Ganze vier Tage vorher hatten sie es erfahren, mich um halb elf abends endlich erreicht und dann gerade im letzten Moment noch zwei verbilligte Bahntickets gekauft. Emma und Paula haben in der letzten Woche von einer Kollegin zwei Karten für das Musical „Der König der Löwen“ abgestaubt. Besagte Kollegin hatte sich von ihrem Lover getrennt und wollte eigentlich mit ihm einen schönen Abend verbringen – nun hatte sie die beiden Karten im Wert von über 300 € für rund 50 € an Emma verscherbelt.
Was zur Folge hatte, dass ich endlich mal die schimmeligen Käsebrote unter meinem Bett herauskramen musste. Schließlich wollte ich ja keinen schlechten Eindruck hinterlassen, wenn die beiden neben mir auf einer aufblasbaren 140er-Gästematratze zwei Nächte lang schnorchelten.
Und während Marie und ich uns am Praktikumssamstag mindestens zehn Mal die Frage stellen lassen mussten, ob viele Leute von Sturmtief Xaver verletzt worden sind, kämpften meine beiden Halbschwestern noch mit den
zahlreichen Bahnverspätungen anlässlich des Orkans. Sie hatten aber einen so frühen Zug gebucht, dass sie es mit über dreistündiger Verspätung gerade so eben noch geschafft haben.
Apropos Praktikum: Kuriositäten gibt es ja immer. Platz 3 auf der Liste vom letzten Samstag erhielt von uns eine Frau, die Schnapp-Atmung bekam, als sie zwei Rollifahrerinnen erblickte. Sie schnappte vier Mal, drehte sich auf dem Absatz um und rannte zum Aufnahmetresen, weil sie allen Ernstes uns für Patienten hielt, die ihre Krankenakte von irgendeinem Stapel genommen hätten. Platz 2 bekam eine Frau um die 80, die sich ihr Stofftaschentuch mit einer Sicherheitsnadel und einem Faden am Gürtel ihrer Hose befestigt hatte. Auf Nachfrage meinte sie, sie würde es sonst immer verlieren. Der Faden war so lang, dass das Taschentuch ohne Öffnen der Sicherheitsnadel bis zur Nase kam. Und Platz 1 gaben wir einem jungen Knirps, 6 Jahre alt, der völlig alleine in die
Aufnahme spaziert kam und seine Mama suchte. Seine Mama wollte zur „Apputeke“ und „Medozin“ holen, weil Papa „im Bett liegt und keucht“. Jetzt war ihm das aber alleine mit dem keuchenden Papa zu Hause zu langweilig geworden. Zum Glück konnte der Ausreißer die Handynummer seiner Mutter auswendig aufsagen. Jule und Marie, die beiden rollenden Kindergärtnerinnen, klemmten sich also hinter das Telefon und baten eine völlig perplexe Muddi in die Notaufnahme. Und während wir warteten und mit ihm Quatsch machten (Handschuhe aufblasen und anmalen), wollte er unbedingt eine Brause trinken – und musste uns anschließend vorführen, dass die Melodie von „Oh Tannenbaum“ auch rülpsen kann…
Am späten Abend wartete ich an den Landungsbrücken, um meine beiden Halbschwestern abzuholen. Sie waren sehr begeistert vom Musical, hatten supertolle Plätze gehabt und meinten, dass sich dieser Kurztrip trotz stressiger Bahnfahrt schon jetzt gelohnt hätte. Wir fuhren zum Hauptbahnhof, um ihre Taschen aus dem Schließfach zu holen, anschließend zu mir nach Hause. So viel, wie wir uns zu erzählen hatten, wurde es eine sehr kurze Nacht. Allerdings konnten wir am Sonntag ja ausschlafen.
Abends verabredeten wir uns mit Marie und Cathleen, uns mal so richtig durchschütteln zu lassen. Für den Hamburger Dom, das größte Volksfest des Nordens, kann es mir nicht zu kalt sein. Dicke Strumpfhose, Thermohose, Wollsocken, Stiefel, dicke Jacke, Handschuhe, Schal, Mütze, … Emma fragte, ob das nicht etwas übertrieben sei, immerhin hätten wir Temperaturen über Null und bei ihnen da unten gäbe es auch schonmal minus 20. Ich antwortete: „Den nasskalten Wind in Hamburg darf man nicht unterschätzen. Bei minus 3 und nasser Luft frierst du hier mehr als bei minus 20 und trockener Luft bei euch.“
Emma, Paula und die jungen Leute zum Mitreisen, die an den einzelnen Fahrgeschäften herumturnen, die Chips einsammeln und einmal am Bügel rütteln, waren sehr hilfsbereit, so dass wir nicht nur den „Avenger“, eine Überkopfschaukel, bei der sich die Gondeln auch noch um die eigene Achse drehen und bei der man mit bis zu 120 km/h durch die Luft rauscht, sondern auch das „Artistico“, die höchste Schwingschaukel Europas, bei der sich die Sitze auch noch im Kreis drehen. Der „Sky Fall“, bei dem man einen freien Fall aus 80 Metern Höhe erlebt, durfte auch nicht fehlen. Cathleens einziger Kommentar: „Ist mir schlecht.“
Anschließend teilten sich die vier Chaotinnen auf zwei Autos beim Autoscooter auf und versuchten, möglichst viele gut aussehende Jungs anzubumsen. Cathleen wollte in der Zeit lieber mit einer Freundin, die sie kurz zuvor getroffen hatte, noch einmal in den Sky Fall. Der Frontalzusammenprall zwischen dem Bayerncar und dem von Marie und mir gelenkten tat etwas weh, ansonsten war es eine Mordsgaudi. Etliche Jungs versuchten, uns anzuschieben, und als ich dann unser Auto durch eine geschickte Drehung im Lenkrad plötzlich rückwärts fahren ließ, fing Marie zu kreischen an. Zuerst wichen noch einige Leute uns aus, dann krachten wir rückwärts in eine Traube von Leuten, die sich ohnehin schon hoffnungslos verkeilt hatte. Maries einziger Kommentar: „Gut, dass ich mir vorhin noch eine Windel angezogen habe.“ – Zum Glück hat das bei dem Lärm niemand gehört.
Da Emma und Paula am heutigen Morgen früh wieder nach Hause mussten, schließlich hatten sie sich nur heute freinehmen können, und Cathleen, Marie und ich heute auch volles Programm hatten, verzichteten wir auf eine Partynacht und rollten um kurz vor Mitternacht brav wieder nach Hause. Trotzdem fand ich es toll, die beiden in diesem Jahr noch einmal gesehen zu haben!