Grillwurst, Psychiatrie und Häsin

Eine jüngere Sportkollegin aus einer anderen Trainingsgruppe, ich glaube sie ist 13, mit angeborener Querschnittlähmung, ist seit zwei Monaten in stationärer Behandlung in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Einerseits gäbe es ein paar kleinere Probleme im familiären Bereich, erzählt sie, andererseits gäbe es massive Probleme mit sich selbst, ihrer Behinderung und ihren Mitschülern. Sie gehe auf ein Gymnasium in einer Kleinstadt im Hamburger Umland und kämpfe dort mit einem sehr modernen Problem.

Modern insofern, als dass ein altes Problem neu wieder weiter auftritt, nachdem man die Separation und Integration ad acta gelegt hat und nun die Inklusion unmoderiert sich selbst und ihrem eigenen Schicksal überlässt. Soll heißen: Gelebte Inklusion befreit eine Lehrkraft genauso wenig von seinen pädagogischen Aufgaben wie ein Fehlverhalten eines Schülers gegenüber nicht behinderten Mitschülern. Eigentlich.

Nur wenn da mal wieder (ja, mal wieder, denn bei mir war es nicht anders und ich höre diesen Vorwurf neben einigen wenigen positiven Beispielen von meinen Leuten, die noch zur Schule gehen, ständig) einer nicht richtig Bock hat oder endlos überfordert ist, schaut man eben weg und lässt die Behinderte alleine kämpfen.

Das Mädel, um das es hier geht, bringt eigentlich alle Voraussetzungen mit, um Jungs den Kopf zu verdrehen. Sie ist bildhübsch und attraktiv, ich beneide sie vor allem um ihre Haut, sie ist intelligent, sportlich, humorvoll, lieb … Ich mag sie sehr gerne. Und mir gefällt besonders ihr herzliches Lachen. Was aus der Reihe tanzt: Sie sitzt im Rollstuhl. Und wenn man noch was finden muss: Sie trägt eine feste Zahnspange.

Während ihres stationären Klinikaufenthalts nimmt sie, wenn auch eingeschränkt, weiter am Schulunterricht in ihrer bisherigen Klasse teil. Die Therapeuten sind sich einig, dass ein bloßer Wechsel in eine andere Klasse das Problem nicht abstellt. Vor zwei Wochen war ihre Klasse im Rahmen eines Ausflugs in der Klinik, um sich die Einrichtung anzuschauen und sich vor allem davon zu überzeugen, dass es sich um eine offene Therapie-Einrichtung mit Musik-, Gestaltungs-, Bewegungs- und Gesprächstherapie handelt und nicht um eine geschlossene Klapsmühle, die sich der eine oder andere unter dem Wort „Psychiatrie“ vorstellt.

Heute nun war eine Horde von knapp über 20 Schülerinnen und Schülern mittags zusammen mit dem Klassenlehrer am Elbdeich, um unsere Sportkollegin bei ihrem Sport zu besuchen, selbst mal das Rollstuhlfahren auszuprobieren und zusammen zu grillen. Das mit dem anschließenden Grillen war auf meinem Mist gewachsen, ich habe zehn Grillwurstpakete besorgt, Cathleen hat vier große Schüsseln Nudelsalat gemacht, Jana hat mehrere Fladenbrote besorgt, Tatjana ist mit einem kompletten Bus voller ausgemusterter Alltagsrollstühle (ein anderer Verein hat einen Fundus für Mobilitätstrainings und ähnliches) sowie einem Geschicklichkeitsparcour dorthin gegurkt und obwohl erst kaum jemand Zeit hatte, waren wir am Ende doch mit zwölf Sportlerinnen und Sportlern vor Ort. Mit Tatjana und drei Eltern von noch minderjährigen Sportlern (die Schüler kamen alle mit dem Bus) waren wir knapp über 40 Leute.

So waren wir einige Stunden damit beschäftigt, der Horde beizubringen, wie man Rollstuhl fährt, vorwärts, rückwärts, seitwärts, wie man auf zwei Rädern kippelt und so weiter. Und natürlich wusste ich innerhalb von fünf Minuten, wer die beiden größten Idioten waren, die da den Laden ständig aufmischten und sich dabei besonders cool vorkamen. Ein dummer Spruch nach dem nächsten, alle auf Kosten des Mädels und der Lehrer stand daneben und sagte: Nichts. Ich schaute mir das eine ganze Zeit lang an. Ihn interessierte das überhaupt nicht.

