Marie hatte eine Einladung zur Gartenparty einer Freundin, einer ehemaligen Mitschülerin bekommen. Anlass waren die Geburtstage der Freundin und ihrem Verlobten, die in den letzten vier Wochen waren und nun gefeiert werden sollten. Eigentlich sollte Training stattfinden, da aber zu viele Leute krank sind, wurde das abgesagt. Marie fragte mich, ob ich spontan dorthin mitfahren möchte, dann wäre sie nicht so alleine Sie kenne den Verlobten nicht und die Freundin hätte sie auch schon länger nicht mehr gesehen, und sie habe mit Begleitung eingeladen. Ich sagte: „Dann frag aber lieber nochmal, ob es auch okay ist, wenn du ein Freundin mitbringst. Nicht dass sich die Einladung nur auf deinen Verlobten bezogen hat.“
Nein, es war kein Problem. Zumindest zunächst nicht. Als die Freundin aber erfuhr, dass ich nur eine Freundin sei, allenfalls eine gute Freundin, aber nicht die Freundin im Sinne einer Partnerschaft, musste sie uns dann doch nochmal mitteilen, dass das so eigentlich nicht gemeint war. Hinzu kam dann noch der Kommentar eines anderen weibliche Partygastes, der für uns deutlich hörbar sagte, dass sie es gut fände, dass auch Marie eingeladen wurde und so dabei sein könnte. Zwei der herumstehenden Leute fassten sich erstmal unbeholfen an die Nase, ein dritter kratzte sich am Ohr. Ich flüsterte Marie ins Ohr: „Deine Freundin ist sooo ein guter Mensch.“
Getränke sollte jeder selbst mitbringen, anstelle eines Geschenks. Der kleine Bruder der Gastgeberin hatte das koordiniert. Wir waren mit einer Kiste Bier und einigen Fruchtsäften dran. Lässt sich im Rollstuhl natürlich auch viel besser transportieren als eine Flasche Hochprozentiges… Wir konnten Maries Vater überreden, uns kurz rumzufahren. Naja, ein paar Blumen und was Süßes haben wir dann noch dazu gepackt, immerhin waren wir zu zweit – hätten wir aber nicht getan wenn wir gewusst hätten, dass wir an dem Abend hungern müssten. Es gab für 24 Gäste plus die Gastgeberfamilie insgesamt zehn Fladenbrote, 30 Bratwürste und zwei Flaschen Ketchup. Keine Soße, kein Dip, kein Salat, …
Als sich die ersten relativ früh wieder verabschiedeten, sagte der Vater, der am Grill gestanden hatte: „Was, so früh schon, wir wollten jetzt das Fleisch rausholen!“ – Das sollte aber ein Witz sein. Auf dem Weg zur S-Bahn meinte Marie: „Das war das letzte Mal. Das hatte ich mir beim letzten Mal schon geschworen, aber irgendwie musste ich ihr noch eine Chance geben. Wir haben uns früher mal so gut verstanden. Aber uns verbindet nichts mehr.“
Ein Pärchen, das auch auf der Feier war, stand oben am Bahnsteig und wartete auf die S-Bahn. Die beiden grinsten uns mit einem Döner in der Hand an und sagten mampfend: „Sorry, aber wir hatten Hunger.“
Sie nahmen eine andere S-Bahn als wir. Als wir im Wagen saßen und de Zug angefahren war, deutete Marie mit einem Kopfnicken zu einer Frau rüber, die sich in einer Ecke verkrochen hatte und bitterlich weinte. Eine Mütze tief ins Gesicht gezogen, den Kragen der Jacke hochgekrempelt. Geschätzt Anfang 30. Extrem gut aussehend. Würde sie nicht heulen, würde ich denken, sie sei auf dem Weg zu einer Party. So war sie jedenfalls gekleidet. An der Station Langenfelde stieg ein Kontrollteam ein. „Die Fahrausweise bitte!“
Die Frau hatte keinen. So wild, wie sie ihre Taschen abtastete, eine immer ernstere Miene bekam und schließlich eher verzweifelt die Hände vor das Gesicht nahm, war das offensichtlich. Nur war das Team noch nicht bei uns angekommen. Ich rollte zu ihr hin. „Was ist los mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?“
