Defekte Dose und ein Pupsplan

Kann man mir vorwerfen. Muss man aber nicht. Denn ich vergesse sie nicht. Die vielen Menschen, die sich normal benehmen gegenüber den vielen Menschen, die nicht normal sind. Setzt man voraus, dass es den „normalen“ Menschen nicht gibt, ist eigentlich schon alles gesagt. Jeder benimmmt sich einzigartig gegenüber anderen Menschen, von denen jeder einzigartig ist. Klar, dass mir dabei vor allem die auffallenden Menschen auffallen. Und dass ich über sie schreibe. Immer wieder.

So wie über den Netzwerktechniker mit der feinen Nase. Er kommt in unsere WG, soll einen Netzwerkfehler beheben. Das halbe Haus hat kein Internet, die Physio- und Ergopraxis unter unserem Wohnprojekt ist auch betroffen. Es liegt der Verdacht nahe, dass es sich um einen Fehler außerhalb des Hauses handelt, aber das hatte der Internetanbieter zuvor ausgeschlossen. Bis zum Hausanschluss funktioniere alles. Wie sich später herausstellte, war die Hausanschlussdose selbst defekt, aber … der Reihe nach.

Dieser Netzwerktechniker kam also in unsere WG, ging direkt zum Büro (wobei mir „Büro“ ein wenig zu offiziell klingt, eigentlich ist es ein hübsch eingerichteter Raum, in dem der ganze Papierkram erledigt wird und in dem die Assistenz- und Pflegekräfte sich aufhalten können), traf auf Sofie und mich und fragte, ob wir ihn zum Chef bringen könnten. Der Chef sei nicht da, sagte Sofie, sie wisse aber Bescheid und schließe ihm den Raum auf, in dem die ganze Technik untergebracht ist. Er fragt: „Ist das hier ein Behindertenheim?“

„Eine Wohngemeinschaft“, antwortete Sofie.

„Worin liegt der Unterschied?“, wollte der Techniker wissen.

Sofie antwortete: „Mit einem Behindertenheim verbinde ich eine Einrichtung, in der Menschen mit Pflege- oder Assistenzbedarf ein fest strukturiertes Tages- oder Wohnprogramm angeboten wird. Bei uns mieten sich Menschen ein barrierefreies Appartment und organisieren gemeinsam, dass sie benötigte Hilfen zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und in angemessenem Umfang erhalten.“

„Ist das nicht dasselbe?“, fragte der Techniker weiter.

„Keineswegs“, antwortete Sofie. „Im ersten Fall gibt es ein starres Angebot aus Zimmer, Essen und Pflege, in das man sich einfügen kann, im zweiten Fall gibt es eine Wohnmöglichkeit und den Rest organisiert sich jeder selbst.“

„Da würde ich doch aber die erste Möglichkeit vorziehen. Die Pflege brauche ich doch, wenn ich irgendwann mal so senil bin, dass ich jemanden haben muss, der mir den Hintern abputzt, nachdem ich ein Ei gelegt habe, sowieso. Dann ist es doch besser, ich kann auf den roten Klingelknopf drücken, als wenn ich erst noch im Internet drei Stellenanzeigen aufgeben muss und mich dann hinterher noch mit dem Finanzamt rumschlage, weil ich vergessen habe, für die 400-Euro-Kraft die Pauschalen an die Knappschaft zu überweisen.“

Sofie antwortete: „So hat jeder seine Präferenzen. Mir wäre es zum Beispiel wichtiger, dass ich nicht um halb sieben schon ins Bett muss, weil die Schicht in den Feierabend geht.“ – „Och, wenn man morgens um sechs geweckt wird, geht man abends auch früh schlafen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Aber eines fällt trotzdem angenehm auf: Bei Euch stinkt es nicht so extrem wie in manchen Einrichtungen. Ich komme ja viel rum, und in manchen Heimen stinkt das, als wenn die alle die Hosen voll haben“, befand der Techniker.

Sofie versuchte einen neuen Aufschlag: „Das kann aber auch daran liegen, dass krankheitsbedingte Ausfälle beim Personal oder vielleicht nur die Bohnen beim Mittagessen den Abführplan der Einrichtung durcheinander gebracht haben. Wenn dann bei dem einen oder anderen Kacken erst morgen früh um neun auf der Tagesordnung steht, kann es zu solchen Kollateralschäden kommen.“

Aber der Techniker konnte Sofies Einstellung zum selbstbestimmten Leben nicht nachvollziehen. Er antwortete: „Ich sehe schon, Sie kennen sich mit solchen Dingen viel besser aus als ich. Wollen Sie das mal als Beruf machen? Ist ja auf jeden Fall toll, wenn es einfache Möglichkeiten gibt, die Behinderten besser unterzubringen. Und es ist natürlich besser, wenn alles schön sauber ist und nicht stinkt. Dass man dafür Pläne erstellen muss, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, aber es leuchtet ein, dass es auch Regeln gibt, wenn so viele spezielle Leute unter einem Dach wohnen.“

Sofie gab endgültig auf. Eine Bewohnerin mit frühkindlicher Hirnschädigung, körperlich sehr stark eingeschränkt, hat in einem Vierteljahr voraussichtlich ihr Abitur in der Tasche, hatte die letzten Worte mitgehört und krähte: „Für unsere frische Luft hier sorgt die ‚Zentrale Anweisung zur strukturierten Methanabgabe in Wohnräumen der Behindertenhilfe‘, in Bewohnerkreisen auch ‚Pupsplan‘ genannt.“

Bevor sie weiterreden konnte, sagte der Techniker: „So viele Einzelheiten möchte ich das gar nicht wissen. Ich sehe, es ist alles gut strukturiert und dann kümmere ich mich mal darum, dass das Internet wieder funktioniert.“

Immerhin hatte er es in weniger als zehn Minuten geschafft, den Fehler zu finden. Die Anschlussdose, die eigentlich der Netzbetreiber in Ordnung zu halten hatte, war defekt. Er tauschte sie, schrieb eine umfangreichen Text in die Rechnung und mit etwas Glück bekommt Frank die Kosten vom Netzanbieter wieder.

Als der Techniker weg war, fragte Sofie: „Sagt mal, hat die Anstaltsleitung eigentlich ein Mitbestimmungsrecht, wenn ein neuer Pupsplan aufgestellt wird?“ – Schallendes Gelächter. Und jene Abiturientin in spe fügte hinzu: „Ich pupse am liebsten abends im Bett. Dann wird es schneller warm unter der Decke.“


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