Ich glaube, fast alle Menschen sind sich einig, dass es absolut abscheulich ist, wenn ein Täter (oder eine Täterin) bei einem gewaltsamen Übergriff die körperliche Unterlegenheit eines Opfers ausnutzt. Das fängt nicht bei den Leuten an, die einem am Boden liegenden Menschen gegen den Kopf treten und es hört gewiss nicht bei einem Fall auf, der ausgerechnet Maria widerfahren ist, die ja bereits in der Pflegeeinrichtung, in der sie lange Jahre wohnte, bevor sie zu uns kam, Erfahrungen mit gewalttätigen Mitarbeiterinnen machen musste.
Maria hat sich in den Monaten bei uns echt gemausert. Sie hat es nach
jahrelanger Isolation geschafft, sich ein eigenverantwortliches Leben aufzubauen. Hat Freunde, auch außerhalb unserer WG, gefunden, fährt selbständig mit ihrem E-Rolli überall hin, hilft Ronja und Maja (das sind die Physio- und die Ergotherapeutin, die bei uns im Haus arbeiten) bei ihren Abrechnungen. Sie sieht sehr viel vitaler aus, obwohl sie durch ihre fortschreitende Erkrankung immer schwächer wird. Sie sagt, sie ist glücklich.
Was sehr gut ist, ist, dass Maria völlig klar und orientiert ist. Sie
spricht zwar sehr langsam und verwaschen, das hat aber eine körperliche
und keine kognitive Ursache. Soll heißen: Sie ist im Köpfchen völlig fit.
Es gibt diese Momente, in denen mir ein eiskalter Schauer über den Rücken läuft und ich gleichzeitig merke, wie in meinem Bauch jemand einen großzügigen Adrenalin-Aufguss auf meinen Ofen schüttet. Es ist das
gleiche Gefühl, das ich auch habe, wenn ich mit ansehen muss, wie jemand beinahe vor ein Auto läuft – oder andere Dinge, die man nicht sehen will und vor denen man am liebsten schützend die Hände vor die Augen nehmen möchte.
Einer dieser Momente war zweifelsohne, als Maria am letzten Mittwoch zu mir kam und mir nach einem Fluch über das Wetter und der Frage, ob wir mal wieder gemeinsam einen Nudelauflauf kreieren könnten, nahezu beiläufig erklärte, sie sei gestern abend von ihrer Pflegekraft misshandelt worden. Ich dachte im ersten Moment, ich hätte sie falsch verstanden, aber was sollte man daran falsch verstehen? Sie konkretisierte, sie habe zwei Ohrfeigen bekommen, von einer Pflegerin, die bei uns seit rund vier Monaten in Teilzeit arbeitet. Alter: 53 Jahre. Es sei bisher das erste Mal gewesen. Aber, und das habe sie im Gefühl, nicht das letzte Mal.
Ich fragte Maria: „Wieso fühlst du das?“ – Maria sagte: „Die Selbstverständlichkeit, mit der sie mir welche gescheuert hat, das macht
sie nochmal. Sie war nicht erschrocken über sich selbst, sie war nicht in Rage, sie war einfach nur in einer Laune, in der man mir mal eine klatscht.“
Was wir anfangs als großes Problem vermuteten, nämlich das auch zu beweisen, löste sich überraschend schnell. Frank hatte sofort mit der Polizei telefoniert, und so saßen zu ihrem nächsten Dienstbeginn ein Mann und eine Frau in zivil im Büro. Ich war nicht dabei, Frank erzählte
aber hinterher, was da abgegangen ist.
