Nicht schwul

Mit dem Auto zur Uni zu fahren, ist selbst dann keine gute Idee, wenn man einen blauen Parkausweis hat. Wenn es aber wie aus Eimern schüttet und ich etwas vortragen soll, ich also nicht unbedingt entweder pitschnass oder mit tropfender Regenkleidung im Gepäck dort ankommen will, mache ich schon mal eine Ausnahme. Oder besser: Marie macht eine Ausnahme. Sie war aus den gleichen Gründen mit dem Auto zu mir gekommen. Wir wollten noch etwas vorbereiten, anschließend gemeinsam zur Uni aufbrechen.

Obwohl ich selbst gerne Auto fahre, bin ich auch mal ganz froh, wenn ich nicht selbst lenken muss. Vor allem dann, wenn etwas passiert, was sonst nur wieder meinem Idiotenmagneten zuzuschreiben gewesen wäre. Diesmal hatte ich meinen definitiv nicht dabei.

Es schüttete nach wie vor, der Scheibenwischer rödelte auf höchster Stufe, die Scheiben waren dank Klimaanlage frei, sehen konnte man trotzdem nicht viel. Die Blechlawine quälte sich mit durchschnittlich 35 km/h von Ampel zu Ampel. Wir fahren über eine mehrspurige Straße, müssen rechts abbiegen. Noch ist rechts neben uns eine Busspur, dann kommt eine Bushaltestelle, bei der der Bus in der Busspur hält, direkt danach wird die Busspur zum Rechtsabbiegerstreifen. Die Markierung ist eindeutig: Die Busspur endet mit einer fetten, durchgezogenen, geschwungenen Linie.

Wir warten also im stockenden Verkehr auf Höhe der Bushaltestelle, Marie blinkt rechts und wartet brav, bis es weitergeht und sie nach rechts in die Abbiegerspur wechseln kann. Fährt an, schaut in den rechten Spiegel, schaut sogar über die Schulter, sieht nichts und zieht in Schrittgeschwindigkeit nach rechts. Nein, falsch, da kam kein Bus…

Aber ein anderer Chaot, der mit einer irren Geschwindigkeit über die kilometerlange Busspur rechts am Stau vorbei gedonnert ist und nun nicht damit gerechnet hat, dass dort, wo diese Spur endet und wieder für den allgemeinen Verkehr freigegeben wird, sich nun Leute einfädeln. Man hörte also nur das Schliddern von Reifen auf regennasser Fahrbahn, das nicht enden wollte. Marie hatte das auch sofort wahrgenommen und bremste. Da wir, wie gesagt, höchstens Schrittgeschwindigkeit fuhren, stand Maries Auto sofort. Ich war bereits völlig erstarrt, wartete innerlich auf das Knirschen, rechnete damit, gleich irgendwas oder irgendwen auf dem Schoß zu haben und …

… sah lediglich, wie ein aufgemotzter Golf mit ultrabreiten Schlappen in einer unglaublichen Geschwindigkeit ohne uns zu berühren an uns vorbei rutschte und, sofort nachdem er an uns vorbei war, über den Radweg schlidderte, ein Verkehrsschild wie ein Streichholz umknickte und in ein paar Fahrradbügeln zum Stehen kam. Eine Horde Fußgänger sprang erschrocken in Deckung, einer ließ dabei seinen Regenschirm wegfliegen. Marie guckte mich völlig entgeistert mit großen Augen an. Ihre erste Frage war: „Wo kam der denn her?“

Ich antwortete: „Über die Busspur vermutlich. Keine Ahnung. Mach die Kiste aus, Warnblinker an, Bullen rufen.“ – „Was für eine Scheiße! Ich hab den wirklich nicht gesehen!“ – „Marie, es ist niemand verletzt, alles andere klärt sich und du bist versichert. Warte erstmal ab und am besten sagst du erstmal gar nichts.“

Der Typ stieg aus seinem Auto aus, brüllte wie am Spieß. „Das wird teuer, der schöne Wagen, gerade neu, kannst du mir Euro für Euro bezahlen, das kommt davon, wenn man Frauen Auto fahren lässt.“

