Wie könnte ein Sonntagmorgen schöner beginnen als mit der Feststellung: Du hast gestern nacht vergessen, das Handy auszustellen. Zuviel Bier bei der Grillparty? Oder waren das die Folgen des unvermeidbaren Passivkonsums, weil sich auf dem Heimweg in der U-Bahn eine junge Frau eine Tüte anstecken musste? Sechs Minuten nach Neun, im Display meine Trainerin Tatjana. Hatte ich einen Termin vergessen? Neun Uhr Trainingsbeginn? Auf einem Sonntag?!
„Ja?!“, nuschelte ich verschlafen. – „Oh, hab ich dich geweckt, das tut mir Leid.“ – „Wo brennt’s denn?“ – „Ja, ähm, ich wollte mal fragen, ich habe um 11 Uhr ein Mädel hier, 16 Jahre, das will künftig bei uns trainieren, kommt vom Verein …, hat jahrelang dort nur auf dem Platz trainiert, will mehr machen, traut sich mehr zu, ist wohl auch recht talentiert, kriegt aber nicht so richtig den Mund auf und hängt nur bei Muddi und Vaddi an der Leine. Vaddi hat mich jetzt schon drei Mal angerufen und mir jedes Mal erklärt, dass die ganze Familie sich auf Sonntag 11 Uhr freut, dass er sein Fahrrad mitbringt und jederzeit zur Stelle ist und sie extra einen Kleinbus haben und Muddi auch mitkommt, auch mit Fahrrad, und zwischendurch im Bus online arbeitet, aber dadurch
stets zur Stelle …“ – „Tatjana! Sonntagmorgen. Ich bin noch nicht wach.
Mein Bett ist total kuschelig und warm, stell einfach nur deine Frage.“
„Kannst du um 11 mit Rennrolli hier sein?“ – „Mein Rennrolli steht bei Marie. Ich hab doch kein Auto.“ – „Wenn Marie dich abholt, kommst du
dann mit?“ – „Wenn Marie mich abholt, würde ich mitfahren.“ – „Ich ruf dich gleich wieder an.“ – „Ja tschüss.“
Naja, wenigstens schönes Wetter draußen. Kein Regen, die Sonne scheint. Acht Minuten später rief Marie an: Tatjana hätte, nachdem sie sie nicht erreicht hatte (weil Handy aus), bei ihren Eltern über Festnetz angerufen: Können Sie mal ihre Tochter wecken? – „Meine Mutter fand das ziemlich dreist“, meinte Marie.
„Ist es auch, nur das änderst du bei Tatjana nicht mehr. Ich hab ihr das auch schon mindestens fünf Mal gesagt, dass sie einfach mal früher planen soll. Zumal sie ja selbst gesagt hat, sie hätte schon drei Mal mit dem Vater telefoniert. Aber komm, das wird bestimmt toll.“ – „Fahren
wir hinterher noch ne Stunde zu zweit?“ – „Auf jeden Fall. Oder zwei.“ –
„Okay. Ich hol dich halb 11 ab.“
Als wir um 11 dann fertig umgezogen im Rennrolli auf dem Radweg neben
dem Deich standen, uns die Sonne ins Gesicht scheinen ließen und etliche Radfahrer anhielten, um uns dabei zu bewundern, stieg Tajana gerade auf dem Parkplatz aus ihrem Auto. Ein Mädel im Rennrolli kam endlich zu uns, Papa und Mama gingen direkt neben ihr, plapperten auf sie ein. Die Mutter fing an, an ihrer Tochter herumzufummeln, ob denn auch alles richtig säße. Der Vater kam auf uns zu: „Warten Sie auch auf Frau …?“ – „Ja, genau, du bist die Anja, oder?“ – Das Mädel nickte schüchtern. Der Vater: „Wir hatten eigentlich ein Einzeltraining vereinbart. Naja“, seufzte er, „das fängt ja gut an.“
