Nudelernte, Leierblase, Praktikum

Ich muss zurzeit … nein, ich darf zurzeit mitlaufen. Ich will nicht „mitrollen“ sagen, weil erstens fast alle anderen auch mitlaufen und meine Anleiterin auch nicht rollt. Und „hinterherrollen“ stimmt auch nicht ganz, weil sie mich meistens vorturnen, also vorrollen lässt. Die Rede ist von praktischen Eindrücken, die man neuerdings bereits im vorklinischen Teil des Studiums bekommen soll.

Meine Gruppe besteht nur aus mir und einer Kommilitonin mit einem psychischen Knacks, wie sie selbst von sich sagt. Und eben der Anleiterin. Mitte 40, Fachärztin für Innere, sehr nett, sehr lustig, sehr entspannt. Bei Marie ist man auch zu dritt, ansonsten mindestens z fünft. Zitat des Dozenten: „Gerade bei den Rollstuhlfahrern machen wir die Gruppen nicht zu groß, sonst sind einige Patienten damit überfordert.“ – Aha. Wie gut, wenn man nicht die erste Studentin im Rollstuhl ist.

Eigentlich soll dieser praktische Einschub den Schwerpunkt „innere Organe“ haben. Die Betonung liegt auf „eigentlich“, denn uneigentlich lerne ich zur Zeit eher, dass meine Vorstellungen von unserem Verwaltungsstaat zu eng gefasst waren. Und meine Vorstellungen davon, was für einen Unsinn manche Leute glauben. Und nicht zuletzt meine Erwartungen, wieviel Medikamente einige Leute nehmen.

Ich könnte jetzt bereits ein Dutzend Anekdoten erzählen, ich beschränke mich mal auf einen knackigen Dialog: „Sie haben hier ‚Tüte Schipps‘ geschrieben. Sie essen jeden Tag eine Tüte Chips oder jede Woche?“ – „Jeden Tag. Kartoffelchips sind gesund, schließlich haben meine Eltern den Krieg auch mit Kartoffeln überlebt.“ – „Mit Kartoffeln ja, aber da gab es die noch nicht geröstet und gesalzen aus Gebrüder Snackworlds Knistertüte.“ – „Salzkartoffeln, Bratkartoffeln, was meinen Sie, was meine Mutter früher alles aus Kartoffeln gezaubert hat?! Und sie war nie krank, nur mein Vater hatte offene Tuberkulose. Aber ich will Ihnen was sagen, er hatte bei der Armee auch immer nur diesen Fertigfraß bekommen. Als er nachher wieder Kartoffeln hatte, ging es ih lange Zeit gut. Keine Kartoffeln, mehr Nudeln, das ist alles so ein neumodischer Kram und kommt aus Italien. Nur da wächst ja auch nichts anderes.“

Falls ich also mal nach Italien komme, hat mir meine Anleiterin beim Mittagessen in der Kantine empfohlen, werde ich unbedingt in die Gegend fahren, wo man an der kultigen Nudelernte teilnehmen kann. Ich habe nur noch nicht nachgeschlagen, ob die Dinger nur am Baum wachsen (da komme ich ja schlecht dran) oder auch an Sträuchern. Der Mirabella-coli-Baum wird ja übrigens komplett verwertet, das ist eine Kreuzung aus ursprünglich zwei Pflanzen. Erst kommen die Nudeln ab und werden auf eine Länge gesägt, dann werden die eckigen Mirabellen gepflückt und zu Tomatenmark eingekocht, aus den Blättern häckseln sie die Würzmischung und aus dem Holzschnitt (Coli) den Parmesan-Ersatz. Der Mira-Bella-Coli-Baum ist ein Meisterwerk der modernen Argrarkultur und steht in Italien tausendfach auf den Feldern. Nur die mit geeichtem Füllstrich versehenen Multifunktions-Alubeutel und die bunten Pappkartons müssen noch industriell gefertigt werden.

Hey, ich habe nichts gegen Italien. Falls das nach dem letzten Absat klargestellt werden musste. Aber vermutlich habe ich mir jetzt jede Chance verspielt, eines Tages mal die vier großen Buchstaben jenes Konzerns auf meinem Trikot zu haben, der den gleichen Namen hat wie ein Himmelskörper (nein, nicht der Mond) und neben einem halbfertigen Nudelgericht auch noch die leckereren mit Zucker umhüllten bunten Schokolinsen und das Lieblingsfutter für die Katze einer Sportkollegin herstellt. Dabei würde ich wetten, mindestens zwei Lesende (!) meines Online-Tagebuches haben beim nächsten Einkauf mal wieder etwas im Wagen was sie schon lange nicht mehr gegessen haben.

