Zum ersten Mal seit meinem ersten Blogbeitrag vor über vier Jahren ist mir heute etwas passiert, was mir irgendwann ja mal passieren musste. Worauf ich schon immer gewartet habe, dass es eines Tages passieren würde. Wovon ich aber immer wieder hoffe, dass es möglichst nicht passiert.
Ich rollte vom U-Bahnsteig in die U-Bahn, stellte mich rückwärts an eine Trennwand und machte die Bremsen von meinem Rollstuhl fest. Nahm mein Handy in die Hand und las einen Text für die Uni.
Plötzlich, wir waren noch nicht mal an der nächsten Station, hockte sich neben mir eine Frau hin und guckte mich mit großen Augen an. Wie ein Hund, der um ein Leckerli bettelt. Hunde würde man ja dann konsequent ignorieren, wenn es auch schwer fällt, aber diese Frau musst mir aufgefallen sein. Ich guckte sie an, dachte mir: „Kommst du klar?“ und fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“
Sie guckte mich an und wiederholte: „Kann ich Ihnen helfen?“
Ich kam mir reichlich veralbert vor und überlegte, ob ich mich nicht gleich woanders hinstellen sollte. Dann fing sie zu lachen an und sagte: „Ach, das gleiche haben Sie mich ja auch gerade gefragt. Wie lustig! Dabei ist es für sich genommen ja schon lustig, wenn eine Rollstuhlfahrerin jemandem, der nicht im Rollstuhl sitzt, Hilfe anbietet, oder? Wie nennt ihr solche Leute noch immer? ‚Fußgänger‘?“
„Ja, Fußgänger ist richtig. Oder manche sagen auch Läufer.“
„Ich lese manchmal einen Blog im Internet, wo eine Rollstuhlfahrerin aus ihrem Leben schreibt. Sie nennt die Leute in ihrer Umwelt auch alle ‚Fußgänger‘.“
Mein Blutdruck ging automatisch nach oben. Mir schwante etwas, obwoh es unter Garantie noch Dutzende andere Blogs gibt, in denen Rollstuhlfahrerinnen schreiben. Aber ich antwortete trotzdem möglichst lässig: „‚Fußgänger‘ ist halt eine geläufige Bezeichnung unter Rollstuhlfahrern.“ Und fragte dann: „Was für ein Blog ist das denn?“
„Ich weiß nicht, ob Sie den kennen, der nennt sich ‚Stinkesocke‘, un darin schreibt eine junge Frau, was sie so täglich erlebt. Aus Ihrer Sicht bestimmt völlig langweilig, weil Sie täglich ähnliche Sachen erleben, aber für mich als Unbeteiligte recht spannend, weil man gar nicht vermutet, was so alles dahinter steckt. Wo es überall Barrieren gibt, wieviele Leute große Berührungsängste haben und was so eine Schicksalsfügung doch alles anstellen kann. Diese Rollstuhlfahrerin in dem Blog hat erst mit ihrem Unfall überhaupt erst angefangen zu schreiben. Die ist aber noch viel jünger als sie, erst Anfang 20.“
„Achso. Okay. Das war bestimmt ein gutes Instrument für sie, um den Unfall zu verarbeiten.“
„Auf jeden Fall. Man kann sich da, wie gesagt, als Unbeteiligter gar nicht so reinversetzen. Hatten Sie auch einen Unfall oder sitzen Sie seit Geburt im Rollstuhl, wenn ich fragen darf?“
„Nein, ich hatte einen Verkehrsunfall.“ – „Mit dem Auto oder mit dem Motorrad? Man liest ja viel von jungen Menschen, die mit dem Motorrad stürzen.“ – „Nein, kein Motorradunfall.“
„Diese Bloggerin ist auf dem Schulweg angefahren worden. Einerseits kann sie einem ja Leid tun, sie hat ihr ganzes Leben noch vor sich und wird in so frühen Jahren schon so schwer geprüft.“
„Und andererseits?“, fragte ich nach.
„Andererseits will sie kein Mitleid. Was mir sehr schwer fällt, was ich aber auch gut verstehen kann.“
„Ich glaube, sie will nur nicht ’nur Mitleid‘, sondern sie will, das Sie zwar mitfühlen, aber gleichzeitig sie nicht nur als Rollstuhlfahrerin oder als behinderte junge Frau wahrnehmen. Sondern auch als Mensch.“
„Damit mögen Sie richtig liegen, und ich finde den Blog auch sehr lesenswert und dahinter steckt bestimmt auch eine sehr interessante junge Frau, aber trotzdem bleibt sie ein behinderter Mensch. Sie wird ihr Leben lang gezeichnet sein, die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen au sich ziehen, von der Hilfe anderer abhängig sein und kein angenehmes Leben führen, auch wenn sie sich das noch so schön redet. Haben Sie Kinder? Oder wenigstens einen Mann?“
„Derzeit weder noch.“, antwortete ich und hatte an dieser Stelle bereits beschlossen, sie nicht aufzuklären.
„Aber Sie wollen mal Kinder haben?“, fragte sie.
„Ich weiß es noch nicht.“
„Wissen Sie schon, ob Ihre Kinder auch behindert sein werden?“
„Nein, das weiß ich nicht, das weiß auch niemand. Die Schäden, die ich beim Unfall davon getragen habe, werden sich jedenfalls nicht auf mein Kind vererben, falls Sie das meinten.“
„Ja, das meinte ich. Das ist ja schonmal viel wert. Haben die Ärzte Ihnen das so gesagt?“
„Ja. Sie entschuldigen bitte, dass ich noch ein wenig lesen muss. Ic muss mich vorbereiten und wollte die Zeit in der Bahn dafür nutzen. Ic wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
„Ja, ich muss ohnehin die nächste Station umsteigen. Es war sehr nett, sich mit Ihnen zu unterhalten.“
Sollte ich diese Frau noch einmal treffen, wird das Gespräch mit Sicherheit anders verlaufen. Nicht zuletzt, weil man sich am besten reflektieren kann, wenn man von jemandem einen Spiegel vorgehalten bekommt.
Sprach Jule und ging in sich.