Maries und mein Blick streiften sich, ich sagte: „Wir trainieren alleine. Wir wollen nur ‚Guten Tag‘ sagen und kurz fragen, ob wir am Anfang irgendwas helfen sollen.“ – Ich schaute für einen Moment in Anjas
Gesicht, dessen Miene von ‚extrem angespannt‘ für einen Moment auf ein von mir gedeutetes ‚fahrt bloß nicht ohne mich los‘ wechselte. Dann sagte der Vater: „Wir suchen für unsere Tochter eine geeignete Trainingsmöglichkeit. Im Moment sind wir in …, aber da wird sie nicht genug gefördert. Sie ist ja so talentiert.“ – „Was für eine Behinderung hast du eigentlich?“, fragte ich sie. „Wenn ich fragen darf?“ – „Meine Tochter hat CP, sagt Ihnen das was?“ – „Das sagt mir was.“ – „Was sagt es Ihnen denn?“ – „Wie meinen Sie das?“ – „Ja, was heißt denn ‚CP‘?“
Auweia. Tatjana erlöste uns in genau dieser Sekunde. „Tut mir Leid, ich bin drei Minuten zu spät. Ich hatte einen Trecker vor mir, den ich minutenlang nicht überholen konnte, und dann waren noch die Schranken zu.“ – „Ja, wir hatten auch eine recht lange Anfahrt, da kann ja immer viel passieren. Deswegen fahren wir auch immer rechtzeitig los. Ich schlage vor, Sie schicken erstmal die beiden Frauen hier auf die Reise und dann schauen wir mal, wie meine Tochter mit Ihnen klar kommt.“
Sind wir ein kleines bißchen überheblich? Anja sagte: „Papi, ich komm
schon klar.“ – Papi fragte Tatjana: „Haben Sie denn gar kein Fahrrad dabei? Wie wollen Sie denn kontrollieren, ob meine Tochter alles richtig
macht?“ – „Das brauche ich nicht zu kontrollieren. Ihre Tochter ist ja keine Anfängerin mehr, sie ist selbst dafür verantwortlich, alles richtig zu machen. Sie fährt ja regelmäßig an mir vorbei, ich sehe sie einen Kilometer weit von hinten und einen von vorne, da kann ich genügend Eindrücke gewinnen und ihr noch einzelne Tipps geben.“ – „Und wenn die da trödeln, sobald sie außer Sichtweite sind?“ – „Dann sind sie
dumm, schließlich könnten sie es noch einfacher haben, indem sie einfach aufhören und duschen fahren. Meinetwegen muss hier niemand trainieren, das machen alle Athleten nur für sich selbst. Und das wissen
sie auch.“ – „Na, wenn Sie das meinen.“
„Ich würde vorschlagen, die drei fahren sich mal locker warm und wir schauen einfach mal zu.“ – „Ach, ich dachte, das wäre Einzeltraining?“ –
„Wir sind nur zum Gespräch verabredet. Und ich habe gesagt, ich schaue mir Ihre Tochter mal an. Aber von Einzeltraining war nie die Rede. Und Einzeltraining hieße ja auch nicht, dass niemand anderes mehr in der Nähe sein darf. Die anderen werden sich später ausklinken, aber erstmal sind die beiden ja auch eine gute Möglichkeit für einen Leistungsvergleich.“
Der Vater wollte seinen Fahrradhelm aufsetzen. Tatjana sagte: „Zum Aufwärmen wollen Sie jetzt aber nicht mitfahren, oder?“ – „Ja doch!“ – „Lassen Sie doch Ihre Tochter mal sich eingewöhnen und einfach mal ein wenig ausprobieren. Dafür ist das Aufwärmen ja da. Wie lange macht Ihre Tochter das jetzt? Sechs Jahre? Dann bekommt sie ein Aufwärmen auch hin,
