Tralala und Hopsasa

Wenn man lange nichts von mir liest, und zwei Wochen sind lange, dann geht es mir entweder besonders gut oder besonders schlecht. Das schrieben mir zumindest einige besorgte Leser in den letzten Tagen. Ich kommentiere: Rischtisch!

Ursprünglich hatte ich mal vor, es mir mit ein paar Leuten besonders gut gehen zu lassen. Zum Abschluss unserer Sommersaison wollten wir mit einigen Sportkollegen ein Ferienhaus in Dänemark mieten und dort einige tolle Tage verbringen. Es war auch bereits alles gebucht, als jene Freundin, die das geplant hatte, einen Anruf bekam, das Haus sei wegen eines Wasserschadens nicht bewohnbar. Keine Ahnung, was da vor uns stattgefunden hat, aber wenn man zahlende Feriengäste wieder auslädt, muss es wohl mehr als nur eine Arschbombe in den Pool gewesen sein. Immerhin bekamen wir unbürokratisch unsere Anzahlung zurück. Jedoch: Um ein anderes barrierefreies Haus zu finden, das noch nicht belegt war, war es zu spät. Somit fiel diese Planung im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser.

Und als wäre das noch nicht blöd genug, habe ich mich auf eine Garten-Grillparty einiger Fußgänger-Triathleten einladen lassen, um mit jenem Esel
zusammen zu kommen, in den ich (bislang unbemerkt) verknallt bin. Ich wusste vorher, dass auch er eingeladen war, und hatte (nicht nur als Alibi) noch Marie mitgenommen. So saßen wir bei strömendem Regen verlassen unter vielen Leuten in einem riesigen Partyzelt – und mein Angebeteter hatte kurzfristig wegen einer Erkältung abgesagt. Die Party kippte schnell in Richtung Sauforgie, so dass Marie ziemlich bald ihre Mutter anrief und darum bat, dass sie uns wieder abholte. Sie hatte das vorher angeboten, damit wir beide was trinken können.

Als Maries Mutter durch den Regen gelaufen kam, waren wir gerade dabei, uns beim Gastgeberpaar zu verabschieden. In dem Moment verbesserte sich die Stimmung wieder: Jemand hatte eine Gitarre ausgepackt und gab einige lustige Lieder zum Besten. Sprang mit der Klampfe in der Hand herum und sang ausgerechnet mich mit „Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit?“ an. „Wir singen tralala und tanzen hopsasa“
– ja nee, is klar… – „Da wird die Sau geschlacht, da wird die Wurst gemacht (zum Grillfest im Garten)“ – und so weiter.

Und nachdem die üblichen drei Partykracher durch waren, ging es mit den Liedern unterhalb der Gürtellinie weiter. Maries Mutter sagte irgendwann: „Ich denke, ich soll euch abholen?“ – Das war das Signal, dass das Niveau tiefer nicht mehr fallen konnte. Man kündigte „Ficki Leandros“ an und sang ein Lied, bei dem es darum ging, dass sich der Mann mit den Lustkugeln seiner Frau vergnügte: „Günther gestehe, da steckt was im Hintern.“

Zunächst hatten wir überlegt, ob wir bei Marie noch einen DVD-Abend machen, da es mir aber nicht so gut ging (ich tippte zunächst auf das Grillfleisch), brachten die beiden mich nach Hause und ich packte mich mit Wärmflasche ins Bett. An Einschlafen war erstmal nicht zu denken, in
meinem Bauch war der Teufel los. Bauchschmerzen, dazu Darmgeräusche, die auf eine erbitterte Schlacht schließen ließen – für eine Querschnittlähmung völlig untypisch. Und übel war mir wie schon lange nicht mehr.

Nach einer Stunde im Bett rollte ich dann in Richtung Klo. Spucken musste ich nicht, dafür kam ich aber zwei Stunden lang nicht mehr von der Schüssel runter. So elendig ging es mir wirklich sehr lange nicht. Mal war mir heiß, dann kalt, übel sowieso die ganze Zeit, dann hatte ich
tierischen Durst, dann bekam ich wieder Bauchkrämpfe – und es war nicht
daran zu denken, das Klo mal für fünf Minuten zu verlassen. Wo kam das bloß alles her? Irgendwann fühlte ich mich nur noch erschöpft und plötzlich bekam ich so derben Schüttelfrost, dass ich gar nicht so schnell mit den Zähnen klappern konnte wie von mir offenbar erwartet wurde. Dann wurde mir schwindelig, alles begann sich zu drehen, ich musste mich festhalten und dachte mir nur noch: Telefonieren. Sofort. Wer weiß, wie lange es noch dauert, bis ich hier vom Klo kippe.

