Berlin, Berlin

Der Alltag in Hamburg hat mich schon wieder voll im Griff, ich steuere mit voller Fahrt auf meine Zwischenprüfung zu und bin im Moment wirklich mehr als unter Strom. Eigentlich wollte ich meine Teilnahme an einem Traininglager in Berlin am letzen Wochenende noch spontan absagen und meine Nase in ein paar Bücher stecken; inzwischen bin ich froh, dass ich es nicht getan habe. Auch wenn ich dadurch zusätzlich noch ein Treffen mit einer Freundin verpasst habe, auf das ich mich eigentlich schon sehr lange freue. Dass sie nach Hamburg kommen würde, hatte sich allerdings erst einige Tage vorher ergeben und Berlin war schon im Herbst geplant.

So standen am Freitagmittag über 20 Kinder und Jugendliche in Rollstühlen auf einem Bahnsteig des Hamburger Hauptbahnhofs und waren die Attraktion des Tages. Hätte man ein Zebra dort angebunden, hätten vermutlich genauso viele Leute um ums herum gestanden und ihre Kameras ausgepackt. Ja, richtig gelesen, ich kam mir vor wie in der Muppetshow. Einmal lächeln bitte!

Vier starke Papas kümmerten sich um das Einladen aller Leute. Ein Bahnmitarbeiter mit roter Mütze stand in sicherer Entfernung und wischte sich permanent den Schweiß von der Stirn, ihm war das alles nicht geheuer. Nach drei Minuten waren alle Leute in den reservierten Abteilen verstaut, die Rollstühle kamen in zwei weitere (leere) Abteile, das Gepäck war auch drin – der Zug konnte ohne Verspätung abfahren. Auch in Berlin lief alles wie am Schnürchen: Rechtzeitig vorher packten unsere Trainerinnen und Trainer die Stühle wieder aus, bauten sie zusammen und einer nach dem anderen stellte sich in den Gang und wartete auf die Einfahrt des Zuges. „Perfekt durchorganisiert“, meinte der Zugbegleiter.
„Ich dachte schon, wir bauen hier eine halbe Stunde Verspätung auf, aber so ist es natürlich noch viel besser.“

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren im Alter zwischen 12 und 17.
Für viele war es das erste Trainingslager überhaupt. Marie und ich bekamen, genauso wie die anderen Betreuerinnen, Betreuer, Trainerinnen und Trainer ein Doppelzimmer, die Kinder und Jugendlichen hatten Viererzimmer. Das Gebäude gehörte einer caritativen Einrichtung und war komplett barrierefrei. Die Schwimmhalle war zwei Haltestellen mit der S-Bahn entfernt.

Das erste Schwimmtraining begann gleich mit einem Adrenalinstoß. Während die erste Gruppe bereits ins Wasser kletterte, kam eine Teilnehmerin angedüst, schnappte sich ausgerechnet mich und sagte: „Jule, komm mal schnell mit. Der … geht es nicht gut, irgendwas mit dem Kreislauf.“ – Im Vorbeifahren sog ich noch Tatjana ein, im Umkleideraum saß in ihrem Rollstuhl besagte Teilnehmerin, 12 Jahre, erworbener inkompletter Querschnitt, nackt, den Kopf in die Hände gestützt, leichenblass. „Mir ist so schlecht. Kreislauf.“ – Nicht untypisch für einen Querschnitt, Tatjana schnappte sich das Mädchen, legte sie auf eine Bank, Beine hoch, großes Badehandtuch drüber. Eine Frau vom Hallenpersonal kam rein. „Soll ich alles anrufen?“, fragte sie. Das Mädchen: „Bloß nicht! Das ist gleich wieder vorbei. Das ist die eklige Luft hier. Und die Aufregung. Ich habe mich ein halbes Jahr auf dieses Wochenende gefreut. Nun ist es endlich da, das scheint meinen Kreislauf gerade etwas zu überfordern.“ – Die Frau stellte einen Mülleimer in die Tür und riss das Fenster im Flur weit auf. Nach ein paar Minuten ging es
dem Mädchen wieder besser. Sie sollte noch ein wenig liegen bleiben, eine Freundin blieb bei ihr.