Da es ohnehin gefährlich ist, im Regen im fließenden Verkehr auszusteigen und dabei die Rollstühle zusammen zu bauen, entschlossen wir uns, dass es besser sei, einfach mal die Zentralverriegelung zu schließen und die Polizei zu rufen. Vor uns kam ein Renault Espace im Rückwärtsgang zu uns zurück, dessen Fahrer stieg mit einem Schirm in der Hand aus. Hinter uns hielt ein Pritschenwagen, ein Mann im Blaumann kam an Maries Tür gelaufen. Sie öffnete das Fenster ein Stück. „Lasst euch von dem Spinner nichts erzählen, wenn der Ärger macht, dann ruft mich an, hier ist meine Karte. Ich muss leider weiter zum Termin.“

Als er wieder weg war, kam der etwas aufgedrehte Golffahrer an Maries Tür, zog am Griff, schlug mit der Faust gegen die Scheibe. „Mach auf, du verf…te Hure, oder soll ich reinkommen? Ja, ruf mal ruhig die Bullen, dann können sie dich gleich mitnehmen. Komm raus da jetzt, ich hab keinen Bock, hier stundenlang im Regen zu stehen nur weil du mir in die Karre fährst!“

Marie erzählte dem Beamten am Telefon, dass der Unfallgegner gewaltbereit ist und schon damit gedroht hat, die Scheibe einzuschlagen. Sie sei Rollstuhlfahrerin und könne sich nicht körperlich wehren. Da sie das Telefon laut gestellt hatte, konnte ich ihr Gegenüber hören: „Lassen Sie die Türen zu, ich schicke Ihnen sofort ein Fahrzeug dorthin. Bleiben Sie ruhig und machen Sie nichts, wir sind in wenigen Augenblicken bei Ihnen.“

Als er aufgelegt hatte, murmelte Marie: „Sehr witzig. Machen Sie nichts, wenn er die Scheibe einschlägt und Sie auf die Straße zieht.“ – „Muss ja nicht gleich sein.“

Der Typ sprang zu seinem Auto zurück und begutachtete den Schaden. Trat gegen irgendein Plastikteil, stampfte wie Rumpelstilzchen mehrmals mit dem Fuß auf. Marie rief ihren Vater an. Erzählte ihm, was passiert war. „Kannst Du mir helfen?“

Noch während sie telefonierte, kam von vorne, verkehrt herum über die Rechtsabbiegerspur, ein Polizeiauto angedüst. Als die Polizisten vor Ort waren, war der Typ plötzlich wieder lammfromm. Musste seine Papiere zeigen, stellte sich mit der einen Polizistin in das Wartehaus der Bushaltestelle und gestikulierte wild herum. Der andere Polizist beugte sich in Maries Auto, fragte, ob Marie nach dem Unfall noch vor- oder zurückgefahren sei. Was sie verneinte. „Dann bleiben Sie bitte noch einen Moment so stehen, ich mache einige Fotos und wenn ich Ihnen Bescheid sage, fahren Sie das Auto von der Straße auf den Radweg, damit die Fahrbahn wieder frei wird. Kriegen Sie das hin?“

Ich fass mich mal kurz: Es kam anschließend noch der Verkehrsunfalldienst. Die hatten wenigstens ein warmes Auto (mit einem ganzen Büro hinten drin, einschließlich Tisch und Computeranlage etc.), in das wir uns umsetzen durften. Die leeren Rollstühle blieben so lange unter dem Dach der Bushaltestelle. Ein Beamter setzte sich irgendwann mit hinein und plauderte, der Andere sei deutlich über 50, vermutlich sogar über 70 gefahren. Im Haltestellenbereich ist der Bordstein erhöht, an dem kompletten erhöhten Bordstein ist er mit mindestens einem Rad entlang geschrubbt, bevor der Bordstein wieder flacher wurde und er nach rechts in die Fahrradständer gedüst ist. Da das Auto kein ABS hat, spreche das Fahrverhalten des Autos auf den ersten Blick dafür, dass die
Bremsanlage nicht ordnungsgemäß funktioniert hat. Die Hupe ging auch nicht, weil er ein Sportlenkrad nachträglich eingebaut hatte. Das Auto wurde sichergestellt und wird durch einen Gutachter untersucht. Einen Führerschein hatte der Typ aber wenigstens.