„Meine Monatskarte, mein Hausschlüssel, mein Ausweis, das liegt alle im Auto von meinem Freund. Wir wollten feiern gehen aber wir haben uns gestritten, ich bin einfach ausgestiegen und jetzt bin ich auf dem Weg nach Hause. Heute ist einfach nicht mein Tag. Heute geht alles schief. Ich glaube, ich besauf mich gleich noch und dann geh ich ins Bett.“
Die Fahrkartenkontrolleure kamen auf uns zu. Einer starrte mich an. Ich fragte: „Wollen Sie meinen Ausweis sehen?“ – Er schloss die Augen, formte seine Lippen zu einer Art Kussmund und schüttelte langsam mit de Kopf. Einige Sekunden später hielt die Bahn und das Kontrollteam stieg aus. Die Frau guckte mich mit großen Augen an: „Was war das denn jetzt? Kanntest du den?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nee. Rollstuhlfahrer werden meistens nicht kontrolliert, weil die meisten von ihnen kostenlos befördert werden.“ – „Was?! Das wusste ich auch noch nicht. Cool.“ – „Und eine Begleitperson dazu auch. Er hat wohl gedacht, du wärest meine Begleitperson.“
Plötzlich fiel mir diese Frau um den Hals und drückte mich. „Danke, danke, danke.“ – „Hey, keine Ursache. Aber es wären auch nur 5 Euro gewesen. Einmal die Monatskarte nachreichen in den nächsten Tagen. Kann doch jedem mal passieren.“ – „Da steckt für mich ein bißchen mehr dahinter. Aber das kann ich dir nicht erklären. Jedenfalls danke, dass du das für mich gemacht hast. War echt anständig von dir.“
Marie sagte: „Wir haben uns unseren Abend eigentlich auch anders vorgestellt. Wir kommen gerade von einer Party einer ehemals guten Schulfreundin und bis auf eine Grillwurst pro Person gab es nichts zu essen und nur dumme Sprüche und geschmacklose Witze. Über Homosexuelle, Behinderte, Farbige, Juden, … war alles dabei. Ich hab die dumme Kuh mal so gemocht, aber im Moment ist mir auch gerade zum Heulen zumute.“
Ich sagte: „Ich hab eine Idee. Wollen wir nicht spontan zu dritt erst mal kurz was essen gehen und dann gehen wir ne Runde tanzen auf dem Kiez?“
Die Frau sagte: „Nett gemeint, aber ich weiß nicht. Ich habe nicht mal mein Portmonee dabei.“ – „Egal, ich lad dich ein. Na komm, immernoch besser als sich zu besaufen oder wegen eines blöden Freundes sich den Abend verderben zu lassen, oder?“, konterte Marie.
Zwanzig Minuten später fanden wir uns in einem etwas teureren Burgerladen in der Nähe des Hauptbahnhofes wieder. Als die Frau ihre Mütze abnahm und ihre Jacke auszog, kurz auf Klo ging, um sich ein wenig das verheulte Gesicht zu rekonstruieren, sagte Marie: „Das könnte doch noch ein toller Abend werden.“
In einer ruhigen Ecke futterte sie einen Salat. Sie seufzte und sagte: „Das ist ein Tag heute. Erst benimmt sich mein Freund wie ein Arsch, dann werde ich fast noch verhaftet und jetzt gehe ich mit zwei Rollifahrerinnen tanzen.“ – „Na wenn das keine Steigerung ist.“
Wieder draußen, wir überquerten die Straße, blieb ich natürlich mal wieder mit einem Vorderrad an einer Gehwegplatte hängen. Es ist aber auch so ätzend: Auf neu gepflasterten Wegen werden die Gehwegplatten oft einen Zentimeter höher verlegt als der Bordstein, vermutlich, weil sie sich noch etwas setzen. Und als Rollifahrer bleibt man dann, nachdem man beim Bordstein schon aufgepasst hat, an eben dieser Kante hängen. Zack lag ich auf der Fresse. Als Marie sah, dass ich mich nicht verletzt hatte, fing sie zu gackern an. Unsere Begleiterin nahm die Hände vor ihr Gesicht und sagte: „Um Himmels Willen!“
