Viel Post und ein Schleimbeutel

In der heutigen Zeit ändern sich Dinge schneller als sie es früher taten. Die Welt sei sehr viel schnelllebiger geworden, sagen vor allem die älteren Menschen. Manche Dinge ändern sich hingegen nie. Manchmal ist das gut, manchmal auch nicht. Und wieder andere Dinge, von denen man
möchte, dass sie sich möglichst schnell ändern, lassen unglaublich, unheimlich und unverschämt lange auf sich warten.

Im letzten Monat bin ich, ist vor allem mein Blog, durch eine Nominierung bei den BOBs
einigermaßen aus der Bahn geworfen worden. Einige Konsequenzen daraus habe ich noch nicht abschließend für mich bewerten können. So gibt es demnächst wohl den 750.000 Besucher – obwohl ich den 500.000 vom 3. März
noch nicht einmal richtig realisiert hatte. Zusammen mit den vielen neuen Leserinnen und Lesern meines Blogs spülte mir meine neue Berühmtheit, von der ich immer noch nicht weiß, ob ich sie wirklich will, auch jede Menge Herausforderungen in mein Postfach. Doch. Eigentlich will ich sie.

Ja, viele Besucher bringen nicht nur viele hübsche virtuelle Blumensträuße, Glückwunschkarten und ähnliches, sondern viele Besucher erwarten auch von mir, dass ich mit hochgesteckten Haaren, tiefem Dekolleté, im kleinen Schwarzen, stets einen frischen Imbiss im Kühlschrank, jedem Gratulanten einzeln die Hand schüttel. Dass ich zu jedem ein passendes Wort finde, dass ich 48 Stunden Zeit pro Tag habe, nett gemeinte Mails zu beantworten und schlaue Kommentare zu tagesaktuellen behinderten Behindertenthemen abzugeben. Sorry Jungs und Mädels, ich bedanke mich hiermit,
gerne auch mehrfach, für all die Aufmerksamkeit, die mir zuteil wird, aber ich bin einfach nur überfordert. Ich muss euch leider entsprechend vor den Kopf stoßen.

Ich habe in der letzten Woche fast 700 Mails oder Kommentare bekommen. Ich bin wirklich gerührt, aber ich kann die unmöglich alle beantworten. Selbst mit dem Lesen komme ich kaum noch hinterher, denn einzelne schreiben mir ganze Lebensgeschichten auf – eine besondere habe
ich ausgedruckt, wollte sie in der Bahn lesen, es waren 7 Seiten. Völlig unbekannte Menschen bieten mir an, mich durch Hamburg zu fahren, bis ich wieder ein eigenes Auto habe, andere wollen mir Pullover stricken, eine Mutter fragt, in welchem Stadtteil ich wohne, ihr Sohn sei vor einiger Zeit ausgezogen, sie würde meine Wäsche waschen. Starker
Mann bietet sich kostenlos für ein paar Getränkekisten – es wäre ihm eine Ehre. Das ist ja alles sooo lieb gemeint und ich bin sehr gerührt! „Kannst du meiner Tochter das Schwimmen beibringen?“ fragt eine andere Leserin. „Willst du nicht mal einen Kursus veranstalten, wo du anderen Rollstuhlfahrern den Umgang mit dem Gerät zeigst“ – gutes Können verpflichte. Und die Presse will natürlich auch was hören – von dem Gefühl, das zur Zeit in mir wohnt und wie ich darüber denke, wie mit behinderten Menschen in Deutschland umgegangen wird.

Und dann sind da noch die, die mir meine Wäsche abkaufen wollen, die mich treffen wollen, die ein Date mit mir wollen. Nein, ich träume nicht.

Ich habe im Moment ganz andere Sorgen. Im Moment geht es mir nicht gut. Körperlich. Ich habe mir eine Schleimbeutel-Entzündung eingefangen.
Ein Schleimbeutel ist keine Plastiktüte zum Reinrotzen, sondern es handelt sich um flüssigkeitsgefüllte Puffer, die jeder an mechanisch stark beanspruchten Stellen des Körpers hat, zum Beispiel am Ellenbogen,
am Knie, an den Sprunggelenken, an der Hüfte … und eben auch an den Schultern. Bei mir ist der unter dem linken Schulterdach betroffen (subakromialis), vermutlich vom Rollstuhlfahren in Verbindung mit ständigen Transfers. Ich würde ja eigentlich nicht rumjammern, sowas kann jeder mal bekommen, nur hühner ich jetzt damit bereits seit einer Woche herum und es wird nicht besser, eher immer schmerzhafter. Ich habe
bereits drei Spritzen in die Schulter bekommen und profitiere von Ronja, unserer inzwischen hauseigenen Physiotherapeutin mehr denn je, aber wenn das nicht bald besser wird, sind wohl radikalere Methoden gefragt. Im Moment soll ich mich schonen, möglichst nicht viel Rolli fahren, möglichst keinen Transfer alleine … und nachts weiß ich nicht, wie ich liegen soll.

