Ein Neues Semester

„Das fängt ja gut an.“, kommentierte Marie ihren ersten Tag des neuen Semesters. Dass Vorlesungen in Anatomie künftig auf Englisch gehalten werden sollen, weil die neue Dozentin darauf Bock hat, ist ein Sache. Dass sie dabei so nuschelt, dass niemand ein Wort versteht, ist eine andere (Sache). Dass sie aber nicht in der Lage war, mit einem Kommilitonen, der zweisprachig aufwuchs, weil dessen Eltern aus Amerika nach Deutschland kamen, als er drei Jahre alt war, eine Fachfrage auf Englisch zu klären und sich da einen abgestottert hat, war unsere Rettung. Ich habe ja nichts gegen Vorlesungen auf Englisch, aber es sollte für jemanden, der Englisch als Muttersprache hat, schon möglich sein, dem Inhalt irgendwie zu folgen. Wenn selbst er zunächst vier Mal, zunächst sehr freundlich, darum bittet, sie möge etwas lauter und auch etwas deutlicher sprechen, bei ihm käme das akustisch nicht an, und sie ihn anpampt, er möge doch sein Englisch aufbessern, leider sei der Einsteigerkurs für die Erstsemester gerade vorbei, aber es gebe sich mit Sicherheit noch die eine oder andere Möglichkeit an der Volkshochschule, dann halte ich die Areale für relativ deutlich abgesteckt. Wuff.

Wir müssen in diesem Semester unter anderem ein Vorbereitungspraktikum „Einführung in die klinische Medizin“ belegen. Vorgesehen sind sieben Termine jeweils samstags, was mir irgendwie so gar nicht passt. Marie und ich starteten aber noch vor dem Mittagessen einen schnellen Zugriff. Als wir nämlich sahen, dass eine absolut begehrte Internistin auch auf der Liste derer stand, die Praktikanten betreuen, wollten wir keine Sekunde warten. Und wir haben es geschafft: Wir sind fest bei ihr eingeplant. Diejenigen, die erst zum Mittagessen waren, gingen bereits leer aus. Wie war das mit dem frühen Vogel?

Nicht ganz so schön, und insofern hatte Marie mit ihrem Das-fängt-ja-gut-an-Kommentar schon deutlich vorgegriffen, war der Weg zurück. Wir mussten beide dringend aufs Klo, es gab ein Rolli-WC in einem Gang im gleichen Stockwerk, in dem auch die Internistin ihr Zimmer hatte, und eins im Erdgeschoss. Mit Ching, Chang, Chong bekam ich das WC auf derselben Etage, während ich Marie ins Erdgeschoss schickte. Als ich zehn Minuten später im Erdgeschoss vor dem Rolli-WC stand, war das offen und niemand war drin. Ich guckte mich um, fand Marie nirgendwo. Ich schrieb ihr eine SMS, bekam aber keine Antwort. Ich war gerade auf dem Weg nach draußen, als ich mich über einen schrillen Piepton wunderte, den ich nun schon mehrmals gehört hatte und den ich nicht zuordnen konnte. Das wird doch nicht etwa…

Doch. Marie steckte in dem anderen der beiden Aufzüge fest. Der Aufzug war, wie sich später herausstellte, zunächst nach oben gefahren, weil dort wohl auch jemand gedrückt hatte, hatte dabei allerdings irgendwas verkehrt gemacht. Jedenfalls ging die innere Tür auf, ohne die äußere mitzunehmen. Marie meinte, danach polterte die innere Tür noch ein paar Mal auf und zu, dann war Feierabend. Handyempfang war nicht, aber wenigstens funktionierte die Alarmklingel.

Ich dachte zuerst, vielleicht steckt die Kabine ja noch in dem Stockwerk, in dem wir losgefahren sind, und fuhr mit dem anderen Aufzug dorthin. Prompt lief mir die Internistin über den Weg. Sie wollte eigentlich gerade in das Treppenhaus neben den beiden Aufzugstüren. „Na noch was vergessen?“, fragte sie mich. Ich antwortete: „Ja, Marie. Ich glaube, sie steckt im Aufzug fest. Wir haben uns getrennt, weil wir beide aufs Klo müssen. Ich oben, sie unten, hatten wir ausgemacht. Unten ist sie nicht, auf SMS antwortet sie nicht, dafür drückt hier aber jemand ständig den Alarmknopf.“

Wie auf Kommando piepte es wieder schrill. Die Ärztin wummerte mit der flachen Hand gegen die Blechtür und brüllte: „Hallo?!“ – Und fügte dann leise hinzu: „Jemand ze Hage?“

Oben piepte es gleich wieder und in der Kabine polterte auch jemand herum. Die Ärztin nahm ihr Telefon aus dem Kittel und ließ sich mit dem Aufzugstechniker verbinden. „Hier steckt jemand im Aufzug. Was für eine Nummer? Oben links an der Tür ist keine Nummer. Was? Nein, ich brauch keine neue Brille.“ – Kopfschüttelnd steckte sie ihr Telefon wieder weg und meinte, sie würde noch einen Moment warten, ob wirklich jemand kommt. Wir fuhren mit dem anderen Aufzug in das Stockwerk, wo die andere Kabine festhing. Nach 10 Minuten rief sie das zweite Mal an. Der Dialog war köstlich: „Ich habe Ihnen doch eben schon gesagt, dass hier keine Nummer an der Aufzugstür steht. Ich habe Ihnen gesagt, in welchem Haus. Das müsste doch reichen, das Gebäude ist ausgeschildert. Kommen Sie jetzt oder soll ich die Feuerwehr rufen?“

Nach drei Minuten hatte der Techniker uns gefunden. Er öffnete mit einem Dreikantschlüssel die äußere Kabinentür. Drinnen stand Marie, die auch erstmal einen Anschiss bekam: „Was hast du denn mit dem Aufzug gemacht? Von alleine passiert das nicht, dass die Türen sich verhaken.“ Marie antwortete: „Ich habe nur auf ‚E‘ gedrückt.“ – „Dann wäre hier j nicht die Tür ausgehakt. Da muss ja schon jemand mit brachialer Gewalt nachgeholfen haben.“

Die Ärztin sagte: „So, Marie, kommen Sie bitte? Wir haben noch was anderes vor.“ – Zum Glück hatte er nicht gesehen, dass Maries Rolli bereits tropfte. Ein weiterer blöder Kommentar hätte noch gefehlt. Die Ärztin meinte, als wir in dem anderen Aufzug nach unten standen: „Wolle Sie eben kurz auf der Station duschen? Ich organisiere Ihnen eine trockene Hose. Ich hätte weiß, grün oder blau im Angebot.“

Marie wurde dunkelrot und guckte unauffällig an sich herunter. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Marie funkelte mich an. Die Ärztin schleuste Marie auf einer Station ins Patientenbad. Eine Schwester kam vorbei: „Ich habe hier eine Studentin im Rollstuhl, die hat sich bei mir im Praktikum was über die Hose gekippt und muss kurz duschen. Kann sie aber alleine. Habt ihr noch eine weiße Hose und ein weißes weibliches Hemd in S für sie?“ – Der Weg nach Hause war gerettet…

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