Wenn ich fast fünf Jahre lang Tagebuch schreibe und das auch noch online, dann wird es in dieser weiten Welt Menschen geben, die mich besser kennen als ich. Sagte mir kürzlich ein Kumpel aus dem Sportverein. Ob er damit richtig liegt, weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass ich in den fünf Jahren nach meinem Unfall über vieles nachgedacht habe und auch viele Verhaltensweisen, Werte und Einstellungen überdacht, zum Teil auch angepasst und verändert habe.
Nicht, weil ich das dringende Bedürfnis hatte, mal durchzulüften. Auch nicht, weil ich, frei nach den „Ärzten“, eine Attitüde in mir kochen sah, die, wiederum frei nach „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry, den Blick meines Herzens auf das Wesentliche eintrübte. Sondern weil ich als kleine unbedarfte Stinkesocke ungefragt und plötzlich mit Dingen konfrontiert wurde, die meine Kinder- und Teenie-Augen zuvor nie bewusst wahrgenommen und die auch mein Herz noch nie gesehen hatten.
In der Eile, in der ich selbständig werden musste, kam ich mir anfangs oft vor wie eine Einsiedlerin. Wie jemand, der vom Himmel in eine neue Welt geplumpst ist, in der die Uhren anders ticken. Der mit alledem, was sonst Halt gibt, sei es Familie, sei es Freunde, sei es die Dazugehörigkeit zur Gesellschaft, nichts anfangen konnte. Die sich von dem einen oder anderen distanzieren musste und distanzierte. Der zweite Schritt, nämlich zu erkennen, dass ich keine Einsiedlerin bin, die sich nun einsam in eine fremde Welt etablieren muss, sondern allenfalls ein wenig anders, wie viele andere Menschen auch, war vielleicht deshalb etwas schwieriger, weil ich mich erstmal mit meiner neuen Fortbewegungsart anfreunden musste. Einige Radumdrehungen später habe ich erfahren, dass ich in einer Gesellschaft lebe, die gerade versteht, dass das „fahrende Volk“, genauso wie alle anderen, die irgendwie anders sind, dazu gehört. Dass jeder Mensch, der irgendwie anders ist, die Gesellschaft bereichern kann. Und dass jeder Mensch tatsächlich irgendwie anders ist.
In Metaphern zu sprechen oder zu schreiben, kann insbesondere bei großen Problemen sehr hilfreich sein. Finde ich. Findet meine Psychologin auch. Solange der Bezug zum Wesentlichen nicht völlig verloren geht und sich am Ende der Kreis wieder schließt. Selbst Melvin Udall, der liebenswürdige Neurotiker aus „As Good As It Gets“, der sich kürzlich anlässlich eines Videoabends in unserem Gruppenraum an eine weiße Wand werfen ließ, stimmte dem indirekt zu, als er sich mit einem provozierenden „Ich finde, Leute, die in Metaphern sprechen, können mir den Schritt shampoonieren“ seinen Tisch in seinem Lieblingsrestaurant zurück eroberte. Und wer könnte das besser wissen als er?!
Wobei ich nach vier langen einleitenden Absätzen nun endlich beim Thema wäre. Nein, nicht die Metaphern. Ich weiß, ich bin gerade ein kleines Schweinchen.
Sex.
Ich habe, angesprochen auf das Thema „Sex“ immer geantwortet, dass Sex für mich nur mit einem Partner in Frage kommt. Dass es etwas ganz besonderes ist. Dass ich mir Sex zwar außerhalb einer Ehe vorstellen kann – ganz so brav und konservativ bin ich dann doch nicht. Aber eben nicht außerhalb einer festen Beziehung – so brav und konservativ bin ich dann doch. Glaubte ich zumindest.
Ich denke in den letzten Wochen oft und viel über dieses mein Attitüdchen nach, und darüber, ob es möglicherweise zu schnell entstanden ist. In eben dieser erwähnten Phase nach meinem Unfall. Fakt ist, dass ich gerne eine Beziehung hätte. Zu einem Prinzen. Aber leider sind zur Zeit irgendwie keine Prinzen auf dem Markt. Zumindest keine, die Stinkesocken suchen. Fakt ist auch, dass ich gerne Sex hätte. Aber leider verbietet mir eben dieses mein Attitüdchen, mich überhaupt darauf einzulassen oder sogar aktiv zu werben. Denn Fakt ist drittens, es gäb schon den einen oder anderen Typen, den ich körperlich absolut lecker finde und charmant und kuschelig – den ich auch mal einen Tag lang oder eine Woche lang gut um mich haben könnte; mit dem ich mir aber keine dauerhafte Beziehung vorstellen kann. Nur würde ich mich dabei wohl zwischen Freundschaft oder F…ögeln entscheiden müssen, denn beides zusammen klappt vermutlich nicht.
Ich könnte das einfach heimlich ausprobieren. Niemandem davon erzählen. Nicht mal meiner besten Freundin. Aber so ein Mensch bin ich nicht, wenngleich ich mir meine Meinung sicherlich nicht vorschreiben lassen möchte. Aber eben weil ich innerlich so hin- und hergerissen bin ist mir wichtig, was meine Freunde über dieses Thema denken.
Ich spiele vor allem immer wieder mit dem Gedanken, ein klitzekleine „M“ zu ergänzen. Aus dem Satz „Ich kann mir Sex nur innerhalb einer Partnerschaft vorstellen“ könnte vielleicht ein „Ich kann mir Sex nur innerhalb meiner Partnerschaft vorstellen“ werden. Was weiterhin bedeutet, dass ich meinem Partner treu bin, auch dann, wenn wir vielleicht -aus welchen Gründen auch immer- keinen Sex haben können, und dass ich auch mit niemandem etwas anfange, von dem ich weiß, dass er eine Partnerschaft hat. Was aber -was so ein kleiner unschuldiger Buchstabe nicht so alles verändern kann- nicht mehr bedeutet, dass ich, solange ich solo bin, niemanden ran- und schon gar reinlasse.
Ich werde mit Sicherheit weder zu einer Schlampe noch zu einer Dorfmatratze mutieren. Letztes alleine schon deshalb nicht, weil Hamburg die zweitgrößte Stadt Deutschlands ist und damit alles andere als Dorfcharakter hat. Es muss ja auch nicht gleich zum Äußersten kommen. Aber sollte ich mir weiterhin verbieten, einen leckeren Typen anzubaggern und mit ihm intensiv zu flirten und vielleicht auch rumzumachen, nur weil ich vorher weiß, dass ich mir mit ihm keine Beziehung vorstellen kann? Wird ein späterer Prinz, sofern doch mal wieder einer im Angebot ist, das von mir erwarten? Wird er meine „Jungfräulichkeit“ zu schätzen wissen? Tut mir diese „Diät“ wirklich gut?