Abends stand der legendäre Kudammbummel auf dem Programm. Dass selbst in Berlin eine so große Behindertenhorde ungewöhnlich ist, wussten wir spätestens in dem Moment, als jemand beim Gaffen zielsicher gegen einen Ampelmast lief und sich gehörig den Kopf anstieß. Blut lief allenfalls unter der Haut und wird ihm in den nächsten Tagen einen blauen Fleck bescheren. Einige Teilnehmerinnen konnten sich das Kiechern nicht verkneifen. Kurz danach wurde Marie von einem wildfremden Typen angesprochen: „Du hast so scharfe Titten, obwohl du im Rollstuhl sitzt!“ – Woraufhin ein Typ, der direkt daneben stand, und den wir gar nicht kannten, antwortete: „Lass meine Freundin in Ruhe, sonst sitzt du auch gleich im Rollstuhl.“ – Auweia. Nix wie weg. Abends beim Zubettgehen zieht sich Marie aus, setzt sich mit freiem Oberkörper vor mich auf die Bettkante, presst ihre Brüste zusammen und sagt: „Die sind auch scharf, obwohl ich auf der Bettkante sitze. Oder?“ – „Rattenscharf“, antworte ich, ohne von meinem Handy hochzuschauen. Marie steckt einen Zeigefinger in den Mund, berührt anschließend mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine Brust, macht ein Geräusch, als wenn Wasser auf einer Herdplatte verdunstet, schüttelt den Finger mit schmerzverzerrtem Gesicht und tut so, als hätte sie sich verbrannt. Manchmal möchte ich sie stundenlang knuddeln.

Drama Nummer Zwei begann am nächsten Morgen kurz vor sechs. Während die Ersten es kaum mehr erwarten konnten, zu frühstücken und die erste Trainingseinheit des Tages zu beginnen und entsprechend schon komplett angezogen über die Flure rollten, klopfte es ganz vorsichtig an unserer Tür. Marie und ich lagen noch in unseren Betten. Jene Teilnehmerin, die am Tag zuvor die Kreislaufprobleme hatte, kam rein. Eine Zimmerkollegin läge weinend in ihrem Bett, alle glauben, sie hätte Heimweh. Nachdem ich mit Marie ausgeknobelt hatte, wer mitfährt und die Schere Papier schneiden kann, musste ich mit. Zehn Minuten, nachdem ich zwei Mitbewohner auf den Flur und die dritte zum Duschen geschickt hatte, wusste ich, was ihr Problem war. Kein Heimweh. Ein nächtliches urologisches Problem, dessen Folgen sich von der Zehenspitze bis zum Hals ausgebreitet hatten. „Aber deswegen weinst du jetzt nicht, oder?“, versuchte ich, maximal zu beschwichtigen. Ihre Reaktion: „Krieg ich Strafe?“

Ich nickte. Es schien sie nicht zu überraschen. Sie wollte nicht mal wissen, welche. Ich sagte: „Zur Strafe gibt es frische Bettwäsche.“ – „Petzt du das den anderen?“ – „Verpetz dich doch selbst.“ – Sie zeigte mir einen Vogel. – „Doch! Mach dich doch ein wenig lustig und sag, du warst im Traum schon eine Runde schwimmen.“ – „Die lachen doch alle über mich.“ – „Dann lach doch mit! Aber ich glaube das nicht mal, wer weiß, wer nächste Nacht die nächste ist. Was wäre eigentlich, wenn … das passiert wäre? Würdest du dann über sie lachen?“ – „Quatsch. Sie ist doch meine Freundin, die lach ich doch nicht aus.“ – „Und du? Bist du nicht die Freundin von …?“ – „Doch.“ – „Dann erzähl es ihr doch einfach. Ich bin mir sicher, sie kratzt das nicht mal. Ich hol sie mal rein, okay?“ – „Nein.“ – „Doch. Wie lange willst du denn da drin noch liegen bleiben?“ – „Sie soll das nicht sehen.“ – „Meinst du, sie weiß nicht, wie das aussieht?“ – „Ich will das nicht.“ – „Komm, Augen zu und durch. Danach geht es dir besser.“ – „Auf deine Verantwortung.“