So wie er erzählt, sei die Pflegerin reingekommen, wollte ihren Dienst beginnen, habe normal gegrüßt und sei dann mit den beiden Beamten, ich glaube sie kamen vom Landeskriminalamt, konfrontiert worden. Die beiden waren wohl richtig gut und haben gleich die Katze aus
dem Sack gelassen. Man ermittle gegen sie wegen Misshandlung Schutzbefohlener, ob sie dazu etwas sagen möchte. Woraufhin sie sofort Täterwissen preisgab, als sie nämlich erwähnte, dass ‚die‘ doch dummes Zeug erzähle. Der Beamte fragte dann nach: „Ach, ‚die‘ auch? Bisher sind
wir nur von einem ‚er‘ ausgegangen. Also schon zwei Fälle? Oder etwa noch mehr?“ – Tja, selten dumm gelaufen. Aus der eigentlich saudummen und billigen Nummer kam sie nicht mehr raus. Sie versuchte erst noch, sich rauszuwinden, indem sie meinte, ‚die‘ habe sie gesagt, weil sie überwiegend weibliche Menschen pflege, aber dann erzählte sie nach zwei Minuten, dass sie es nicht mehr leiden könnte, täglich mit Ausscheidungen konfrontiert zu werden.
Ich möchte das mit Blick auf das laufende Verfahren nicht vertiefen. Es ist ohnehin alles gesagt, was gesagt werden muss, um zu verstehen, dass es Menschen gibt, die ich nicht verstehen kann. Cathleen und ich haben Maria in der darauf folgenden Nacht mit zu uns in mein Bett genommen. Wobei „genommen“, wenn wir schonmal beim Thema sind, nicht heißt, dass sie nicht zugestimmt hätte. Sie lag zwischen uns in der Mitte, was vielleicht der eine oder andere für abgefahren hält, aber ich
bin der festen Überzeugung, dass es ihr sehr gut getan hat.
Die Mitarbeiterin haben wir direkt nach ihrem Geständnis fristlos entlassen und ihr Hausverbot erteilt. Und selbstverständlich hat Frank den Vorfall der Behörde gemeldet und beantragt, dass sie ein Berufsverbot bekommt. Frank sagt: „Ob ich überhaupt so einen Antrag stellen kann, weiß ich nicht. Vielleicht spricht das Gericht ohnehin ein
solches Berufsverbot aus. Ich möchte nur nicht versäumt haben, den Anlass zu setzen, aus dem jemand darüber nachdenkt.“
Wie wir später erfuhren, haben die Beamten sie mit auf die Dienststelle genommen, aber sie wurde wohl nach kurzer Zeit wieder nach Hause entlassen. Am Samstag haben wir, also alle Bewohner unserer WGs, uns getroffen und sehr ausführlich über das Thema gesprochen. Und ausdrücklich gesagt, dass es wichtig ist, jeden Fall sofort zu melden. Frank sagte: „Meinetwegen auch anonym. Sobald ich weiß, dass es hier im Haus so etwas gibt, werden wir tätig. Nur ich muss es wissen. Wenn niemand etwas sagt, möchten wir davon ausgehen können, dass alles gut läuft.“
Ich hätte das von der Frau, ehrlich gesagt, nicht erwartet. Zugetraut
… ich lege für niemanden die Hand ins Feuer. Sie hat davor, sagt Maria selbst, immer korrekt gearbeitet. Aber eben auch „nur“ korrekt, nicht herzlich. Sondern eher unnahbar und kalt. Wenn sie sich unterhalten hat,
dann nur sehr oberflächlich.
Auch die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden von Frank in
einer kurzfristig angesetzten großen Besprechungsrunde informiert. Ich habe am Rand gesessen und zugehört. Und hatte dabei eine junge Frau im Blick, die ebenfalls Maria betreut. Relativ klein und zierlich, ziemlich
frech, aber dennoch sehr lieb. Rastalocken. Nach dem zweiten Satz biss sie sich zuerst auf die Unterlippe, dann kullerten die ersten Tränen. Eine andere wurde kreidebleich und hielt sich mit den Händen verkrampft an der Sitzfläche des Stuhls fest, auf dem sie gerade saß. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass das alle mitgenommen hat. Und damit möchte ich sagen: Den jetzt verbliebenen traue ich es nicht zu.