Es waren mal wieder ein paar turbulente Tage, ein weiteres Wochenend-Trainingslager liegt hinter uns, von dem es ganz viel zu erzählen gäbe, von dem ich auch gerne erzählen würde; nur muss ich aus zeitlichen Gründen mal wieder Prioritäten setzen. Und bevor ich aufschreibe, dass man zwar Vollverpflegung vor Ort hatte, allerdings di Getränke vergessen und veranstalterseitig kurzfristig dann nur noch Limonaden organisieren konnte, schreibe ich lieber über etwas schönes. Oder zumindest über den schönen Teil eines weiteren unschönen Erlebnisses.
Gestern war ich bei Maries Familie zum Abendessen eingeladen. Währen Marie noch duschen wollte, fragte mich ihre Mutter, ob ich kurz mitkommen möchte, sie wollte noch mehrere Teile in einem Supermarkt einkaufen. Bevor ich da 20 Minuten rumsitze, dachte ich mir, könnte ich mich nützlich machen und fuhr kurzerhand mit. Der Supermarkt war nur fünf Minuten zu Fuß entfernt und es handelte sich um einen einzelnen Händler, einen größeren Familienbetrieb, der einer Einkaufsgenossenschaft angeschlossen ist. Die Tochter des Inhabers hat das Down-Syndrom und arbeitet in dem Geschäft mit. Normalerweise kaufe ich dort nicht ein, allerdings bin ich mit Marie schon ein paar Mal dor gewesen, daher war mir das bekannt. Diese Mitarbeiterin läuft in einem weißen Kittel durch die Gegend und ist in erster Linie damit beschäftigt, achtlos in die Regale gefeuerte oder an der Kasse liegen gebliebene Artikel wieder an ihren Platz zu bringen. Neulich hat sie di Tiefkühltruhe aufgefüllt, ein anderes Mal ging sie mit einer alten Fra durch den Laden und schob den Einkaufswagen dieser Frau.
Gestern nun stand ich an der Kasse an, Maries Mutter hatte noch ein Teil vergessen und ging zu den Joghurts zurück, und diese Frau stand hinter dem Kassentisch neben der eigentlichen Kassiererin und half eine alten Frau, ihre Einkäufe in dem Korb ihres Gehwagens und einem mitgebrachten Rucksack zu verstauen. Plötzlich, und ich will betonen, dass es Menschen gibt, die einen stärkeren Idiotenmagneten haben als ich, beginnt der direkt dahinter stehende Mann zu motzen: „Hätte ich da gewusst, hätte ich die andere Kasse genommen.“
Niemand reagiert. Schließlich gibt es Leute, die motzen über alles. Als er dann nach einigen Momenten allerdings den nächsten Satz ausspricht, passiert etwas, was ich vorher noch nie so erlebt hatte. Er sagt: „Alter, wer hat der bloß den Job gegeben? Noch langsamer und die schläft ein.“ – Dabei ist sie eigentlich gar nicht langsam. Zwischen de Motzkopf und mir steht noch eine ältere Frau, geschätzt weit über 70, hat ein paar Teile auf das Laufband gestellt. Sie antwortet, und darübe war ich echt überrascht: „Das ist nicht fair! Diese Frau ist ein Mensc wie du und ich. Sie hat die gleichen Rechte wie du und ich, auch das Recht zu arbeiten und Geld zu verdienen.“
Im selben Moment kommt Maries Mutter dazu, fasst mir von hinten auf die Schulter. Der Mann antwortet der alten Dame: „Jaja, es gibt Werkstätten für Behinderte, da wäre sie doch wohl besser aufgehoben.“
Ich will was sagen, bringe aber keinen Ton raus. Die Frau mit Down-Syndrom reagiert überhaupt nicht, packt weiter ein, seufzt eher genervt als betroffen. In dem Moment sagt Maries Mutter: „Inzwischen is unsere Gesellschaft so weit, dass sie nicht mehr die Menschen mit Behinderungen ausgrenzt, sondern Leute wie Sie.“ – Die ältere Frau dreh sich um und sagt zu Maries Mutter: „Und das ist gut so.“ – Der Mann holt Luft, aber Maries Mutter redet weiter: „Ich hoffe, dass der da obe sich an Sie erinnert, wenn Sie eines Tages an seiner Tür klopfen.“
An der anderen Kasse dreht sich ein Mann um die 30 um, sagt: „Du Arsch kannst von Glück reden, dass das nicht meine Tochter ist, sonst würde ich dich jetzt aus dem Laden prügeln.“ Und zu der Frau: „Lassen Sie sich von so einem bloß nicht den Tag verderben.“
Woraufhin die Frau antwortet: „Ach was, die meisten Menschen sind nett zu mir. Das sind nur ganz wenige, und die machen das, weil ich das Down-Syndrom habe. Die Menschen suchen immer einen Grund. Deswegen sitz ich auch nicht an der Kasse, da meckern auch immer welche, obwohl man nichts dafür kann, wenn mal die Kasse nicht geht.“
Der eklige Typ packte wortlos seinen Einkauf in die Tasche. Die Kassiererin hat nicht ein Wort dazu gesagt. Ich weiß noch immer nicht, warum, aber mich erschüttern solche Vorfälle nach wie vor und immer wieder. Es passt einfach nicht in meine Vorstellungen, dass Menschen so arschig und gemein sein können. Dass allerdings ausgerechnet eine weit über 70jährige Frau so argumentiert, habe ich noch nicht oft erlebt und das hat mich auch sehr gerührt. Leider habe ich bislang eher öfter erlebt, dass ältere Menschen große Berührungsängste haben, aus den scho oft diskutierten Gründen. Umso schöner fand ich diese Reaktion.