Punktion und Schubkarre

Manche Menschen stechen Eier an, damit sie nicht platzen. Hühnereier, wohl gemerkt. Manche sagen: Das ist alles Humbug, die platzen genauso häufig und genauso selten, wenn man sie nicht anpiekst.

So ähnlich auseinander gehen die Meinungen zum Blutabnehmen: An einigen Unis benötigt der Nachwuchs einen Punktionsschein, bevor er in Eigenregie Blut abnehmen darf, bei anderen offenbar nicht. Eine einheitliche Regelung gebe es nicht, meinte unser Proff; ich habe es nicht recherchiert, sondern mir sagen lassen, dass es in Hamburg Usus ist, dass jede Studentin und jeder Student spätestens im ersten Praxissemester eine (ärztliche) Bescheinigung vorlegen muss, dass sie oder er punktieren kann.

Wehe dem, der nur an Apfelsinen oder am hochschuleigenen Plastikmodell übt und denkt, er könne das anschließend auch am Menschen.
Und so haben Marie und ich kürzlich Maries Mutter zum Blutspendetag begleitet und ihr nicht nur gefühlte 753 Mal beim Punktieren der Armvene
zugeschaut, sondern durften zum Ende hin erstmalig auch selbst ran. Maries Mutter sagte: „Beim Blutspenden triffst du am ehesten Leute, die das mitmachen.“

Wir wurden immer vorgestellt als „Studentinnen, die das können, das auch schon paar Mal gemacht haben, die aber noch Übung und Routine brauchen, damit es auch im Notfall automatisiert klappt.“ – Und Maries Mutter hatte Recht: Niemand hat es abgelehnt, dass wir selbst Hand anlegen durften. Ich fasse es zusammen: Alle Aufregung war unnötig. Es hat kein einziges Mal eine Schweinerei gegeben und ich habe mich nur ein
einziges Mal verstochen. Bei einem älteren Herrn, der aber meinte, dass
es oft einen zweiten Anlauf bei ihm bräuchte. Einmal hatte jemand nach dem Ziehen der Kanüle nicht lange genug drauf gedrückt, so dass es plötzlich heftig wieder zu bluten anfing, aber das war ja nicht meine Schuld.

Maries Mutter und auch die Patienten hatten eine Engelsgeduld. Ist der Stauschlauch nicht zu locker und nicht zu fest? Welche Vene ist geeignet? Handelt es sich wirklich um eine Vene und nicht um eine Arterie? Und so weiter, und so fort. Beim ersten Patienten hatte ich Schweißperlen auf der Stirn, beim zwanzigsten war ich total happy, dass es doch nicht soooo schwierig ist. Ich fand den Handrücken sogar fast noch einfacher als die Armbeuge. Jetzt fehlen nur noch Routine und Erfahrung.

Gestern abend war ich bei Marie in der Sauna und im Pool, habe anschließend bei ihr geschlafen, denn heute morgen sollten zwei sehr „spannende“ Patienten zur Kontrolle kommen. Eine 24jährige zum Ultraschall, die eine künstliche Herzklappe hat, und eine heute 16jährige, die vor acht Jahren ein neues Herz (Spenderherz) bekommen hat. Insbesondere einen so jungen Menschen mit erfolgreich transplantiertem Herzen sieht man nicht alle Tage. Der Tag des Herzens sollte aber definitiv anders beginnen: Als wir beim Frühstück saßen, bekam Maries Mutter einen Anruf von einem Pflegedienst. Eine alte Frau, über 95 Jahre alt, bettlägerig, habe über 800 Zucker und wolle nicht ins
Krankenhaus. Sie habe Angst, dass es ihre letzte Station sein wird und dass sie sich etwas wegholt, was ihr den Rest gibt. Dabei freue sie sich
doch so auf den Besuch ihrer Kinder und Enkel zu Weihnachten. „Ich komme dorthin, jetzt, vor meiner Sprechstunde.“

Ich frage mich nicht, wie eine vom Pflegedienst betreute bettlägerige
Frau auf einen solchen Zuckerwert kommen kann. „Ich schaffe es wahrscheinlich nicht ganz pünktlich, ihr könnt ja solange den Helferinnen helfen.“ – Drei sollten eigentlich kommen, eine hatte sich bereits am Anfang der Woche krank gemeldet. Von den verbleibenden zweien
rief dann noch eine kurz vor Dienstbeginn an, der kleine Sohn habe Fieber und Erbrechen, sie könne nicht kommen. Die vierte MFA war in Urlaub … das konnte ja lustig werden. Und das wurde es auch.

