Schneehasen in Schneehosen

Normalerweise sollte man mindestens 18 sein, wenn man bei uns wohnen will. Falls der- oder diejenige gut zu uns passt, die Eltern zustimmen und geklärt ist, wer zuverlässig die Miete zahlt, machen wir auch schonmal eine Ausnahme mit 17 oder gar 16 Jahren. Noch jüngere Leute können wir uns nicht vorstellen. So haben wir es mal gemeinsam beschlossen.

Im September letzten Jahres haben wir uns alle (also alle Bewohner unseres Wohnprojekts) versammelt und darüber beraten, ob wir auf fast schon verzweifelte Bitten des Jugendamtes einen 14-jährigen Jungen bei uns aufnehmen sollten. Der Junge solle auf vorläufigen Beschluss eines Gerichts nicht mehr bei seinen Eltern wohnen, er selbst wolle das auch nicht, eine geeignete Pflegefamilie stünde nicht zur Verfügung, in eine Einrichtung wolle man ihn nicht stecken. Wegen einer angeborenen Querschnittlähmung (Spina bifida) sei er auf den Rollstuhl angewiesen, könne einzelne Schritte mit Festhalten gehen, besuche die Realschule … lange Rede, kurzer Sinn: Nach einem Probewohnen zog er bei uns ein. Ich habe ihn als aufgeweckten jungen Mann wahrgenommen, der genau wusste, was er wollte. Unter anderem: Bloß zu Hause raus. Wie er selbst mehrmals öffentlich erzählte, seien Gewalttätigkeiten dort an der Tagesordnung gewesen. Die Miete wurde komplett aus öffentlichen Kinder- und Jugendhilfemitteln übernommen, ob die Eltern zuzahlen mussten, weiß ich nicht. Anfangs alle zwei, später alle drei Tage kam eine Sozialarbeiterin für rund eine Stunde zu ihm, nach der Schule ging er für zwei bis drei Stunden in eine ambulante Betreuungseinrichtung, wo er Mittagessen und Hausaufgabenhilfe bekam. Insgesamt fanden wir die Sache „rund“ und anfangs fügte sich der junge Mann auch gut in unsere WG ein. Saß mit im Aufenthaltsraum, spielte Gesellschaftsspiele mit …

Doch irgendwann schien er überfordert zu sein. Wir haben etliche Gespräche mit der Sozialarbeiterin geführt, drei Mal haben Frank und Sofie einen sehr ausführlichen Brief an die zuständige Mitarbeiterin vom Jugendamt geschickt, die auch reagiert hat, sogar persönlich vorbei schaute und mit dem jungen Mann sprach – insgesamt fielen aber weder ihr noch der Sozialarbeiterin neue Ideen ein. Ich finde es insgesamt so erschreckend, weil ich glaube, dass die ganze Mission gescheitert ist, liegt einzig und allein an den Betreuungsangeboten, die seinen Bedürfnissen nicht gerecht wurden. Oder anders ausgedrückt: Mit ein wenig mehr Flexibilität hätte man ihm den Himmel auf Erden bereiten können. Nun ist er zurück in der Hölle: Die Eltern haben es mit anwaltlicher Hilfe nach einigen Monaten irgendwie hinbekommen, das Sorgerecht zurück zu bekommen und ihn wieder zu sich nach Hause geholt. Einfach unglaublich und aus meiner Sicht einfach ungeheuerlich. Ich kenne nicht die Einzelheiten, kann mir kein abschließendes Urteil erlauben und rechtlich mag die Entscheidung auch formal richtig sein – ich weiß es nicht. Mein Herz und mein Bauch sagen mir etwas anders. Sie schreien nahezu.

Der junge Mann hatte, wie alle Leute mit Querschnittsymptomatik, eine gelähmte Blase (und einen gelähmten Darm). Das bedeutet: Beides entwickelt ein Eigenleben, das es gilt, mit gewissen Tricks so zu beeinflussen und damit zu kontrollieren, dass man eine relative Kontinenz herstellt. Der Darm lässt sich im allgemeinen relativ leicht dazu zu erziehen, sich, auch wenn die Verbindung vom Gehirn zum Schließmuskel unterbrochen ist, nur zu einer bestimmten Tageszeit zu entleeren. Er macht nur dann was er will, wenn er völlig sich selbst überlassen wird. Bei der Blase wird es etwas schwieriger, da durch unterschiedliche Füllzustände und Lage im Körper jede Menge fremder Reize auf sie einwirken und sie bei unterbrochener Reizleitung zum Gehirn oft nicht „weiß“, auf welche Reize sie denn nun reagieren soll oder auf bestimmte Reize permanent reagiert. Unterschiede gibt es auch noch je nach Höhe der Schädigung.