Zum Glück hatte ich mein Handy in der Kletttasche in meiner Rückenlehne. Ich rief Cathleen an: „Kannst du mal rüberkommen? Bin im Bad und mein Kreislauf spielt verrückt.“ – Sie brachte gleich eine Pflegeschwester von Maria mit, die, als sie anklopfte und ins Zimmer kam, noch rumwitzelte, ich solle doch nicht so heiß baden, dann aber erkannte, dass ich nicht ein paar Streicheleinheiten, sondern vielleicht
mal tatkräftige Hilfe bräuchte. Sie schnappte mich unter den Armen, zog
mich vom Klo, legte mich auf die Erde, die Füße auf den Klodeckel, holte eine Wolldecke, deckte mich zu und sagte: „Ich rufe einen Rettungswagen.“

Ich schnatterte vor mich hin und murmelte nur: „Keine Panik, das wird
gleich wieder besser.“ – Einzige Antwort von ihr: „Dann kann er ja leer
zurückfahren.“ – Ich hatte keine Lust, mit ihr zu diskutieren und ließ alles über mich ergehen. Kurz danach kamen zwei Sanitäter, fragten mich,
was los sei, ich meinte, ich hätte wohl was falsches gegessen und habe Kreislaufprobleme und dann nützte alles Reden nichts mehr, während der eine Blutdruck maß, holte der andere die Trage. Dann wurde ich auf die Trage gehoben, Marias Pflegeschwester meinte, es wäre vielleicht nicht verkehrt, mir eine Pampers anzuziehen, ich wurde, zittrig wie ich war, bis zum Hals zudeckt, festgezurrt und durch das Haus gerollt. Ein Sanitäter schob mich mit dieser Trage, der andere rollte meinen leeren Rolli hinter uns her.

Ich erinnere mich an eine schier endlose Fahrt über holprige Straßen und dass ich irgendwann in einem gefliesten Raum lag und aufgefordert wurde, auf eine andere Liege rüberzukrabbeln. Ich bekam eine Infusion, wurde gefragt, welcher Tag heute ist und lauter so Zeugs, wurde mindestens fünf Mal auf meine Querschnittlähmung angesprochen. Die Leute
redeten alle auffallend laut und deutlich mit mir. „Wer ist Ihr Betreuer in der Einrichtung?“ – Häh? – „Das hat keinen Sinn. Wir rufen da morgen früh mal an und klären das.“

Und dann wurde ich in ein Zimmer geschoben, wo eine Frau um die 40, Christiane hieß sie, das andere Bett belegte. Ich bräuchte viel Ruhe und
solle nicht aufstehen. Ich hätte wohl einen Magen-Darm-Virus und käme aus einer Behinderten-Einrichtung. Das weiß ich noch.

Das einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass diese andere Frau extrem viele Leberflecke in ihrem auffallend schmalen Gesicht hatte und ziemlich lange, dunkle Haare. Dass ich alles wie durch einen Tunnel sah.
Und Christiane mühsam mit einem Infusionsständer in der Hand schrittweise durch das Zimmer schlurfte. Sie belegte das zweite Bett in dem Zimmer und fragte andauernd, wie es mir gehe und klingelte auch mindestens einmal nach der Schwester für mich. Ich habe voll die Erinnerungslücken, weiß nur noch, dass ich mindestens einmal eine neue Pampers bekommen habe und untenrum gewaschen wurde.