Apropos Ronja:
Seit zwei Wochen arbeitet sie nun fest bei uns im Haus und eigentlich wäre das, was ich über sie zu erzählen habe, einen eigenen Beitrag wert,
aber ich muss mich etwas kürzer fassen … sie hat morgens um 10 Uhr ihren ersten Patienten (sie fängt später an, da die meisten Leute abends
mehr Zeit haben als morgens) und erzählt, sie hat in den letzten vier Wochen kaum geschlafen, so aufgeregt war sie und so aufgeregt ist sie immer noch. Jeden Morgen guckt sie ab 8 Uhr alle 5 Minuten auf die Uhr, wann sie los muss. Man merkt es ihr auch an. Nicht im negativen Sinne. Man merkt einfach, dass sie immer noch sehr unter Strom steht, weil sich
vieles einfach noch nicht eingependelt hat. Und ich fühle, auch wenn ich im Moment eigentlich bis auf meine eigene Therapie kaum etwas mit ihr zu tun habe, diese berühmte Schere mal wieder hautnah mit. Jene, die
einerseits die ganz lieben Mitmenschen, andererseits die Vollidioten darstellt. In der Mitte ist wieder mal nix. Oder wenig.

Es gibt bisher ganz wenige externe Patienten, trotzdem erstmal mehr als genug. Ein älterer Mann mit Gehwagen meinte im Flur kürzlich zu ihr,
dass er seit dem Krieg regelmäßig „Anwendungen“ bekäme und er habe bisher nur zwei Therapeuten gehabt, die richtig gut massieren konnten und einer davon sei sie. Wow. Ich habs ja immer gesagt. Eine ältere Frau
hingegen ist gar nicht erst mit ihr ins Behandlungszimmer gegangen, meinte, bevor die Therapie begann, sie habe andere Vorstellungen von Krankengymnastik, Ronja wirke wie ein wackeliges Küken, um nicht zu sagen wie eine Blei-Ente (hat sie wirklich gesagt!), und am Ende müsse die Oma die Physio stützen und undeutlich spreche sie auch. Sie bereue, gerade ihre Zeit zu verschwenden. Aber Ronja ist sehr viel selbstsicherer geworden: „Zum Glück fällt mir ja nicht auf jede Gemeinheit eine passende Antwort ein. Soll ich Sie noch zur Tür bringen oder finden Sie alleine wieder raus?“ – Zum Glück ist die Mehrzahl der Leute aber lieb.

Noch eine Neuigkeit: Wir haben für Maria einen „Praktikumsplatz“ gefunden. Also so halb. Sie probiert seit letztem Wochenende aus, in der
Praxis unter uns zu arbeiten. Ronja arbeitet dort als Vollzeitkraft, Christine und Karoline beide erstmal auf einer halben Stelle, die Ergotherapeutin Maja fängt frühestens im nächsten Monat an, alles auf einmal wäre einfach zu viel. Aber Maria drängelte nahezu, ob es dort nicht irgendeine sinnvolle Aufgabe für sie gäbe. Am PC könne sie doch etwas tun – und so testen wir im Moment, ob sie nicht als Hilfe für Ronja arbeiten kann. Ronja fällt Lesen und vor allem Schreiben unheimlich schwer, sie liest jedes Wort einzeln und baut anschließend daraus einen Satz, während sie beim Schreiben mit der Hand jeden einzelnen Buchstaben „malt“ – und im Kalender oder Tabellen findet sie sich nur sehr mühsam zurecht. Hingegen kann Maria einen PC relativ normal bedienen und hat auch keine Probleme mit irgendwelchen Anwendungen. Die beiden könnten sich eigentlich prima ergänzen bei Abrechnungen oder ähnlichen Dingen, die nichts mit Publikum zu tun haben. Mal schauen, wie das läuft und ob das dauerhaft was für Maria ist. Das wäre natürlich eine schöne Sache.

Und apropos Maria: Nein, es gibt noch immer keinen endgültigen Bescheid, welche Leistungen für sie für das Wohnen mit Assistenz gewährt
werden. Auf Drängen des Sozialgerichts hat man inzwischen einen schriftlichen Bescheid erlassen, dass die Leistung dem Grunde nach bewilligt wird, zur genauen Höhe etc. ergehe aber noch ein weiterer Bescheid. Theoretisch ist es natürlich denkbar, dass die nur die halben Kosten zahlen … der vorläufige Bescheid ist also genau genommen nicht mehr wert als eine mündliche Zusage. Und was ihren elektrischen Rollstuhl angeht, der wird leider nun erst in der 29. Kalenderwoche gebaut. Drei Wochen später als bisher geplant. Sie übt sich weiter in Geduld.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert