Der erste Tag

Semesterbeginn war ja schon vor einigen Wochen, aber heute hatte ich meinen ersten offiziellen Tag. Was soll ich sagen? Ich bin erschlagen.

Erstmal von den ganzen Leuten, die mich beim Aufnahmetest gesehen haben, die mich wegen meines Rollstuhls wiedererkennen, die ich aber nicht wiedererkenne. Schließlich ist es einfacher, sich das Gesicht einer Rollstuhlfahrerin zu merken als über hundert Gesichter der anderen
Leute. Entsprechend oft hörte ich heute: „Hey, wir kennen uns! Du warst
doch bei dem Test, freut mich, dass du ihn bestanden hast!“

Die meisten Leute habe ich aber noch nie zuvor gesehen und wenn man den Worten des ersten Dozenten Glauben schenken darf, wird bereits im ersten Semester erheblich gesiebt. Mit Marie und mir hatte noch keiner Probleme, allerdings gibt es noch eine junge Frau, die eine andere schwere Behinderung hat und bereits den ersten Eklat für sich beanspruchte.

Plötzlich gab es in einer Ecke des Hörsaals Lärm, alle drehten sich um, ein junger Mann meinte, er müsse sich übergeben. Grund dafür war das
Gesicht einer Kommilitonin. Ich wusste nicht, was das sollte, aber der Lärm und das Rumgerenne einzelner Leute störte so sehr, dass es die komplette Aufmerksamkeit diverser Leute auf sich zog. Plötzlich wurde rumgepöbelt, ich schaute Marie an, die schüttelte nur den Kopf und irgendwie hatte ich schon gehofft, ich wäre aus meinem Kindergarten meiner Schule raus – und dann geht das hier genauso los. Mindestens ein Typ machte da hinten einen Zwergenaufstand.

Dann kam die junge Frau nach vorne und bat den sichtlich irritierten Dozenten, was sagen zu dürfen, wenn sie schon den Anlass liefert, die Veranstaltung zu stören. Ähm, ja, sie bekam ein Mikro in die Hand gedrückt und … was soll ich sagen … she made my day. Sie sagte, sie heiße Melanie, sei 21 Jahre alt und habe als Jugendliche in dem Betrieb ihrer Eltern ausgeholfen, als ein Kessel explodiert ist und das heiße Wasser darin ihren Körper, vor allem ihr Gesicht verbrüht hat. Nach etlichen Hauttransplantationen wachsen keine Haare mehr auf ihrem Kopf, ihr Gesicht sehe „wirklich schlimm und abrtig“ aus. Wenn sie morgens in den Spiegel schaue, fühle sie sich manchmal wie ein Nacktmull. Manchmal aber auch wie ein Mops und Möpse werden ja manchmal auch ein bißchen geliebt… Bevor es nun Spekulationen gäbe, ob in ihren Hautfalten auch Parasiten wachsen würden oder weitere Reaktionen wie der Brechanfall des
jungen Mannes kommen, möchte sie die Gunst der Stunde nutzen und dem ersten Mobbingversuch „ihre verkrüppelte Stirn zeigen“. Wenn es sein müsse, setze sie sich in die hinterste Ecke, aber wir sollten ihr doch bitte die Chance lassen, das Studium fachlich zu verkacken und nicht schon wegen ihres Aussehens. Sie träume jede Nacht von ihrer Karriere als Nacktmodel, das seien immerhin acht Stunden pro Tag und somit ein Drittel ihres Lebens. Morgens wache sie als Nacktmull auf und habe die anderen zwei Drittel vor sich. Die anderen zwei Drittel reichten aber nicht, um sich zu erschießen – immer wenn es kurz davor sei, bekomme sie
wieder den viel versprechenden Anruf von Heidi Klum.

Hut ab. Plötzlich klopften die ersten Leute auf die Tische, etliche standen nach und nach von ihren Stühlen auf. Sowas habe ich noch nicht erlebt. Malanie fragte dann: „Ist noch irgendwo Platz für mich? Dahinten
war es irgendwie nicht so toll.“ – Sie fand ihren Sitzplatz und der Typ, der vorher diese Kotzattacke demonstriert hatte, stand auf, nahm seine Sachen und ging unter einigem Protest der daneben sitzenden Leute nach draußen. Keine Ahnung, ob der nochmal wiederkommt. Was mich ein wenig überrascht hat: Der Dozent hat zu der ganzen Sache gar nichts gesagt, sondern hat danach sofort mit seinem Kram weitergemacht.

Sein Kram: Erfolgreich studieren. Wie man sich organisiert, strukturiert, was erlaubt ist, was nicht, wo man sich welche Hilfe holen
kann, was erwartet wird und was nicht. Wobei „was nicht erwartet wird“ sich eher schnell abhandeln ließ.

Die Mehrzahl der Leute scheint sehr nett zu sein, alle sind irgendwie
noch sehr schüchtern und zurückhaltend, allerdings waren Marie und ich schon mit einer Sechsergruppe einen Kaffee trinken. Und die waren definitiv alle sehr nett.

Morgen geht erstmal das Gerenne und Gehacke los, wer welche Kurse darf und wer wann welche Praktika machen kann. Wir müssen bestimmte Pflichtkurse belegen, zwischen etlichen dürfen wir wählen, das eine oder
andere spannende scheint schon im ersten Semester dabei zu sein.

Am tollsten war am Nachmittag die „Einführung in die medizinische Terminologie“, die uns noch das ganze Semester hindurch begleitet. Die Einführung. Hinter mir blökt eine los: „Was ist denn das? Einführung verstehe ich ja, aber Termino … häh?“

Ich freue mich auf morgen!

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