Wie dem auch sei: Meistens wird die Blasenmuskulatur mit Medikamenten künstlich gelähmt und die Blase dann mithilfe eines Katheters, der für die Dauer des Entleerungsvorgangs (also rund 30 Sekunden) durch die Harnröhre in die Blase geschoben und anschließend sofort wieder entfernt wird, entleert. Leider haben diese Medikamente eine sehr geringe therapeutische Breite, soll heißen: Zu wenig bringt nichts, zu viel macht schnell Nebenwirkungen. Insbesondere Menschen mit angeborener Querschnittlähmung haben oft schon Nebenwirkungen, bevor überhaupt die erwünschte Wirkung eintritt. Hinzu kommt, dass die von der Krankenkasse bezahlten billigen Medikamente oft eine sehr kurze Halbwertszeit haben, also wenig geschmeidig wirken und so alle paar Stunden nachgeworfen werden muss, um zuverlässig einen wirksamen Wirkstoffspiegel im Blut zu haben. Da insbesondere bei einem 14-jährigen jungen Mann nicht davon ausgegangen werden kann, dass der nie die Einnahme vertrödelt, die Tabletten zu Hause vergisst oder sonst irgendwas nicht nach Plan läuft, ist die eine oder andere nasse Hose vorprogrammiert.

Und genau damit war das Jugendamt bzw. die Sozialarbeiterin überfordert. Ja, richtig gelesen, sie waren damit überfordert. Genauso wie einst die Eltern. Genauso wie einst ich, als mir das zum ersten Mal passiert ist. Ich weiß nicht, was sie veranstaltet haben, jedenfalls kann es nicht förderlich gewesen sein und wir hatten plötzlich überall im Haus, in erster Linie im Keller, in irgendwelchen Plastiktüten im Putzschrank, in Wäschetonnen, später auch in seinem Zimmer, nasse Hosen von ihm versteckt, von denen er wohl gehofft hat, niemand würde sie jemals finden. Vermutlich. Verdrängung pur. Beim Öffnen so einer Tüte schlug einem eine Ammoniakfahne entgegen, von der man das Gefühl hatte, sie würde einem auf Schlag sämtliche Nasenschleimhäute wegätzen.

Ein paar Mal hat die Sozialarbeiterin mit ihm zusammen alles mögliche auf den Kopf gestellt, seine Sachen durchsucht, alle Räume, zu denen er Zugang hatte, und alles mögliche gefunden. Er hatte zwar behauptet, das
gehörte ihm alles nicht, aber komischerweise waren das alles Klamotten in seiner Größe, an die man sich teilweise auch erinnerte. Und vor allem ist ja ein noch so großer Kleiderschrank ja irgendwann mal leer. Dass er die Waschmaschine alleine bedienen kann, hat man ihm wohl abgesprochen, vielleicht aus Angst, er könnte irgendwas zu heiß waschen.
Spätestens als er die „pädagogisch wertvolle“ Auflage bekam, sich bei uns zu entschuldigen und die Sozialarbeiterin mit ihm wie mit einem Hund an der Leine durch alle Zimmer ging, ihn vor sich hinstellte und im Hintergrund beschwichtigende Bewegungen machte … Wahnsinn. Ich hatte mal einen sehr guten Draht zu ihm, als ich nach dieser Aktion abends spät zu ihm ins Zimmer gerollt bin und ihm gesagt habe: „Kannst auch zu mir kommen, wenn du mal was waschen willst. Ich stell keine dummen Fragen. Versprochen.“ Schließlich muss ich nicht um Erlaubnis fragen oder jemanden mitnehmen, wenn ich waschen will.

Ganze zwei Mal kam er wirklich. Danach bekam ich einen heftigen Einlauf, ich solle mich nicht in die Arbeit der Sozialpädagogen einmischen, ich hätte mit ihnen sprechen müssen, aber auf eigene Faust führe das dazu, dass sie ihre Stellung und damit ihren Draht zu dem Jungen verlieren. Ich war auf 180, habe aber überlegt, das ganze als dumme Idee auf meine Kappe zu nehmen, bevor sie ihn unter Druck setzen und er etwas verbotenes tut, wenn er zu mir kommt. Letztlich kam er nicht mehr, ging mir aus dem Weg. Die ganze Aktion war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ende letzten Monats holten die Eltern ihn hier wieder raus. Ausgang ungewiss.