Ich holte die Freundin mit ohne Kreislauf wieder rein. Sie fragte: „Geht es dir wieder besser? Was hattest du denn?“ – „Ich habe, ich hatte, ich war … schwimmen.“ – „Was?!“ – „Ich war schon schwimmen. Heute nacht.“ – „Ich versteh nur Bahnhof.“ – „Siehst du Jule, das funktioniert nicht. Dein Tipp war blöd.“ – „Was für ein Tipp? Heckt ihr hier irgendwas aus?“ – „Sie hat ins Bett gepisst.“ – „Echt?“ – „Boa, Jule, du bist echt sooo fies. Ich hasse dich!“ – „Ich weiß. Aber später wirst du mich dafür lieben. Und ewig kannst du es nicht geheim halten und irgendwann müssen wir auch mal frühstücken und mit dem Training anfangen. Also warum willst du noch eine halbe Stunde drum herum reden?“

Reaktion der Kreislauffreundin: „War das jetzt das ganze Problem? Warum ziehst du dir eigentlich nachts keine Pampers an? Dann kann sowas nicht passieren.“ – Kurz und schmerzlos. Nach dem Frühstück wurden die Trainingspläne verteilt. Die meisten Leute schreiben ihn sich mit einem dünnen Edding auf den Unterarm, dann haben sie ihn immer dabei. Die beiden besagten Freundinnen hatten sich gegenseitig auf den Rücken geschrieben: „Ich [Herz] Jule!“ – Irgendwann mitten in der Trainingseinheit sah ich das. Wie süß!!! Genauso süß fand ich eine andere Teilnehmerin, 14 Jahre alt, die nach dem Mittagessen plötzlich neben mich rollte, meinen Hals umklammerte, mich zu sich zog und mir einen dicken Kuss auf die Wange gab. Ich weiß zwar nicht, wofür genau, das muss ich aber auch nicht wissen. Die anderen Trainerinnen und Betreuerinnen bekamen auch einen. Marie bekam abends in einem Aufenthaltsraum mit Kaminfeuer, in dem ein Disko-Abend stattfand, inklusive Sing-Star-Wettbewerb, von mehreren älteren Teilnehmerinnen eine Schulter-Nacken-Massage und von der jüngsten ein mit Filzstiften gemaltes Bild, das sie im Becken zeigt, während Marie im Rollstuhl sitzend am Beckenrand steht und sie daran erinnert, dass sie beim Kraulschwimmen die Ellenbogen hoch nehmen soll…

In der letzten Nacht gab es in unserem Zimmer ein Problem mit dem Heizkörper, aber Marie und ich sind ja schon erprobt im Bettenteilen und einander Wärmen. Entsprechend war die zweite Nacht extrem kuschelig. Am letzten Tag war die legendäre Bierstaffel der Hit. Wobei es diesmal kein Malzbier gab, sondern Apfelsaft. Das hatte logistische Gründe, trotz entsprechender Bestellung war kein Malzbier zu finden. Was seine Vorteile hatte, weil dann nicht die Hälfte der Leute unter sich ausmacht, wer am lautesten rülpsen kann, aber auch seine Nachteile, denn einen Drittelliter Malzbier kippt man schneller weg als einen Drittelliter Apfelsaft. Bei einer Bierstaffel treten mehrere Mannschaften gegeneinander an: Nacheinander müssen die Schwimmer durch die 50-Meter-Bahn, drüben raus, einen Becher Bier (oder Apfelsaft) leeren, wieder zurück. Bei Erwachsenen muss meistens ein halber Liter Bier getrunken werden, so dass die Staffel meistens am letzten Abend stattfindet. Schön ist es, wenn die Anzahl der Leute sich nicht durch die Anzahl der Mannschaften teilen lässt und jemand doppelt schwimmen muss. Und wenn es dann noch eine Revanche gibt… Ich weiß, es gibt sinnvollere Spiele, aber der Bogen kann nicht immer gespannt sein.

Die Rückfahrt verlief unspektakulär. Am Montag bekam ich von der Mutter der Nachtschwimmerin eine Mail mit einem relativ kurzen Text: „Schön, dass du …s Malheur so professionell gehändelt hast. Ich glaube, sie ist total in dich verknallt. Sie hat den ganzen Abend pausenlos von dir erzählt. Wir möchten einfach nur Danke sagen für euer aller Engagement. Das ist nicht selbstverständlich.“ – Nachdem auch Marie, Tatjana und die anderen beiden Betreuer und Trainer Nachrichten von dieser Mutter bekommen haben, möchte ich mal eins festhalten: Es war eine der harmonischsten und damit auch entspanntesten und damit auch schönsten Veranstaltungen seit langer Zeit. Die kleinen Fruchtzwerge haben es geschafft, mich ein Wochenende lang aus meinem Prüfungsstress zu holen. Toll.

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