Kurz bevor die ersten Würstchen auf dem Grill lagen, kam meine Frage, wer denn Hunger habe und ein Essen haben möchte. 20+ Finger oben, inzwischen hatten sich schon einige Kinder dazu gesellt, deren Eltern am
gegenüber liegenden Badesee in der Sonne lagen. Egal. Okay: Essen gibt es nicht einfach so, Essen muss man sich „verdienen“. Und zwar an einem dort fest installierten Spiel- bzw. Trimmgerät. Zwischen vier Pfosten war waagerecht eine Leiter befestigt, an der man sich mit den Armen entlang hangeln konnte. 20 Sprossen. Wer zur anderen Seite kommt ohne unterwegs wie ein nasser Sack in den Sand zu purzeln, bekommt ein Würstchen, wer zwei will, muss auch noch wieder zurück.

Besondere Schwierigkeit: Die Beine sind an den Knien und an den Knöcheln mit jeweils einem Handtuch zusammengebunden. Okay, man sah, dass meine Sportkollegin die Übung aus dem Trainingsprogramm kannte. Sie legte vor, schaukelte an der ersten Sprosse zwei, drei Mal hin und her um Schwung zu holen und hangelte sich wie ein Affe hin und anschließend wieder zurück.

Wer es nicht schafft, musste sich beim Rennrolli anstellen und 400 Meter in der doppelten Zeit schaffen, die ihre behinderte Mitschülerin (56 Sekunden) vorgelegt hatte. Also in höchstens 112 Sekunden. Oder anders ausgedrückt: Während ihre Mitschülerin nach kurzer Beschleunigungsphase am Ende mit knapp über 30 km/h über die Piste schoss, sollten die anderen wenigstens durchschnittlich 13 km/h auf den 400 Metern hinbekommen.

Die meisten Jungs hatten natürlich eine große Klappe und merkten erst an den Sprossen, dass das vor allem mit zusammengebundenen Beinen sehr schwer ist. Tatjana half den Leuten und hob sie zu der Sprossen der Leiter hoch und sicherte sie, damit sie sich beim Absturz nichts brechen. Zwei recht athletisch aussehende Jungs schafften die 20 Sprossen im ersten Anlauf, gaben dann aber auf. Zurück wollte niemand. Alle anderen mussten sich beim Rennrolli anstellen. Der Lehrer stellte sich freiwillig gleich beim Rennrolli an.

Drei Mädels und vier weitere Jungs schafften eine Zeit zwischen 90 und 112 Sekunden, der Lehrer schaffte 113 und meinte, die Stoppuhr sei zu gut aufgezogen gewesen. Die beiden Sprücheklopfer schafften die 112 Sekunden nicht, aber wer eine große Klappe hat, braucht ja bekanntlich weder Muskeln noch Kondition noch Koordination.

Etliche wollten dann noch ein zweites Mal fahren und einige wollten unbedingt noch in den anderen Rollis weiter kippeln üben, ein paar Leute fragten dann irgendwann auch, ob von uns jemand zu den Paralympics fahren wird, an welchen Wettkämpfen wir teilnehmen, wieviel so ein Sportstuhl kostet, wie es zu einigen Behinderungen gekommen sei. Ich glaube, es hat bei ganz vielen Mitschülern ganz viel gebracht und war für unsere Sportkollegin eine lohnende Aktion. Sie hat sich hinterher etliche Male bei uns bedankt.

Ich war einigermaßen stolz auf uns, dass wir den Tag so gut über die Bühne bekommen haben, bis ich bei Facebook über ein Bild stolperte, was ein anderes Mädchen, 12 Jahre alt, ebenfalls Rollstuhlfahrerin aus Hamburg, heute frisch eingestellt hat. Auf dem Bild ist sie zu sehen, wie sie einen Zettel in der Hand hält und sich damit darüber beschwert, dass sie in der Schule massiv unter dem Druck hänselnder Mitschüler stünde. Ich beschränke das mal auf den Zettel:

Ich bezweifel zwar, dass das irgendwas bringt, außer dass die Idioten, die sie jetzt schon ärgern, noch ein Foto zum Verteilen haben. Aber schmunzeln musste ich dennoch – über die Häsin, die nicht häslich sein wollte. Und auch nicht ist.

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