Ich bin sehr traurig über diese Entwicklung, weil ich das Gefühl habe, der richtige Weg war greifbar nah und die Eltern tun ihm erst recht nicht gut. Er hatte ja mehrmals geäußert, dorthin nicht zurück zu wollen. Am Ende wollte er dann doch. Ich sehe ihn vor mir wie einen ehemaligen Mitschüler, der auf dem Schwebebalken turnen sollte und verkrampft darauf rumsprang und runterfiel – aber erst, als sich die Sportlehrerin daneben stellte und ihm damit Hilfe und Sicherheit angeboten hat. Ich bin mir sicher, unser junger Mann wäre seinen Weg gegangen gerollt. Ich habe ihn gemocht, ich habe ihn lieb gehabt, ich bin sehr traurig. Aber ich weiß auch nicht, wie ich ihm helfen kann. Vermutlich kann ihm keiner helfen.

Eine letzte Anekdote am Rande: Er stand auf Thermokleidung. Also Schneehosen, Skianzüge, sowas. Und das wohl am besten auf nackter Haut. Jedenfalls hat er alle jüngeren Frauen bei uns angesprochen und mehrmals
Geschichten erzählt von Mitschülerinnen, die morgens in der Schule ihre Schneehose ausziehen und dann nur in der Unterhose im Klassenraum stehen und aus ihrem Rucksack die Jeans holen und anziehen. Das ginge jawohl gar nicht…

Nicht völlig ausgeschlossen, dass sich das so zugetragen hat, aber schon merkwürdig – und warum erzählt er das jedem jeder? Weil er über das Thema ins Gespräch kommen wollte. Weil er wissen wollte, ob sein Faible, wenn man es so bezeichnen darf, nämlich Schneehasen in Schneehosen, normal ist. So habe ich das vermutet, bin auf ihn eingegangen, auch wenn mich das Thema überhaupt nicht interessiert, und er hat danach noch ein paar Mal versucht, mit mir über das Thema ins Gespräch zu kommen. Ich habe das dann aber abgeblockt, weil er nicht offen und ehrlich war, sondern wieder irgendwen vorgeschoben hat und dieselbe Geschichte, die er eine Woche zuvor Cathleen erzählt hat, mir mit ähnlicher Handlung nochmal als nagelneu aufgetischt hat. Wir haben uns zu keinem Zeitpunkt darüber lustig gemacht, nur redet man ja miteinander und solche Geschichten sind ja eher ungewöhnlich, so dass sie dann doch mal zufällig am Rande Thema einer Unterhaltung werden.

Und das alles wäre nicht erwähnenswert, wäre da nicht am Ende die Sozialpädagogin gewesen, die direkt nach seinem Auszug noch einmal in unsere WG kam und wissen wollte, ob er uns sexuell belästigt hätte. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie einige Zettel auf den Tisch legte, auf dem sich jemand Notizen gemacht hatte. Unter anderem stand dort:

„(18.01.12) Jule hatte als Kind einen Schneeanzug von C&A. Hat heute eine dunkelblaue Thermohose der Marke KJUS. Trägt immer Leggings etc. drunter. Hat angeblich immer eiskalte Beine im Winter.“

Unmöglich. Absolut unmöglich. Dass sie diese Zettel bei sich trägt. Die wird er sicherlich nicht freiwillig rausgegeben haben. Und vermutlich nie zurück kriegen. Ich kann nur nochmal sagen: Mir tut der junge Mann Leid. Kann ihm mal irgendjemand etwas Intimsphäre belassen?

Eine Sache haben wir gelernt: Noch einmal wird es so eine Zusammenarbeit mit einem externen Träger nicht geben. Noch einmal werden wir so eine Jugendamtssache nicht machen. Es sei denn, wir werden vollständig in das „pädagogische Konzept“ eingebunden. Bisher haben wir mit solchen Versuchen nur schlechte Erfahrungen gemacht. Der letzte 14-jährige, der uns Unterwäsche geklaut und Zeitungen im Flur angesteckt
hat, wurde auch von einer externen Sozialarbeiterin betreut, bevor wir ihn rausgeworfen haben.

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