Ein Mann stürmte herbei, trat mir fast auf die Hand, latschte aufgeregt auf und ab und holte sein Handy aus der Tasche. „Sind Sie verletzt, soll ich einen Arzt rufen?“ – Marie stellte sich neben ihn, tickte ihn von der Seite an und fing an zu singen: „As se opsteiht, seggt se: ‚Hett nich weeh doon, das n Klacks för son Hamborger Deern.’“ Und während ich mich bemühte, von der Erde wieder in den Stuhl zu gelangen, tanzten sich unsere Begleiterin und Marie Rücken an Rücken an und sangen zusammen: „Klaun, klaun, Äppel wüllt wi klaun, ruck zuck övern Zaun. Ein jeder aber kann das nicht, denn er muss aus Hamburg sein.“
Und anschließend den Refrain sogar nochmal zweistimmig. Das klang richtig toll. Einige Leute blieben stehen und waren mit der Situation völlig überfordert. Musste das so sein, dass eine Behinderte im Dreck liegt und zwei andere Leute laut singend daneben stehen? In der S-Bahn in Richtung St. Pauli fragte ich sie: „Singst du eigentlich regelmäßig? Im Chor oder so? Du hast eine total tolle Stimme.“
„Ich verdiene mein Geld damit.“ – „Mit Singen?“ – „Ja. Finde ich aber gut, dass du das nicht wusstest. Ich trenne gerne privates von beruflichem und im Moment bin ich privat unterwegs und das soll auch so bleiben.“ – „Ich gehe eher selten ins Theater oder in Oper oder so, ich hoffe, du nimmst mir das jetzt nicht krumm“, versuchte ich mich zu entschuldigen. Und wie ich später merken sollte, habe ich mich damit eher noch tiefer in den Schlick hineinmanövriert. – „Nein, nein, es ist absolut okay so wie es ist“, antwortete sie und grinste.
Die Frau war eher klein, hatte aber einen auffällig gut trainierten Oberkörper. Nicht die Oberarme, auch keine große Oberweite, aber Brustkorb und Schulterbereich erinnerten ein wenig an eine Leistungsschwimmerin. Okay, jetzt verstand ich auch, warum sie solche Angst vor der Fahrkartenkontrolle hatte. Wenn ich sie hätte kennen können, wäre eine Zeitungsmeldung über eine Schwarzfahrt einer Opern- oder Musicalsängerin oder ähnliches vermutlich zumindest in der Boulevardpresse ein paar Zeilen wert – oder sie befürchtete das zumindest.
Es war ein total toller Abend. Wir waren in einer Bar am Hamburger Berg tanzen, sind dann in einer großen Disko auf der Großen Freiheit gewesen, anschließend noch in einer Karaoke-Bar am Hans-Albers-Platz, wo allerdings niemand von uns gesungen hat. Auch mit den Klos hat alles vernünftig geklappt (vorbereitet war ich auf den Abend ja eher nicht). Als wir uns dann am Nachtbus voneinander verabschiedet hatten, konnte ich mir nicht verkneifen, ihren Namen in die Suchmaschine einzugeben. Keine Opernsängerin. Auch niemand aus einem Musical, was in Hamburg ja auch durchaus hätte sein können. Sondern jemand, der mal ein Studioalbum herausgebracht und tatsächlich mehr als 100.000 Mal verkauft hat.
Die tatsächliche Chance, ein Album von ihr in meinem Regal oder auf meinen PC zu haben, ist allerdings sehr gering, da ihr Musikstil überhaupt nicht meiner ist. Sie hat sich meine Handynummer aufgeschrieben. Ihre hatte sie nicht dabei … egal. Es war ein schöner Abend und Marie und ich sind uns einig, einen sehr netten Menschen kennen gelernt zu haben. Wenngleich wir ihn vermutlich nie mehr wiedersehen werden. Aber, wie gesagt, es war ein schöner Abend und der Rest ist okay so.