Ein Hartes Stück Brot

Heute bekam Maria (nein, nicht die ermordete aus dem Kriminalfilm, sondern die echte) Besuch von einer Freundin, die sie über das Internet kennengelernt hatte. Und zwar in einer Gruppe bei Fratzenbuch, der sich einige Leute mit ihrer Erkrankung zum Erfahrungsaustausch angeschlossen haben. Maria bat mich, sie zu diesem Treffen zu begleiten, da sie sich nicht sicher war, ob die Person wirklich diejenige ist, für die sie sic ausgab. Man muss ja immer vorsichtig sein, und lieber zu vorsichtig al sich plötzlich mit bösen Überraschungen konfrontiert sehen. Aber alleine die Tatsache, dass diese Frau Maria zu sich in die Hotellobby „bestellt“, ließ es schon unwahrscheinlich erscheinen, dass da etwas ganz komisches passieren würde.

Diese Frau kam aus einem tiefbayerischen Dorf, dort wohnt sie in einem Pflegeheim, und sie hat ihr Taschengeld gespart, um den „König de Löwen“ live sehen zu können. Der Flug und die Eintrittskarte waren ehe die günstigen Komponenten der Reise; ebenso das Hotel: Es war eins der billigsten, die man in Hamburg bekommen kann. Alleine 450 Euro hat es sie gekostet, dass sie eine Assistenzkraft von Donnerstagmorgen bis Samstagnachmittag nach Hamburg begleitet und sich rund um die Uhr persönlich um sie kümmert.

Da Marie und ich noch einiges in der Stadt besorgen wollten, hatten wir vereinbart, dass wir Maria beide zu dem Hotel begleiten, einmal mit schauen, ob alles in Ordnung ist und uns dann von ihr verabschieden. Mi der Freundin war auch alles in Ordnung – nur mit dieser Assistentin nicht. Ich bin echt froh, wie „verwöhnt“ wir hier mit unserem Assistenzmodell und vor allem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind. Wenngleich ich persönlich das fast nie nutze. Diese Freundin von Maria bekommt sonst die übliche Pflege aus dem Alltag eines Pflegeheims Die Assistentin hatte sie über eine Vermittlung für Reiseassistenz gebucht. Und diese Assistenin veranlasste Marie und mich tatsächlich, doch erstmal vor Ort zu bleiben.

Was für ein Drache! Marias Freundin meinte, sie sei etwas „grantig“ zu ihr. Und im ersten Moment wusste ich nicht, ob Marias Freundin vielleicht sehr sensibel und penibel sein könnte. Aber dann: Marias Freundin fragte die Assistentin, ob sie ihr bitte ein Geschenk, das sie Maria geben wollte und das vor ihr eingepackt auf dem Tisch lag, hochreichen könnte. Eine Kleinigkeit, ein Mitbringsel aus Bayern. Maria Freundin konnte es wegen ihrer Behinderung nicht greifen. Die Assistentin fragte, ob sie es nicht gleich Maria geben solle. „Nein, ich möchte es ihr geben.“

Es ist nur eine Kleinigkeit, aber diese Assistentin hat es nicht begriffen. Ich glaube, ich muss das nicht erklären.

Maria hatte ihrer Freundin ein Buch mitgebracht: Hamburgisch für Anfänger. Darin ist erklärt, dass man in Hamburg zum Beispiel „Feudel“ sagt und nicht „Wischtuch“. Eingepackt in Geschenkpapier. Marias Freundin bat ihre Assistentin, das Papier für sie zu öffnen. Was macht die Assistentin? Reißt das Geschenkpapier auf, packt das Buch aus und fängt an, darin zu lesen. Und das zu kommentieren: „Ah, das ist ja spannend. Ach schau mal, das wusste ich auch noch nicht.“ – Und Marias Freundin, die sie bezahlt, steht daneben. Ein Unding! Maria, inzwischen nicht mehr so schüchtern wie früher, sagte: „Ähm, eigentlich hatte ich meiner Freundin das Buch geschenkt. Würden Sie ihr das bitte geben?“

Maria und ihre Freundin wollten in die Hafencity, sich den neuen Stadtteil anschauen, eventuell den alten Elbtunnel besuchen und vielleicht eine Hafenrundfahrt machen. Nachdem die Assistentin dann abe noch einen Kommentar wegen fehlender Wanderschuhe abgelassen hatte, haben Marie und ich spontan angeboten, dass wir das zu viert machen, de Assistentin frei geben und abends, bevor wir Marias Freundin wieder zurück ins Hotel bringen, noch kurz shoppen fahren, damit Marie und ich dann kurz unsere Besorgungen machen. „Shoppen ist sowieso cool“, meinte Marias Freundin.