„Immer Ruhe bewahren, dann dauert das halt heute etwas länger“, sagte
Marie zu der völlig genervten Helferin, die gerade im August erst ihre Ausbildung fertig hatte und übernommen worden war. „Bis meine Mutter wieder da ist, nehme ich, wenn Sie das möchten, das Telefon an und pflege die Warteliste, dann können Sie sich schon um die Laborpatienten kümmern. Jule kann zwar inzwischen noch besser punktieren als ich, aber das lassen wir mal, solange meine Mutter nicht dabei ist oder zumindest davon weiß. Jule könnte aber die ganzen Leute übernehmen, bei denen erstmal Blutdruck und Blutzucker gemessen werden muss. Okay?“ – Man merkte, dass Marie nicht zum ersten Mal aushalf. Der erste Schwung, der vor dem Aufschließen vor der Tür wartete, war gerade drinnen, als eine alte Frau mit Kopftuch, Schürze und Gummistiefeln reingelaufen kam. „Ich
brauch mal eben ganz schnell die Frau Doktor, ich hab meinen Mann draußen auffer Schubkarre liegen, dem gehts gar nicht gut.“

Auf der Schubkarre?! Na klar, ihr Bauernhof liegt rund einen Kilometer entfernt… Die Helferin wetzte mit nach draußen. „Bringen Sie ihn mit rein, ich halte die Türen auf.“ – „Die Karre kommt aus dem Stall, die ist voller Mist und Gülle.“ – „Kommen Sie rein hier, wir wischen hinterher durch. Nun machen Sie schon.“

Der Mann, geschätzt um die 80, bekleidet mit Holzfällerhemd, Weste, Cordhose mit Hosenträgern, Gummistiefeln, weißes Haar, Hände so groß wie
zwei Zelte, sah elendig aus. Aschgraue Gesichtsfarbe, schweißbedeckte Stirn, lag zusammengekauert in der Karre, die Knie hingen zwischen den Griffen. Schmerzen habe er, so flüstert er fast, so etwas habe er sein Leben lang noch nicht gehabt. Als wenn ihm der Teufel den Oberkörper zuschnüre. Tränen standen ihm in den Augen. Marie rollte nach draußen, sollte ihre Mutter anrufen. Und vorher den Notarzt. Die Schwester fragte: „Liegen Sie so einigermaßen bequem? Dann würde ich Sie gerne kurz so liegen lassen. Wir tun ihnen noch was hinter den Kopf, dass das bequemer ist. Frau Doktor ist gerade unterwegs, wird aber jeden Moment zurück sein. Wir rufen Sie gerade an, damit sie uns schonmal sagen kann,
was wir Ihnen gegen die Schmerzen geben können. Ich mache Ihnen jetzt ein EKG dran und meine Kollegin legt Ihnen unterdessen einen Venenzugang.“

Die Kollegin war ich. Hatte Marie nicht gerade noch erzählt, wie toll
das geklappt hat? Jetzt bloß nicht patzen. Ich kam mit meinem Rollstuhl
an der Schubkarre nicht vorbei, die Helferin warf mir alles, was ich benötigte, von der Arbeitsplatte gegenüber zu. Die Frau setzte sich auf einen Stuhl, stützte ihren Kopf mit einer Hand auf und weinte. Der alte Mann ließ alles mit sich machen. Die Helferin klemmte ihm ein Pulsoxymeter an den Finger. Der Puls war bei 90, die Sauerstoffsättigung
bei 94%. Fast unauffällige Werte. Die Helferin schnitt das Hemd auf, rasierte radikal ein paar Büschel Haare von der Brust, klebte Elektroden
auf. Ich merkte, wie mir der Schweiß von den Achseln durch den BH lief.
„Jetzt bloß nicht patzen“, dachte ich nochmals. Stach zu und … die saß.
Auf Anhieb.

Marie kam wieder zur Tür, hatte den Koffer mit dem Defibrillator auf dem Schoß und stellte ihn neben der Frau auf die Erde. Ich hoffte nur, dass uns das erspart bleiben würde. Einen Moment später kam Marie mit dem nächsten Notfallkoffer wieder. Legte ihn vor der Tür auf einen Stuhl
und warf mir als erstes das Nitrospray zu. „Anweisung von Mama: Bereitlegen. Eine Kautablette ASS 250 mg soll er jetzt sofort in den Mund stecken. Und wir sollen 5 mg Morphin aufziehen und bereitlegen.“

Inzwischen war das erste EKG geschrieben. Ich kannte das bisher nur aus dem Lehrbuch, aber die ST-Hebung in den Ableitungen II, III und aVF war eben auch wie aus dem Lehrbuch. Normalerweise sieht man im EKG zuerst die (Erregungs-) Aktion des Sinusknotens, also des Taktgebers des
Herzens, in Form einer kleinen Kuppel in positiver Richtung. Dann passiert einen Moment nix, dann gibt es eine kleine negative Zacke, dann
die große positive, den eigentlichen „Herzschlag“, dann wieder eine kleine negative, dann eigentlich wieder eine Zeitlang nichts, dann noch einmal kuppelförmig die Rückbildung der Erregung. Bei einigen Leuten gibt es danach noch eine kleinere, weitere kuppelförmige Hebung; das kann normal sein, kann aber auch an einer schlechten Elektrolytversorgung (Kaliummangel etc.) liegen.