ohne dass sie jemand dabei beobachtet.“ – „Und wenn Autos kommen? Sie fährt zum ersten Mal auf der Straße!“ – „Sie fährt ja nicht auf der Straße, sondern das ist hier nur ein breiter Rad- und Gehweg. Der ist zwar so breit wie eine kleine Straße, aber da fahren keine Autos. Ansonsten sieht man das ja schon von weitem und kann anhalten.“
„Auf gehts!“, versuchte ich, die nun folgende Diskussion zu vermeiden
und rollte los. Marie fuhr gleich mit. Anja zögerte. Ich drehte mich nach einigen Metern um. „Komm Anja. Lass deinen Papa und Tatjana erstmal
fachsimpeln, wir geben schonmal Gas.“ – Jetzt kam auch noch die Mutter ins Spiel, hüpfte ihrer Tochter vor den Stuhl und musste ihr noch ein Küßchen geben. „Pass auf dich auf, Kleines.“ – „Ja, Mama.“ – „Und wenn Autos kommen, fährst du rechts ran, ja? Und hör auf Jule und Marie, ja? Wenn das bloß gut geht.“
Ich wagte nach fünfzig Metern einen vorsichtigen Blick nach hinten, Papa hatte sein Fahrrad wieder aufgeständert. Also schien Tatjanas Plan zu funktionieren. Wir fuhren erstmal mit halber bis dreiviertel Kraft, um den Körper an der trotz Sonne recht kühlen Luft auf Betriebstemperatur zu erwärmen. Nach 10 Minuten lockerem Gespräch fragte
ich direkt: „Sag mal, deine Elten sind ziemlich anstrengend, oder?“
„Naja, sie meinen es gut. Sie fahren mit mir überall hin, sie fördern
mich, ohne die beiden wäre ich ziemlich aufgeschmissen. Aber ich weiß, was du meinst: Es muss irgendwie immer das beste sein. Mein Papa ist zu ungeduldig, einfach mal auszuprobieren und langfristig etwas aufzubauen,
er will immer gleich und nur das Beste. Und das gibt es halt im Leben nicht oder ist nur von kurzer Dauer. Und ihm ist ungeheuer wichtig, welcher Eindruck auf andere entsteht.“
„Den Eindruck hatte ich aber nicht“, konterte Marie. „Ich fand das teilweise ziemlich abgefahren, was er da von sich gegeben hat.“ – „Er ist der Chef. Ich halt mich da raus. Ich versuche, mich irgendwie zu benehmen und dann ist gut. Alles andere ist sein Bier. Wenn mich einer was fragt, antworte ich, ansonsten halte ich meine Klappe. Lieber nichts
als was falsches sagen.“
„Aber es geht doch um dich? Da kannst du dich doch nicht raushalten!“
– „Naja, er meint eben, dass er am besten weiß, was für mich gut ist. Oft stimmt das ja auch. Wenn ich das für mich beanspruchen will, führt er mir eine Viertelstunde lang Dinge vor, die ich eben noch nicht alleine kann und beendet seinen Monolog mit: ‚Und deswegen bin ich für dich da. Ich lass dich nicht im Stich.’“
Ich sagte ihr, dass sie auf Dauer nur dann Spaß und Fortschritt sehen
wird, wenn sie selbst bestimmt, was sie will. Damit spreche ich mich ausdrücklich dafür aus, sich mit seiner Umwelt zu arrangieren und auch mal zurück zu stecken, aber es kann doch nicht sein, dass jeamnd einem das Leben plant?! Und zwar in allen Bereichen, wie wir mitbekamen, als wir nach 20 Minuten wieder an Tatjana und den Eltern von Anja vorbei fuhren.
Wir hielten auf das wilde Gestikulieren der Mutter kurz an. „Anjaschatz, musst du auf die Toilette?“ – „Nein, Mama, ich war doch gerade erst.“ – „Willst du nicht lieber nochmal dorthin, bevor ihr die nächste Runde fahrt?“ – „Nein, ich muss nicht.“ – „Nicht dass es nachher
zu spät ist.“ – „Nein, Mama, jetzt entspann dich doch mal.“
Kein Wort darüber, wie es bisher gelaufen ist, ob sie gut mit uns zurecht kommt, okay, Muddis sehen das ja im allgemeinen am Gesichtsausdruck, dass es ihrer Tochter gut geht. Aber jemandem mit 16 an den Klogang erinnern? Unglaublich. Aber leider wirklich kein Einzelfall bei den Jungs und Mädels, die seit Geburt eine Behinderung haben. Und leider scheint für viele Eltern der Abschluss der „Sauberkeitserziehung“ eine unüberwindbare Hürde zu sein, sobald eine Inkotinenz oder zumindest eine durch die Behinderung beeinflusste Blase (und Darm) mit hinein spielt. Natürlich ist es anders und natürlich gibt
es Menschen mit Behinderungen, die das geistig nicht auf die Reihe bekommen. Aber Anja besucht das Gymnasium. Passt also nicht. Mit 16 ist diese Frage einfach unverschämt.
Wir fuhren in die andere Richtung weiter, offiziell immernoch zum Aufwärmen, inoffiziell, um Anja kennen zu lernen und mehr über sie zu erfahren. Ich fragte gleich direkt: „Und was war das jetzt? Ist dir das nicht peinlich, wenn deine Mutter dich vor fünf anderen Leuten daran erinnert, auf die Toilette zu gehen? Ich meine, mich kratzt das jetzt nicht, das ist eure Sache, aber ich wüsste, wie ich an deiner Stelle darauf reagieren würde.“ – „Ich habe mich schon daran gewöhnt. Da kann man nichts machen. Ich habe immer mal ein paar Probleme mit der Blase und dann bekommt meine Mutter es nicht auf die Reihe, dass die Probleme nicht dadurch entstehen, dass ich zu selten auf Klo gehe. Aber das ist für sie als nicht betroffener Mensch die einzig nachvollziehbare Erklärung und dann … kannst du vergessen. Du kannst aber sicher sein, dass es nachher eine Predigt gibt, falls was in die Hose gegangen ist. Ich glaube, sie möchte damit ein wenig ihre Verantwortung abgeben, in die sich selbst immernoch nimmt. So kann sie dann immer sagen: ‚Ich hab dich gefragt, ich habe dich erinnert.‘ Und damit die Schuld von sich wegschieben.“
Als wir wieder an der Gruppe vorbei kamen, bat der Vater Anja, anzuhalten. Er meinte, ihr Training sei beendet, man käme mit „der Frau“
auf keinen gemeinsamen Nenner. Tatjana vertrete Ansichten, die sie nicht teilen könnten. Da von Anja keine Reaktion kam, platzte mir dann mal stellvertretend der Kragen: „Mit Verlaub, Sie vertreten auch Ansichten, die man nicht teilen kann. Wieso bestimmen Sie, was für Ihre Tochter gut ist, ohne sie überhaupt gefragt zu haben? Sie hat sich jetzt
warm gefahren, vielleicht möchte sie jetzt mal eine Stunde lang Gas geben? Warum sollte sie jetzt ihr Training mittendrin abbrechen, nur weil der Vater mit der Trainerin nicht klar kommt? Ich dachte, Sie tun das alles für Ihre Tochter, aber ich habe eher den Eindruck, Sie tun das
für sich selbst.“
„Das ist doch alles ein abgesprochenes Spiel hier, dasselbe habe ich gerade schon einmal gehört. Ich hätte gleich misstrauisch sein sollen, als aus dem Einzeltraining ein Gruppentraining wurde.“ – „Misstrauisch? Ihre Tochter fühlt sich wohl. Sie haben ein Problem, nicht Ihre Tochter.
