Nochmal sechs

Man sollte sich eben nicht zu sicher sein. Wir haben auch gestern keine geeignete Bewerberin und keinen geeigneten Bewerber für die offene
Assistenzstelle gefunden. Wir hatten weitere insgesamt sechs Leute zum Vorstellungsgespräch eingeladen und es ist unglaublich: Es war niemand dabei, der unseren Vorstellungen entsprach. Und dabei halte ich unsere Vorstellungen gar nicht mal für so außergewöhnlich.

Ich erwähne dieses Mal vorab, dass diese Leute alle eine schriftliche
Bewerbung vorab zugeschickt haben und aufgrund dieser eine Vorauswahl stattgefunden hatte. Und ich erwähne auch, dass diese Leute nicht von der Arbeitsagentur geschickt wurden, sondern sich aus freien Stücken beworben hatten. Nummer 1 und Nummer 5 kamen über Vitamin B, die anderen
hatten sich auf ein Inserat gemeldet. Und ich erwähne auch nochmal, dass der Grund, weswegen wir die Bewerber jeweils abgelehnt haben, natürlich nicht der einzige Eindruck war, den wir von diesen Menschen gewonnen haben. Aber es war mitunter ein entscheidender Eindruck.

Die erste Bewerberin, Mitte 40, wollte keinen Lohn haben. Sie beziehe
eine teilweise Erwerbsminderungsrente und dürfe nur in bestimmtem Umfang hinzuverdienen. Dieser Hinzuverdienst sei durch eine Tätigkeit in
einem anderen Unternehmen bereits völlig ausgeschöpft. Daher bitte sie darum, keinen Lohn zu bekommen, sondern stattdessen einen Fahrtkostenersatz. Darauf sagte Frank: „Mal angenommen, wir würden uns darauf einlassen – dann bringt Ihnen dieser Fahrtkostenersatz doch nichts.“ – „Naja, ich würde mit dem Fahrrad kommen und abrechnen, dass ich vom Haus meiner Eltern mit dem Auto pendel. Die wohnen 100 Kilometer
entfernt, da kämen jedes Mal 60 Euro zusammen.“

Die zweite Bewerberin, Anfang 60, bekäme auch bereits irgendeine Rente, möchte etwas hinzuverdienen. Als sie sich auf den Stuhl setzte, war das Thema weitestgehend gegessen: Sie ging, beide Hände nach hinten ausgestreckt, rückwärts etwa 30 Zentimeter in die Hocke und ließ sich dann mit einem Schwung die verbliebenen 50 Zentimeter seufzend auf den Stuhl plumpsen. Sie erzählte, dass sie als Hauswirtschafterin erst in einem landwirtschaftlichen Betrieb, später in einem Internat gearbeitet hatte und mit 50 gekündigt hätte, um ihren kranken Vater zu pflegen. Nun
sei dieser vor zwei Jahren verstorben und nun wolle sie sich noch ein wenig beschäftigen. Das Geld brauche sie nicht, nur zu gehöre noch lange
nicht zum alten Eisen. Ihr Rücken sei kaputt – Frank fragte: „Aber wir suchen gerade jemanden, der auch körperliche Arbeiten verrichten kann. Wenn Sie einen kaputten Rücken haben, tun wir alle uns damit doch sicherlich keinen Gefallen, oder?“ – „Naja, wenn ich mal was körperliches tun soll, frage ich einfach meinen Mann, ob er kurz vorbei kommt.“ – „Ihren Mann?“ fragte Frank und ließ sie erzählen, wie sie sich
das vorstelle, denn manchmal käme diese körperliche Arbeit ja auch sehr
spontan auf sie zu. Unterdessen klebte er eine Haftnotiz in ihren Schnellhefter und malte darauf einen Pfeil, schob das Ding zu Sofie und mir rüber. Als ich das aufschlug, fiel mein Blick auf den Pfeil, der auf
den von ihr angegebenen Familienstand deutete. Dort stand „verwitwet“. Als sie fertig erzählt hatte, fragte Frank: „Und glauben Sie, dass Ihr Mann das für Sie tun würde?“ – „Ja, wir kennen uns nun schon seit 39 Jahren, mein Hans würde alles für mich tun.“ – Voller Stolz, mit feuchten Augen. Frank sagte: „Darf ich fragen, ob Sie Hobbys haben? Sport, Musik, Theater, eine Sammelleidenschaft zum Beispiel?“ – „Noch nicht. Ich spiele mit dem Gedanken, mich bei der Seniorengymnastik im Turnverein anzumelden, aber ich wollte erstmal abwarten, was hieraus wird. Nicht, dass das sich überschneidet.“ – Frank antwortete: „Sie haben jetzt 40 Jahre hart gearbeitet, meinen Sie nicht, Sie sollten erstmal ein wenig an sich denken? Gerade wenn Sie genug Geld haben, wollen Sie sich nicht auch mal etwas gönnen?“ – „Heißt das, ich bekomme die Stelle nicht?“ – „Leider nicht, nein. Aber wir bedanken uns sehr für
Ihr Interesse. Und bitte machen Sie das mit dem Sportverein.“ – „Vielleicht sollte ich das wirklich tun. Man kann dort pro Woche zwei Mal Gymnastik machen, einmal so und einmal nach Musik, und einmal schwimmen. Und einmal im Quartal haben die Ausflüge. An die Ostsee oder in die Lüneburger Heide.“ – „Das hört sich doch sehr gut an!“

