Ich wollte ein wenig Ausgleichstraining an Geräten machen und war nebenbei mit Anja, jenem 16-jährigen Spasti, der seit unserer druckvollen Überzeugungsaktion
bei uns mittrainieren darf, locker verabredet. Anja wollte mal wieder auf einen Rollentrainer und wurde von ihrem Vater gebracht, der aber sofort wieder verschwand. Und Anja hatte noch eine etwas jüngere Freundin mitgebracht, die gerne zuschauen wollte. Deren Vater würde die beiden nach zwei Stunden wieder abholen.
Anja und ich kümmerten uns um uns selbst und unser Trainingsprogramm,
beim Duschen trafen wir uns wieder, danach quatschten wir noch einen Moment, rollten zurück in die Halle und unterhielten uns auch noch mit der zuschauenden Freundin. Diese saß auch im Rollstuhl, vermutlich auch wegen CP (um hier endlich mal aufzuklären: Es handelt sich um eine meist
spastische Lähmung, oft auf einer Körperseite stärker ausgeprägt als auf der anderen, oft durch einen Sauerstoffmangel bei der Geburt oder eine Infektion hervorgerufene Schädigung des Hirns, wobei „Hirnschädigung“ nicht zu vermischen ist mit kognitiven Einschränkungen;
ich kenne genügend Leute mit CP, die Abi machen und studieren) und war,
was ihre Bewegungen anging, unheimlich stark eingeschränkt. Sie kam kaum vorwärts, war völlig verspannt, völlig aufgedreht und konnte ihren Rolli eigentlich nur mit einem Arm effektiv vorwärts bewegen, hatte deswegen auch schon eine mechanische Feder an einem Vorderrad, die den Rolli automatisch um die Kurve fahren ließ, um ihr einseitiges Antreiben
wieder auszugleichen.
Das Mädel saß jetzt, wo sie sich selbst vorwärts bewegte, unglaublich
unmöglich in diesem Rollstuhl drin (und es war eigentlich schon ein guter, angepasster Stuhl), lag mit der Brust fast auf den Knien, hatte die Knie durchgedrückt, so dass die Beine fast parallel zur Sitzfläche nach vorne gestreckt waren – wie ein Klappmesser – und fiel bei jeder Bewegung fast aus dem Stuhl. Da ich kein Spasti bin, halte ich mich mit sämtlichen Kommentaren eher zurück, aber Anja drehte entsprechend auf: „Sag mal, du sitzt da heute wieder wie ein Affe aufm Schleifstein.“ – Sie lachte: „Ja, irgendwann fall ich da auch nochmal raus.“
Sie schien das eher zu belustigen als zu kränken. Jetzt setzte ich doch noch einen drauf: „Das behindert dich doch auch voll beim Fahren, ich glaube, du könntest viel schneller sein, wenn du da nur mal vernünftig sitzen würdest.“ – „Ich rutsch immer runter und dann verkrampfe ich mich so wegen meiner Spastik“, erklärte sie.
„Viele andere binden ihre Füße am Stuhl fest, warum machst du das nicht?“, fragte ich. Sie antwortete prompt: „Meine Eltern wollen das nicht, das sieht so behindert aus und wenn ich rausfalle, breche ich mir
die Füße.“
„Dann machst du dich oben auch fest und dann fällst du auch nicht raus“, meinte Anja. „Wollen wir es nicht mal ausprobieren?“ – Das Mädel zuckte mit den Schultern. „Wenn ihr meint!“
Entsprechend kramten wir die Schränke durch nach allen möglichen brauchbaren Stretchbändern und Klettgurten und Fußschnallen und fanden, was wir suchten. Füße fest, Po nach hinten an die Rückenlehne ran und einen Gurt über die Hüfte, ein Klettband unterhalb der Brust um die Rückenlehne – und das Mädel fuhr statt Schneckengeschwindigkeit plötzlich im langsamen Lauftempo. Nachdem wir diese komische Feder ausgehakt hatten, denn plötzlich konnte sie auch halbwegs gradeaus fahren oder zumindest Abweichungen durch einseitiges Bremsen korrigieren. „Ich bin ja richtig schnell“, krähte sie durch die halbe Halle und etliche Leute, die rundherum auf den Ergometern saßen und ihre
Übungen machten, guckten und grinsten.
Nun war das natürlich nicht die endgültige Lösung, aber mit einer Verordnung vom Arzt könnte man solche Fixierungen anbauen lassen. Dann wäre mit wenig materiellem und finanziellem Aufwand der Rolli maximal in
Richtung Höchstgeschwindigkeit gepimpt. Und was liegt näher, als das neu entdeckte Phänomen gleich dem Papa zeigen zu wollen, der gerade um die Ecke kam: „Guck mal, wie schnell ich bin.“
Und als wäre das nicht schon genug zu erzählen und aufzuschreiben, kam noch eine absolut geniale Reaktion des Vaters dazu: „Macht das sofort wieder ab! Wie behindert ist das denn bitte! Ich lasse doch meine
Tochter nicht an einen Rollstuhl fesseln! Das ist Freiheitsberaubung!“
„Nun mal langsam“, sagte ich und fiel fast vom Glauben ab. „Das ist ja nicht die Endlösung, das ist zusammengewürfeltes Zeug aus irgendwelchen Sporthallenkisten. Aber das kann man doch optimieren und was passendes über das Sanitätshaus bestellen.“
Der Vater war fast außer sich: „Freiheitsberaubung ist das! Es ist verboten, Menschen an Betten oder Rollstühle zu fixieren!“ – „Das tut doch auch keiner. Ihre Tochter kann doch alle Fixierungen selbst wieder öffnen. Die dienen doch nur ihrer Stabilität. Sie selbst entscheidet, wann sie die öffnet und wann sie die schließt. Aber schauen Sie doch mal, wie schnell und selbständig sie damit wird.“
Der Vater überlegte einen kleinen Moment. Dann fragte er: „Kannst du das denn alleine auf und zu machen?“ – Die Tochter nickte aufgeregt. – „Na dann … holen wir morgen ein Rezept. Ich habe immer gedacht, das wäre
verboten.“ – Ich hasse es, wenn Menschen überheblich sind, aber heute kann ich es mir nicht verkneifen: Kopf -> Tischkante.