Aber Sie wollen hier nicht trainieren. Alle anderen Jugendlichen mit 16
kreuzen hier alleine hier auf und lassen sich nicht von den Eltern kontrollieren, ob sie Vollgas geben oder rechtzeitig zum Klo fahren. Und
sind sehr erfolgreich. Das müssen Sie doch mal merken, dass da bei Ihnen was nicht stimmt.“
„Kommst du?“, forderte er Anja energisch auf. Die überlegte einen Moment. Ich fixierte sie mit meinem Blick und beamte ihr ein „jetzt oder
nie, das ist deine Chance“ in den Kopf. Es kam an. Ich hatte mich für diese Steilvorlage weit genug aus dem Fenster gelehnt und alle unverschämten Register, an die ich irgendwie dran kam, gezogen. „Papi, jetzt hör mal zu. Ich weiß ja, dass ihr es gut meint, aber manchmal geht
es echt zu weit, was ihr hier macht. Ihr wollt doch, dass ich glücklich
bin und gut gefördert werde und hier habe ich zum ersten Mal den Eindruck, dass das was ganz tolles werden könnte. Die Leute sind nett, zwei zumindest erstmal, ich kann endlich mal richtig schnell fahren, schneller als ewig nur auf der 400-Meter-Bahn mit lauter Kurven, und ihr
habt mir versprochen, wir probieren es aus. Ich kann dir jetzt sagen: Es gibt was viel besseres als den Sportplatz in dem anderen Verein. Heute habe ich gemerkt, was ich schon immer gewusst habe und was du auch
gemerkt hast: Der Sportplatz alleine bringt es nicht. Ich gehe auf diesen Platz nicht wieder zurück. Wenn ihr heute meint, dass ich hier nicht trainieren darf, dann ist das wohl mein Ende in diesem Sport, denn
nur auf dem Sportplatz habe ich keine Perspektive, meine Leistungen noch zu steigern und auch noch andere Dinge zu machen. Die Leute hier trainieren ja nicht nur im Rennrolli, sondern auch andere Sachen, Biken und Schwimmen. Da hätte ich auch voll Lust drauf. Ich wäre sofort dabei,
aber im Moment seid ihr diejenigen, die mir da Steine in den Weg legen“, sagte sie und drückte auf die Tränendrüse. „Auf den heutigen Tag
habe ich mich seit Wochen gefreut.“
Und Tränen erweichen ja bekanntlich als erstes die Muddis. Die kam gleich angelaufen und musste ihre Tochter in den Arm nehmen. „Schatz, wir wollen doch nur das beste für dich. Du musst Papi auch verstehen, der hat dich sechs Jahre begleitet und du kannst nicht behaupten, du hast nichts gelernt und es nicht gut gehabt. Papi hat alles für dich getan.“
„Ja, das weiß ich ja auch alles und das finde ich ja auch alles gut, aber ihr könnt mich doch nicht mit 25 immernoch an die Hand nehmen, ihr müsst doch mal langsam dazu kommen, dass ihr mir ein paar Freiräume gebt
und mir eher beratend und helfend zur Seite steht und mich eigene Erfahrungen machen lasst. Schau mal, ich habe sofort neue Freunde gefunden, da möchte ich einfach mal ein bißchen egoistisch sein. Wenn es
zu viele Umstände macht, finden wir bestimmt einen Weg, wie ich zum Training komme und wieder zurück, aber ich möchte zumindest die Erlaubnis haben, künftig hier erstmal mitzutrainieren.“
Der Vater sagte „nein“, die Mutter „ja“, beide im selben Moment. Dann
schauten sich Mama und Papa an und dann sagte Papa: „Ist ja gut, ich will kein Spielverderber sein. Aber ich möchte, dass du mir regelmäßig erzählst, was ihr hier macht und dass wir gemeinsam besprechen, ob das wirklich alles so gut ist, sobald du mehr Eindrücke gewonnen hast.“ – „Ach Papa, wenn das alles nicht gut wäre, würde ich doch von selbst sagen, dass ich nicht mehr hierhin will. Danke Papa“, sagte Anja und gab