Und diese Christiane fragte mich andauernd nach meiner Mutter oder meinem Vater. Und wo ich wohne. Wie die Einrichtung heißt. Und ich habe immer nur gesagt, dass ich jetzt keinen Besuch will. Und irgendwann war die Schwester drin und fragte, ob ich einen Kamillen- oder einen Fencheltee zur Nacht möchte. Ich schüttelte mit dem Kopf, dann wurde nochmal Blutdruck gemessen, ich bekam eine neue Infusion drangehängt, Licht aus, gute Nacht. Irgendwann klingelte mein Handy und Christiane kletterte aufgeregt aus dem Bett und begann, in den Kletttaschen meines Rollis zu wühlen. Ich dachte, sie nervt das Gebimmel und sagte zu ihr: „Sorry, wenn dich das geweckt hat. Mach aus den Mist, ich rufe da morgen
an.“

Sie gehorchte nicht, sondern rief einfach zurück. Ich wurde böse. Wer
weiß, wer da am Telefon war? Sie sagte, ich wäre ins Krankenhaus … eingeliefert worden, ob man die Eltern anrufen könnte, es müsste sich dringend jemand um mich kümmern, sie habe ein ganz schlechtes Gefühl. Die Nachtschicht sei überfordert. Der diensthabende Arzt hätte zu viel Geduld. Und sie habe eine große Bauchwunde und solle nicht rumlaufen. Sie habe schon versucht, ihren Mann zu erreichen, aber der habe Nachtdienst und habe noch nicht zurückgerufen. „Sie kommen selbst vorbei? Jetzt gleich? Okay. Sie liegt auf der Station … im Zimmer ….“

Ich wäre fast geplatzt. Wieso hörte sie nicht auf mich? Ich habe sie dann angepflaumt, dass ich das nicht okay finde, ich könne morgen immer noch Besuch empfangen, aber sie streichelte mir nur immer wieder über das Gesicht und sagte immer wieder: „Da kommt gleich jemand, es wird gleich besser. Versuch mal, dich zu beruhigen. Es dauert nicht mehr lange.“ – Das regte mich richtig auf.

Eine gewisse Zeit verging, dann wusste ich, mit wem sie da telefoniert hatte. Maries Eltern kamen beide durch die Tür. Ich sagte: „Hey, tut mir echt leid, aber meine Mitbewohnerin hat einfach so entschieden, euch anzurufen.“ – Woraufhin Christiane sagte: „Ich bin so froh, dass Sie da sind. Ich verstehe zwar nicht, was sie will, aber dass
es ihr nicht gut geht, das merkt man doch. Sie hat angeblich einen Magen-Darm-Virus. Ich habe das Gefühl, die Schwester nimmt das auf die leichte Schulter. Kennen Sie sie näher oder die Eltern?“

Maries Mutter machte das große Licht an, tastete meinen Puls, strich mir über die Stirn. „Hol mal die Schwester. Schnell!“, sagte sie zu ihrem Mann. Der flitzte los. Sie guckte Christiane an: „Gut, dass Sie angerufen haben.“ – Und sagte zu mir: „Wird gleich wieder gut, Mäuschen.
Bleib mal bitte ganz entspannt.“

Ich verstand nur Bahnhof. Was war hier los? Maries Mutter nahm mir die Decke weg, kniff mich an paar Stellen, guckte auf den Infusionsbeutel, machte eine ernste Miene und ich hatte das Gefühl, sie wäre böse auf mich. Immer, wenn ich versuchte, mit ihr zu reden, sagte sie nur, sie müsse sich jetzt konzentrieren und wir reden später. Sie verstellte mein Bett und als die Schwester endlich kam, schickte sie diese los, den Arzt holen. Ich habe sie ja schon mehrmals für ihre Ruhe und Besonnenheit bewundert, auch (und gerade) als sie sich um den Mann auf der Straße gekümmert hat, umso bedrohlicher wirkte ihr: „Sie flitzen bitte zackig los und holen den Arzt, ja?“

Es dauerte und dauerte, dann kam der Arzt um die Ecke gedüst, mit den
Worten: „Was ist denn hier los?“ – Maries Mutter sagte: „Das ist eine gute Frage. Ich bin die Hausärztin. Meine Patientin liegt hier blitzeblau und redet Stuss.“ – Der Arzt guckte die Schwester an, die zuckte mit den Schultern. Dann fummelte er an der Infusion rum und antwortete mit Blick auf die Schwester: „Die läuft viel zu langsam.“ – Die Schwester kam mit einen Wagen um die Ecke mit einem Gerät drauf, das
sie mir an den Finger klemmen wollte.