Nummer 3. Ein Mann, Anfang 40, fing an zu erzählen, dass er ja ganz viele Ideen für seine Tätigkeit habe. „Ideen?“, fragte Sofie. Er antwortete: „Ja, Beschäftigung für die Leute. Schwimmen gehen, Shoppen für junge Mädchen, Bootsfahrt mit den Jungs oder im Herbst Drachen steigen lassen.“ – Ach, Sie suchen keinen Kindergärtner?! Nein, also, nein, solche Arbeiten, Wasserkiste tragen mit seinem Rücken, tut ihm leid.

Nummer 4. Noch ein Mann, Ende 30, Realschulabschluss, zwei Ausbildungen abgebrochen, nach eigenen Angaben bereits fünfmal vorbestraft wegen Betrug, Urkundenfälschung, Unterschlagung, Diebstahl. Er wolle ja gleich reinen Tisch machen, als wir erwähnten, dass er ein Führungszeugnis vorlegen müsse. Die letzte Straftat habe er 2009 begangen, seitdem führe er ein anständiges Leben.

Der fünfte Bewerber war ein Afrikaner, Anfang 30, der den Job nicht mehr haben wollte, als wir nicht darauf eingingen, dass die Bezahlung zu
schlecht sei.

Und die sechste Bewerberin war eine 35jährige Frau, die den Job fast bekommen hätte, hätte sie nicht in letzter Minute noch gefragt, ob sie ab August sechs bis acht Wochen frei haben könnte. Üblicherweise gebe es
ja in den ersten sechs Monaten keinen Urlaub. „Wollen Sie verreisen?“, fragte Frank. – „Nein, ich habe mich da für ein Projekt beworben, einen Sprach-Austausch in London. Ich hatte letztes Jahr eine Londonerin zwei Monate hier und nun ist sie eigentlich noch dran. Ich habe damals viel Geld investiert und zwischendurch habe ich ja wie gesagt meinen Job verloren und dieses Projekt…“ – „Verloren? Sie haben doch gesagt, geschrieben und gesagt, Sie hätten gekündigt? Was stimmt denn nun?“ – „Ja, äh, ähm, ja, also…“ – „Ja, was denn jetzt? Ich denke, ihr ehemaliger Arbeitgeber war so gemein und wollte ihnen nicht mal ein Zeugnis ausstellen, sondern nur eine Arbeitsbescheinigung. Und Sie wollten nicht klagen, weil Sie ein friedliebender Mensch sind. Haben Sie
gerade erzählt? Warum haben Sie diesen Job verloren?“ – „Ich kriege diesen Job hier sowieso nicht, oder?“ – „Das kommt auf Ihre nächste Antwort an. Ich rate zur Wahrheit.“ – „Ich will nicht zum Projekt, ich stehe auf der Warteliste für einen Entzug.“ – „Entzug?“ – „Ja, ich bekomme ein Medikament, das ich unter ärztlicher Aufsicht unter stationären Bedingungen langsam absetzen soll. Flunitrazepam, falls Ihnen das was sagt.“ – Frank guckte Sofie fragend an. Sofie sagte: „Flummis.“ – Frank kräuselte die Stirn. Sofie fügte hinzu: „Rohypnol. Und Sie waren vorher in einer Klinik beschäftigt und haben den Job verloren. Darf ich fragen, ob das mit Rohypnol zu tun hatte?“ – „Hatte es.“ – „Sie hatten dort Zugang zum Giftschrank.“ – Sie nickte und fing an zu weinen. Sie meinte: „Ich war dort teilweise nachts für 24 Leute alleine zuständig und bin am Ende nur noch gerannt, das hat aber auch nicht mehr gereicht. Irgendwann habe ich angefangen, das Zeug zu schlucken. Ich weiß auch nicht, warum ich so doof war. Ich wusste ja, dass es süchtig macht. Und dass ich mich irgendwann rechtfertigen muss, warum das ständig leer ist.“ – Am Ende hat sie selbst eingesehen, dass es besser ist, wenn sie erstmal die Therapie macht, dort ihr Chaos ordnet und sich dann den nächsten Schritt macht.

Nur dadurch haben wir noch immer niemanden und suchen weiter…

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