Muddi und Vaddi ein Küßchen. Marie war schon einige Meter vorgerollt, ich rollte hinterher. Sie fing leise an zu singen: „So a Stückerl heile Welt hab‘ ich beim Himmel heut‘ bestellt…“ – „Ach du warst das“, lachte ich. „Manchmal komme ich mir hier vor wie ein Sozialarbeiter.“ – „Bist du doch auch. Was meinst du, warum Tatjana dich angerufen hat.“
„Aber nun sag doch mal selbst, sowas geht doch gar nicht.“ – „Geht es
auch nicht. Ich wette mit dir, sie trainiert jetzt gleich noch zwei Stunden mit uns, die Eltern gehen zwischendurch spazieren oder einen Kaffee trinken, dann erklären sie uns, dass sie nachgedacht haben und dass sie ihre Tochter selbstverständlich fördern wollen. So oder so ähnlich. Ich würde meiner Mutter übrigens was erzählen, wenn die mich vor allen Leuten fragt, ob ich auf Klo war. Ich würde ihr zu Hause so eine Szene machen, das würde sie sich kein zweites Mal trauen.“
Anja kam von hinten auf uns zugerollt. „Meine Eltern machen eine Radtour. Wir haben uns geeinigt, dass wir bis 14 Uhr noch trainieren und
wollte fragen, ob ihr mir dann zeigen könnt, wo ich duschen kann. Um 15
Uhr holen sie mich dann wieder ab.“ – „Alles klar, machen wir so, los geht’s, ich werde kalt.“ – „Kommt Tatjana mit?“ – „Nein. Wir trainieren zu dritt, Tatjana ist nur für das Gespräch mit deinen Eltern gekommen. Die hat heute Sonntag.“ – „Das habe ich mir gedacht. Mein Vater hat sich
da so reingesteigert in dieses beknackte Einzeltraining. Am Anfang hat er nämlich gesagt, es gibt nur ein Gespräch und dann plötzlich sollte ich alles einpacken und … egal, wir fahren jetzt los.“
Bleiben noch zwei Dinge zu klären: Erstens war sie selbstverständlich
in der Lage, so rechtzeitig Bescheid zu sagen, dass wir eine Möglichkeit fanden, wie ihre Hose trocken blieb, zumal sie frei laufen konnte. Wenn auch recht spastisch, aber sogar barfuß und ohne Festhalten. So ein Deich hat ja immer Gefälle und wenn man sich richtig rum mit herunter gezogener Hose ins Gras setzt (hocken ging nicht), braucht man nur einen Moment, in dem keine Fußgänger und Radler vorbei kommen und gaffen wollen. Auf den Schiffsverkehr auf der Elbe haben wir allerdings nicht geachtet und so erblickten wir dann plötzlich einen Typen auf einem Binnenschiff, der mit einem Fernglas herüber schaute. Der war aber trotzdem weit genug weg.
Zweitens: „Muddi und ich haben bei unserer Radtour nachgedacht und miteinander gesprochen und wir finden es wichtig, dass du den Sport machst und dass du deine Freunde hast und dein eigenes Leben und selbstverständlich sollst du hier trainieren.“ – Marie hielt mir auffordernd (’schlag ein‘) ihre flache Hand hin. Im selben Moment kam der Vater auf mich zu und meinte: „Ich finde es gut, dass Sie vorhin so direkt, ich will nicht sagen unverschämt, aber direkt, zu mir waren. Sie
haben durch ihr selbständiges Leben sicherlich einen ganz anderen Blickwinkel. Es war richtig, dass Sie uns so nachdrücklich auf unseren Irrtum aufmerksam gemacht haben. Obwohl ich so etwas nicht schätze, wenn
Publikum daneben steht, und das weiß meine Tochter auch.“
Dann sagte die Mutter: „Trotzdem denken wir, Sie können unserer Tochter viele Dinge vermitteln, die wir als nicht behinderte Menschen ihr nicht beibringen können. Nicht nur Sie, sondern auch die anderen Leute hier.“ – Wow. Da mag sie Recht haben.