Marie stand übrigens mit dem rechten Vorderrad noch auf ihrer bisherigen Spur. Der Polizist meinte aber, Marie solle sich einen Anwalt nehmen. Der Gegner habe Anzeige gegen sie erstattet, weil sie einen Fehler beim Spurwechsel gemacht habe. Diese Anzeige müssten sie auch so aufnehmen. Es könne sogar sein, dass die Bußgeldstelle Marie ein falsches Abbiegemanöver zum Vorwurf mache. Es könne auch sein, dass sie am Ende eine Teilschuld bekäme, vielleicht sogar den Hauptteil der Schuld. Er meinte: „Sie hätten vor dem Abbiegen wenigstens einmal in den Spiegel und über die Schulter gucken müssen, ob die Spur frei ist.“ – Marie antwortete tapfer: „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mich zur Sache jetzt nicht äußere.“

Einen Moment später klopfte es an der Tür. Maries Vater öffnete sie, kam rein. In Uniform. Umarmte Marie und sagte: „Meine Tochter steht unter Schock und sagt jetzt nicht aus.“ – „Sie hat auch noch nichts gesagt. Sie kann nach Hause, wenn sie will.“

Er nahm Marie auf den Arm. Draußen stand der Mann mit dem Golf, der sofort losbrüllte: „Ach nee, war ja klar. Erst zu behindert zum Autofahren und jetzt trägt die Polizei sie noch auf Händen.“ – „Nicht die Polizei, sondern der Vater trägt sie. Entspannen Sie sich mal.“ – „Das ist ja noch schöner. Und am Ende gibt die Polizei mir die Schuld, weil ihr euch alle kennt. Aber ich kann schon jetzt sagen, dass ich mehrere Anwälte beauftragen werde, um zu meinem Recht zu kommen.“ – „Wer Schuld hat, wird am Ende ein Richter klären und nicht die Polizei.“ – „Deine Tochter hat doch schon den Vorteil, dass ihr Vater Bulle ist.“ – „Was hat das denn damit zu tun? Warum holt dein Vater dich denn nicht ab, wenn du ihn anrufst?“ – „Ey ich ruf doch wegen so einer Kacke nicht meinen Alten an, bin ich schwul oder was!“ – „Keine Ahnung? Marie! Bist du schwul?!“ – Marie: „Och Papa…“

Mein Vortrag in der Uni hatte sich inzwischen erledigt. Maries Papa fuhr uns zu Marie nach Hause. Maries Mama kam uns entgegen: „Geht es euch gut? Was ist denn passiert?“ – Der Papa antwortete: „Irgendso ein heterosexueller Wahnsinniger kam mit über 70 Sachen über eine Busspur gebügelt, um einen Stau zu überholen. Die Busspur war nur leider schneller zu Ende als er bremsen konnte. Anstatt Marie reinzudonnern, hat er freundlicherweise auf ein paar Fahrradständer gezielt. Jetzt ist seine tiefergelegte Seifenkiste ein Haufen Schrott und nun weint er.“ – „Wurde jemand verletzt?“ – „Nur sein Ego ist etwas angekratzt, weil man ihm nicht, wie Marie, aus dem Auto geholfen hat und weil er nicht von seinem Daddy abgeholt wurde. Ist aber ein Klacks gegen das, was jetzt noch kommt. Viel zu schnell bei strömendem Regen, über eine Busspur überholt, Bremsen defekt, nur ein Scheibenwischer, der nicht eingetragen war, Hupe defekt, kein vernünftiges Lenkrad dran und Licht brannte wohl
auch nicht, stattdessen nur blaue LEDs. Sieht zwar cooler aus, hilft aber nicht wirklich, wenn der Gegner aussagt, er habe ihn bei schlechter Sicht nicht gesehen.“

Maries Mutter fragte: „Das heißt, der andere hat Schuld?“ – „Kann man so nicht sagen. Marie wollte die Spur wechseln und hat bereits in die Richtung gelenkt. Das war nach seiner Aussage der Anlass für sein Ausweichmanöver. Am Ende brauchen wir wohl einen Anwalt, der dem Gericht erklärt, dass das Ausweichmanöver nicht nötig gewesen wäre, wenn er vernünftig gefahren wäre, Licht angehabt hätte und sein Auto technisch in Ordnung gewesen wäre. Damit konnte Marie schließlich nicht rechnen. Ist mir aber auch scheißegal, Hauptsache, ich habe meine Tochter in einem Stück wieder!“, sagte er und nahm Marie noch einmal auf den Arm und warf sie durch die Gegend. „Papa, hör mal auf damit! Ich bin doch kein Ball!“

Danach kam er zu mir, drückte mich und sagte: „Und dich natürlich auch.“ – Hmm… mich hätte er gerne mal so rumwerfen dürfen, das hat mit mir noch keiner gemacht!

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