Es war total toll. Marias Freundin wusste gar nicht, wohin sie zuers und wohin zuletzt gucken sollte. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. „Ich bin in meinem Leben noch nie alleine mit der U-Bahn gefahren! Bei mir im Kaff fährt nicht mal ein Bus!“

Irgendwann war der Punkt gekommen, an dem Marias Freundin gerne ihre Geldbörse haben wollte. Sie bat mich, sie ihr aus dem Rucksack herauszuholen, der an der Rückenlehne ihres Elektrorollstuhls befestigt war. Nun wühle ich ja nicht so gerne in fremden Rucksäcken. Zum Glück habe ich mir angewöhnt, erstmal einen Blick hinein zu werfen, bevor ich in ein scharfes Messer oder eine offene Spritze fasse. Eine halb verschlossene Tüte mit einer nassen Unterhose würde mir auch schon reichen. Wenn man im Krankenhaus Praktikum macht, lernt man was für das Leben. Eine Lektion: Fasse nie blindlings in fremde Beutel, Rucksäcke, Handtaschen, Reisetaschen, Koffer. Auch dann nicht, wenn der noch so seriöse Eigentümer oder die noch so adrette Eigentümerin noch so hilflo aussieht und dich darum bittet.

So war es auch hier: Die Assistentin sollte Marias Freundin offenbar einige Brote belegen und ihr einpacken, damit sie was dabei hat, wenn sie unterwegs Hunger bekäme. So dachte ich zuerst. Denn die lagen im Rucksack. Allerdings unverpackt zwischen Geldbörse, Stadtplan, Reiseführer und einem Umschlag mit Theaterkarten. Ich wusste erst nicht ob ich sie darauf ansprechen sollte, entschied mich aber dann, doch ma zu fragen: „Sag mal, willst du dein Schinkenbrot nicht lieber in eine Tüte packen, bevor sich die Butter im ganzen Stadtplan verteilt? Marie hat eigentlich immer so kleine Mülltüten dabei, vielleicht gibt sie dir eine.“ – „Liegt da ein Brot im Rucksack?!“ – „Mehrere. Schinken, Käse und ich würde mal sagen irgendwas mit Lachs.“ – „Pfuiteufel! Kannst du das bitte sofort rausnehmen? Alles? Das gehört mir nicht!“ – Ich ließ mir von Marie Einmalhandschuhe und einen kleinen Müllbeutel geben, nahm den Rucksack von der Rückenlehne und fing vor ihren Augen mit dem Umräumen an: „Oh, hier ist auch noch Schnittlauch lose, der gehört bestimmt auch dazu!“

Wie sich herausstellte, gehörten die drei Brote der Assistentin. Sie hatte sie beim Flug abgestaubt und einfach so in dem Rucksack verschwinden lassen. Lediglich eine durchgeweichte Serviette lag halb dazwischen… Der einzige Kommentar von Marias Freundin: „Wie widerlich! Und dafür bezahl ich Geld?“

Als wir Marias Freundin nach einem total schönen Nachmittag wieder a Hotel ablieferten, war der erste Kommentar der Assistentin: „Na? Alles noch dran? Rollstuhl noch heil, Füße noch warm und Hose noch trocken?“ Marias Freundin lächelte nur müde. Die Assistentin fuhr fort: „Hast bestimmt nichts getrunken den ganzen Nachmittag.“

„Doch, Jule hat mir einen Tee so festgehalten, dass ich ihn mit dem Trinkhalm trinken konnte.“ – „Na dann hast du ja Glück gehabt.“

Marie sagte später auf der Rückfahrt: „Ich hätte ihr als allererstes das Duzen abgewöhnt.“ – „Meinst du, das hätte was gebracht?“, fragte ic sie. – „Zumindest mehr Distanz.“ – „Kann sie nicht zwei Nächte bei uns schlafen?“, überlegte ich laut. Maria guckte skeptisch. Marie antwortete: „Jule, du kannst nicht die ganze Welt retten. Lern es endlich.“ – Ein hartes Stück Brot.

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