Genug Unsinn gemacht, zurück zu meinen praktischen Eindrücken. Wie schon erwähnt, bin ich ehrlich erstaunt darüber, wievielen Menschen ich in dieser halben Woche bisher begegnet bin, die zum Teil Medikamente wi Schokolinsen in sich reinwerfen. Ich will es nicht ins Lächerliche ziehen, wenn jemand sehr krank ist und Medikamente braucht. Aber den Vogel hat eine Frau abgeschossen, die etwas gegen zu hohen und etwas gegen zu niedrigen Zucker regelmäßig nimmt. Also Tabletten, die die Bauchspeicheldrüse anregen, mehr Insulin zu produzieren, und Glukosebeutelchen, die ihr für den Notfall (also eine Unterzuckerung) empfohlen worden waren. Davon nahm sie regelmäßig bis zu zehn am Tag, der Apotheker hätte ihr auf die Frage der Maximaldosis gesagt, sie könn auch zehn am Tag nehmen, das mache nichts. Unter Garantie in irgendeinem Kontext, aber den hat die arme Frau wohl ebensowenig mitbekommen wie den eigentlichen Sinn der Übung. Und überhaupt: Sie nimmt täglich acht Tabletten eines bestimmten Kortisons in Daueranwendung gegen Schulterschmerzen, vier morgens und vier abends. Jede Tablette hat fünf Milligramm, jede nimmt sie mit einem großen Glas Wasser. Hat der Arzt gesagt. Mit dem Ergebnis, dass sie danach zehn mal aufs Klo müsste, wie sie mir dann erklärte, und deshalb habe sie eine „Leierblase“, die mindestens noch eine halbe Minute nachträufelt. Statt 4 x 5 mg könnte sie übrigens auch 1 x 20 mg nehmen. Minus drei Gläser Wasser. Aber das nur so nebenbei, man soll ja viel trinken.

Meine Kommilitonin und ich waren bei der Aufnahmeuntersuchung dabei, mussten alles mitschreiben, was unsere Anleiterin in der Akte notierte. Hinterher hat sie das mit uns besprochen, das war schon sehr interessan und in vielen Bereichen nochmal völlig anders als das, was wir bisher gelernt haben, in einigen Bereichen aber durchaus ein Aha-Erlebnis. Heute nun waren drei Neuaufnahmen geplant – und eine davon war meine. Ein Mann, um die 70, ein ehemaliger Lehrer, wie er mir erzählte, sollte wegen Alterszucker behandelt werden, vermutlich muss er sich künftig regelmäßig Spritzen setzen, weil er mit verschiedenen Tabletten nicht den Erfolg erzielt hatte, den er sich versprochen hatte. Mein Job war es, die gesamte Krankengeschichte zu erfragen, also ihn zu interviewen, was er von Fuß bis Kopf schon alles gehabt hat, was noch besteht, welch Medikamente er nimmt, was er wiegt, ob er raucht, wieviel Sport er macht – bevor dann meine Anleiterin ihn untersucht hat. Beziehungsweise Blutdruck und Blutzucker und einen anderen Wert, den man aus dem Blutstropfen aus dem Ohrläppchen bestimmen kann, musste ich auch noch selbst messen. Meine Anleiterin war natürlich die ganze Zeit dabei, hat aber nicht einen Pieps gesagt. Nur am Anfang gefragt, ob er einverstanden ist, wenn eine Studentin den ersten Teil des Aufnahmegesprächs macht. Daraufhin meinte er: „Oh ja, sehr gerne, ich freue mich, wenn ich etwas für die Wissenschaft tun kann. Ich bin ja kein Notfall und habe alle Zeit der Welt.“

Es ist eigentlich sehr gut gelaufen, von meiner Aufregung mal abgesehen. Ich habe natürlich erst zu wenig und dann zu viel von der durchblutungsfördernden Creme genommen, so dass ich den Schweinkram nac dem Einreiben des Ohrläppchens auch am Handschuh hatte und erstmal den Handschuh wechseln musste, um nicht alles vollzuschmieren, dann ist mir noch das Pflaster am Handschuh festgeklebt und dann habe ich beim Blutdruckmessen vergessen, nochmal alle Luft aus der Mannschette zu drücken, bevor ich sie anlege. Obwohl sie eigentlich leer war, soll man das trotzdem nochmal machen. Ich weiß das eigentlich auch, aber … naja. Typischer Anfängerfehler. Aber ich habe sie richtig angelegt und hatte dann auch auf Anhieb dieselben Werte wie meine Anleiterin. Die schien recht zufrieden mit mir zu sein.

Und eine letzte Sache noch: Wir sind auf dem Weg zurück ins Dienstzimmer, als die Tür vom Besucherklo aufgeht und ein Patient rauskommt. Er spricht mich einfach so an: „Oh, gibt es in diesem Haus neuerdings auch Ärzte im Rollstuhl? Oder studieren Sie noch? Sie sehen noch sehr jung aus.“ – Ich antworte brav: „Vielen Dank. Ich studiere noch.“ – „Da gibt es doch aber geeignetere Berufe für Sie. Warum wollen Sie denn mit Ihrer Behinderung ausgerechnet Arzt werden?“ – Bevor ich ein Wort sagen konnte, fauchte meine Anleiterin dazwischen: „Weil sie e kann. Und wenn ich Sie noch einmal beim Rauchen auf dem Klo erwische, können Sie Ihre Sachen packen.“ – Ich hatte Mühe, mir ein schadenfrohes Grinsen zu verkneifen.

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