und nun?“ – „Verpiss dich, ich hab schlechte Laune.“

Da man sich weder nach vorn und zurück bewegen konnte, wechselten wir
kurzerhand die Location und gingen ins Nachtlager. Dort kam sofort ein Typ auf uns zu, schätzungsweise um die 35 Jahre alt. „Wollt ihr ein Bier
oder einen Wodka?“ fragte er. Wenn er so fragt: „Ein Bier bitte!“ – Er bestellte uns fünf Bier am Tresen und drückte uns die Flaschen in die Hand, stieß mit uns an. Wollte wissen, woher wir kommen, warum wir feiern. Er suche eine „Braut für eine Nacht“, aber nicht uns, wir müssten keine Angst haben, uns fände er nur sympathisch, wir würden so nett lachen. Er käme aus dem Stadtteil Altona und sei im Moment Single und arbeitslos. Aber er habe geerbt. Dann meinte er: „Ihr müsst mich jetzt nicht einladen, wenn ich jetzt von euch fünf Bier bekomme, bin ich
voll und der Abend ist noch jung. Vielleicht machen wir einen anderen Deal.“

„Kommt auf den Deal an“, sagte Sofie. Der Typ antwortete: „Okay, ich bekomme statt des Biers entweder ein Küßchen auf die Wange oder ich darf
wissen, welche Farbe euer Schlübber hat.“ – „Unser was?“, fragte ich nach, denn es war tierisch laut und ich wusste nicht, ob ich ihn richtig
verstanden hatte. – „Dein Schlübber!! Deine Unterhose.“ – Du meine Güte. Okay, wir sind auf der Reeperbahn. Ich hatte Lust, ihn ein wenig durcheinander zu bringen und antwortete: „Ich hab gar keine Unterhose an! Und nun?“ – „Bist du echt nackig in deiner Jeans?“ – „Nur eine Frage
pro Bier.“ – „Okay, noch drei Bier für die junge Frau hier!“, brüllte er.

„Nee, ich will nicht, danke. Ein Bier, eine Frage.“ – Cathleen sagte:
„Ich hab heute auch keine an. Wer geht denn schließlich auf die Reeperbahn und trägt eine Unterhose?“ – „Ihr macht mich ganz verrückt“, meinte der Typ. Ich musste grinsen. Wie einfach kann man einen Mann doch
aus der Fassung bringen. Simone meinte: „Meiner ist schwarz mit Spitze,
weil … mein Freund steht drauf.“ – Dass Simone Single ist, musste er ja
nicht wissen. Jana sagte: „Mir ist das peinlich, aber ich habe so eine Wollunterhose von meiner Oma an. Die hat sie mir gegeben, damit ich nicht friere.“ – Der Typ guckte beinahe fassungslos. Ich konnte mir das Lachen kaum verkneifen, insbesondere weil ich vorher mit Jana auf dem Klo war und wusste, dass das nicht simmte. Den Vogel schoss aber Sofie ab. „Weiß mit braun und rot.“ – „Igitt“, meinte der Typ. „Hast du deine Tage?“ – Sofie räusperte sich entsetzt. Sie sollte Schauspielerin werden. Die Antwort: „Ich bin FC-St.-Pauli-Fan und habe meinen Fanslip an, ja?!. Was kann ich dafür, wenn die braun und rot als Vereinsfarben haben!“

Anschließend waren wir in der Großen Freiheit 36, der Türsteher hat uns gleich so reingewunken, der Eintritt war geschenkt. Als wir reinkamen, spielten sie DJ Bobo, das war jetzt nicht so meine Musikrichtung, aber mit Timbalands „The Way I Are“, Nossa Nossa und der Party Rock Anthem konnte ich irgendwie leben. Das besondere an dieser Diskothek ist ihre total irre Akustik. Es ist einerseits nie so laut, dass man sich nicht mehr unterhalten könnte, andererseits werden aber Frequenzen bis in den Infraschallbereich bedient. Das heißt: Alles vibriert. Insbesondere die eigenen Bauch- und Brustorgane. Wenn man die Jacke auszieht und die Arme in die Luft hält, hat man das Gefühl, die Armbehaarung zittert im Takt der Schallwellen. So extrem wie dort habe ich das noch nirgendwo sonst wahrgenommen. Man kann nun darüber streiten, ob das gesund ist oder nicht, das Gefühl finde ich jedenfalls geil. Sofie war zum ersten Mal in dem Laden und meinte schon beim Reinrollen: „Boa, was sind denn das für Bässe hier?!“

Anschließend waren wir noch einmal auf dem Hamburger Berg, wurden noch einmal eingeladen, allerdings von einem anderen Typen, der weder geküsst werden noch die Unterhosen sehen wollte, dann sind wir in eine Disko am Hans-Albers-Platz, da war jedoch nichts los, anschließend in eine dortige Kneipe und als es irgendwann kurz nach sechs war, traten wir den Heimweg an. Zu Hause duschen, dann schlafen. Endlich mal wieder eine heiße Nacht auf St. Pauli. Wenngleich der Kiez sonst eher nichts für mich ist, anlässlich Simones 18. Geburtstag durfte das dann doch mal
sein.

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