Nebelschwaden, Dunkelheit. Stille. Eine Bundesstraße am Stadtrand von Hamburg. Es ist Nacht, kurz nach zwei Uhr. Ein Auto liegt im Graben oder vielmehr in einem dicken Strauchwerk, die Fahrertür ist offen, die Airbags auch, ein junger Mann liegt regungslos mit dem Kopf auf dem Gras, die Beine hängen noch halb im Fahrzeug. Der Motor ist zwar aus, aber die Rücklichter leuchten. Der Beginn eines Horrorfilms? Oder nur eine langweilige Episode einer Low-Budget-Serie im privaten Fernsehen und gleich kommt erstmal Werbung?
Weder noch. Realität. Aber eine andere Frage ist noch nicht beantwortet: Ist da wirklich ein Unfall passiert oder ist das eine gestellte Szene und gleich kommen irgendwelche Chaoten aus den Hecken und überfallen uns, nehmen uns das Auto, unsere Handys, unser Geld weg, vergewaltigen uns vielleicht noch?
Am Auto ist ein Ratzeburger Kennzeichen befestigt, im Innenraum ist all möglicher Krempel durch die Gegend geflogen. Wenn es eine Falle ist ist sie wirklich fies. Marie sitzt neben mir, ich wähle über die Freisprecheinrichtung die 110. Nicht die 112, denn ich will unbedingt die Polizei dran haben. Es meldet sich die Notrufzentrale einer von Hamburg rund 25 Kilometer entfernten niedersächsischen Kleinstadt. Ich bin so aufgeregt, dass ich kaum ein Wort rausbringe. Ich erzähle dem Beamten, was ich sehe und dass ich mir nicht sicher bin, ob das möglicherweise eine Falle ist. Irgendwas ist mir nicht geheuer, ich kan aber nicht sagen, was es ist. Ich erzähle ihm, dass wir beide Rollstuhlfahrer sind. Er möchte meine Personalien und das Kennzeichen des Fahrzeugs, mit dem wir unterwegs sind. Er sagt, Hilfe sei zu uns unterwegs. Es sei unsere freie Entscheidung, ob wir uns zutrauen, dort zu helfen. Er biete uns an, dass wir die Telefonleitung bestehen lassen und das Handy mit rausnehmen. So könne er mithören. Auf jeden Fall sollten wir vor Ort bleiben, notfalls im verschlossenen Fahrzeug.
Wir entscheiden uns, auszusteigen. Versuchen, mit den Rollstühlen un einen Weg durch die Sträucher zu bahnen. Nach einigen Minuten sind wir zu dem Verletzten durchgedrungen. Er hat die Augen zu, atmet aber und sein Herz rast. Ist der bewusstlos? Seine Augenlider flattern. Ich spreche ihn an, keine Reaktion. Marie setzt einen Schmerzreiz, er erschrickt, öffnet die Augen aber trotzdem nicht. Wir gucken uns an, irgendwas ist hier wirklich nicht normal. Wir können den Mann unmöglich aus dem Auto heben, da wir mit den Rollstühlen nicht mal sicheren Stand haben. Also können wir nur auf die Rettungskräfte warten.
Marie und ich schaukeln uns wieder auf die Fahrbahn zurück, ich nehm mein Handy vom Schoß, berichte dem Beamten auf der andern Seite von meinem Beobachtungen. Marie baut das Warndreieck zusammen und rollt damit los. Aus der anderen Richtung kommt ein weißer Passat Kombi älteren Baujahres, Hamburger Kennzeichen. Drei Männer steigen aus, alle haben einen ausländischen Akzent. „Was ist mit dem?“, fragt mich einer. Und bittet seinen Kumpel, einen Rettungswagen zu rufen. Ich antworte, dass ich das bereits getan habe. „Wenn der atmet, lassen wir den so liegen, nicht dass wir noch was kaputt machen“, sagt ein anderer. Inzwischen sind 15 Minuten vergangen.
Es dauert noch weitere 10 Minuten, bis als allererstes die Polizei eintrifft. 25 Minuten nach dem Notruf. Die Beamten kümmern sich um den Typen, ziehen ihn aus dem Fahrzeug, legen ihn in stabile Seitenlage. Dann, innerhalb der nächsten fünf Minuten, treffen zwei weitere Streifenwagen und der Rettungsdienst ein. Wie wir zwischenzeitlich erfahren, stecke die örtliche Polizei in einem anderen Einsatz fest, so dass die Kollegen aus einem anderen Landkreis anrücken mussten. Laut Onlinekarte sind sie fast 50 Kilometer zum Einsatzort unterwegs gewesen Wären wir überfallen worden, wären die Täter über alle Berge.
Plötzlich war auch ein Typ mit einem Fotoapparat vor Ort, machte jed Menge Fotos von dem Unfallauto, dann wollte er mit uns sprechen. Er se Reporter einer im Landkreis erscheinenden Tageszeitung und fand es faszinierend, dass wir als Rollstuhlfahrerinnen erste Hilfe geleistet haben. Und dass wir Auto fahren. Hätten wir ihm erzählt, dass wir obendrein noch Medizin studieren, hätte er vermutlich mehrere Flicflacs auf der nächtlichen Straße gemacht, obwohl wir aus unserem Medizinstudium nun so gar nichts anwenden konnten, weil wir bisher überwiegend theoretische Kenntnisse vermittelt bekommen haben. Wir habe also jedes Interview dankend abgelehnt und danach auch vergeblich nach einem neutralen Artikel in der Zeitung gesucht.
Gestern nun, rund 14 Tage später, rief mich die Polizei an: Es gebe Ungereimtheiten zum Unfallhergang und man wolle mir einen Anhörungsboge zuschicken. Ich habe allerdings gleich gesagt, dass ich nicht viel meh sagen kann als ohnehin schon bekannt ist. So wie es aussieht, wird woh wegen Versicherungsbetrug ermittelt und der Fahrer steht im Verdacht, das Auto absichtlich in die Hecke gelenkt zu haben. Erster Kommentar vo Maries Vater: „Was erlebt ihr denn wieder für Sachen?!“ – Tja, wie war das mit dem Magneten?