Bei diesem EKG gab es, wie gesagt, lehrbuchmäßig, eine weitere Kuppel
zwischen der zweiten kleinen negativen Zacke und der Hebung, die die Erregungsrückbildung kennzeichnet. Das gibt es nur, wenn das Herz selbst
nicht genug Sauerstoff bekommt und zusammen mit den übrigen Symptomen ist die Diagnose damit eindeutig: Akuter Herzinfarkt. Jetzt sollte nur eins nicht passieren: Dass sich hier jemand weiter aufregt. Insofern sagte ich nur: „Die Frau Doktor wird sofort hier sein und dann kommen Sie sofort als erster dran, ja? Es dauert nur noch einen kleinen Moment.“

Eine andere Patientin kam an die Tür. „Warum geht es hier nicht weiter?“ – Marie antwortete: „Setzen Sie sich bitte wieder hin, Sie müssen sich einen Moment gedulden.“ – „Ich hatte aber schon vor über 15 Minuten einen Termin und ich bin Privatpatientin und muss zur Arbeit.“ –
„Ich kann es jetzt nicht ändern. Entweder warten Sie oder Sie kommen einen anderen Tag wieder.“ – „Dann machen wir einen anderen Termin?“ – „Ja, rufen Sie bitte an.“ – „Nee können wir gleich einen neuen Termin machen?“ – „Sie sehen doch, dass das jetzt nicht geht.“

In dem Moment kam Maries Mutter durch die Tür. Die Frau wollte gleich
auf sie einreden, Maries Mutter machte kurzen Prozess: „So, alle die hier jetzt nichts zu suchen haben: Weg! Und auch jetzt nicht die Durchgänge blockieren, wir brauchen hier Platz. Herr …, guten Morgen, Sie kriegen jetzt Hilfe. Was machen Sie denn für Sachen? Das war gut, dass Sie gleich gekommen sind, Sie bekommen jetzt erstmal was gegen die Schmerzen, okay? Sie schauen gar nicht gut aus, Sie haben bestimmt starke Schmerzen. Es ist gleich vorbei, ja? Noch ein paar Sekunden tapfer sein. Hat er ASS bekommen? Nitro auch schon? Dann kommt Nitro jetzt unter die Zunge. Und dann auch mal Diazepam aufziehen.“

Während Maries Mutter mit ihrem Stethoskop das Herz und die Halsvenen
abhörte, betete ich, dass meine Kanüle richtig liegt. Dann kamen zwei rot gekleidete Männer schwer bepackt rein. Die beiden waren relativ fit und merkten sofort, was hier los war. Maries Mutter sagte: „Gebt her euer Gerödel, ich stöpsel euch alles um und ihr holt bitte schonmal zügig die Trage, damit er bereits im Auto liegt, wenn der Arzt kommt. Welcher kommt?“ – „Christoph 29, ist auch schon zu hören.“

Christoph 29? Das ist der Hubschrauber, mit dem ich vor 5 Jahren selbst geflogen bin. Ob die Notärztin wohl heute Dienst haben würde, die
mich damals betreut hatte? Hatte sie nicht. Der Mann hat überlebt. Die kritischen Tage nach dem Infarkt … mit etwas Glück übersteht er sie auch. Ich wünsche es ihm. Und seiner Frau. Und die Nummer mit der Schubkarre? Maries Mutter sagte: „Das sind alte Menschen, die noch immer
ihre Tiere und ihre Ländereien haben. Die rufen keinen Doktor nach Hause. Die wollen keine Umstände machen. Die rufen höchstens mal den Tierarzt, wenn es einer Kuh schlecht geht. Wenn die hier vor der Tür stehen, dann kannst du davon ausgehen, dass der Baum brennt. Zu allem Überfluss haben Sie mich auf der … Straße eben auch noch geblitzt. Mit über 100 statt erlaubter 60 – da kommt dann also auch nochmal toller Schreibkram auf mich zu.“ – Auf schnurgerader Straße, weit und breit keine Häuser, niemand unterwegs, auf dem Weg zum Herzinfarkt, wird das wohl eingestellt.

Morgen haben wir unseren Praktikumstag. Und ich wette, dass wieder 50% der Leute an einem Samstag im Krankenhaus sind, die wegen irgendwelchen Problemen kommen, die eigentlich gar nicht dorthin gehören. Eigentlich. So unterschiedlich kann das in Hamburg sein. Und die beiden anderen Herzpatientinnen? War spannend. Aber der Eintrag ist bereits lang genug…

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