Maries Mutter sagte: „Herr Kollege, das Ding können Sie vergessen, die ist schon blau. Zweiter Arm, zweiter Zugang, einmal selbst bestimmen, einmal Labor cito … Machen Sie jetzt was oder ich?
Und piepen Sie endlich Ihren Hintergrund an!“ – „Hintergrund ist im Schockraum, da haben Sie mich gerade rausgeholt. Da ist die Hölle los.“ –
„Ja, hier auch! Sauerstoff dran, zweite Infusion mit Druck, haben Sie ein überwachtes Bett?“ – „Muss ich gucken.“ – „Ja, dann gucken Sie! Sind
das die Werte hier von vorhin? Die war doch vor zwei Stunden schon sauer! Sag mal, das muss doch mal einer merken!“

Ich bekam eine durchsichtige Sauerstoffmaske auf mein Gesicht gesetzt. Dann endlich stöpselten sie eine zweite Infusion dran, kletteten das Blutdruckgerät drum herum und pumpten es auf. Dadurch schoss diese Infusion in meinen rechten Arm. Ich merkte nur, dass er kalt wurde. Dieses Sauerstoffteil tat gut. Oder die Infusion. Oder beides. Nur wenige Momente später hatte ich das Gefühl, als würde sich in mir irgendetwas entfalten, was in mir zusammengefallen war. Oder als würde jemand völlig vertrocknete Blumenerde gießen. Maries Vater stand an der Wand mit völlig erschrockenem Gesicht und sah aus, als wenn er gleich zu heulen anfängt. Kurz danach kam eine weitere Ärztin ins Zimmer
und stellte sich vor.

Mir wurde schwindelig und das nächste, woran ich mich erinnere, waren
etliche Geräte um mich herum. Ich war in einen großen Raum mit bestimmt
fünf oder sechs Leuten drin. Maries Mutter war auch dabei. Anschließend
musste ich in eine Röhre, in einen Kernspintomografen, bekam Ohrschützer auf und wurde erstmal durchleuchtet. Das war aber alles unauffällig, eine Blutvergiftung oder eine Infektion im Körper, die man zunächst vermutet hatte, war es nicht. Trotzdem kam ich für drei Tage auf die Intensivstation. Am Ende stellte sich heraus, dass mehrere Leute, die auf der Party waren, ebenfalls massive Probleme hatten. Also war irgendein Salat, irgendein Fleisch oder sonstwas wohl verdorben. Nur
durch meine Querschnittlähmung und die damit verbundene relative Darmlähmung und den typischen Kreislaufregulationsstörungen, wäre das beinahe in die Hose gegangen. Inzwischen bin ich wieder zu Hause und es ist alles wieder okay.

Maries Mutter hat mir hinterher erzählt, dass die Laborwerte auf „einen akut lebensbedrohlichen Vorgang“ hingewiesen hätten. Sie meinte: Wäre die Christiane nicht gewesen oder hätte die Schwester nicht bald nach mir geschaut, hätte ich die Nacht mit ziemlicher Sicherheit nicht überlebt. Und warum hatte Christiane nicht auf mich gehört? Maries Mutter sagte: „Du hast nur noch Blödsinn geredet. Als wenn jemand im Schlaf vor sich hinbrabbelt: Nur wirres Zeug. Die haben vermutlich gedacht, du hast auch irgendwelche kognitiven Einschränkungen.“ – Das durfte doch nicht wahr sein. Für mich war das, was ich gesagt hatte, alles super logisch und korrekt. Da kann man mal sehen, was da los gewesen sein muss. Maries Mutter hatte mich auf dem Handy angerufen, nachdem Cathleen noch bei Marie angerufen und ihr von meinem Abtransport
ins Krankenhaus erzählt hatte.

Gegen den Arzt habe ich übrigens – wen wundert es – einen Strafantrag
gestellt. Ob dabei etwas rauskommt, bleibt abzuwarten, Maries Mutter meinte, dass das klinik-intern auf jeden Fall Konsequenzen hat. Und dass
ich auf dem Weg an die Daten von Christiane komme, um mich bei ihr noch
einmal angemessen bedanken zu können.

Jedenfalls scheint im Moment – zumindest körperlich – alles wieder gut zu sein. So ein bißchen Aufregung brauche ich von Zeit zu Zeit, meinte Cathleen. In einer Hinsicht geht es mir jedoch nicht so gut: Mein
Angebeteter hat mich im Krankenhaus nicht ein einziges Mal besucht. Und
mich offenbar nicht mal vermisst. Seufz.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert