Nochmal die Sonne sehen

Wer eine andere Person körperlich misshandelt, wird bestraft. Wer eine Sache wegnimmt, um sie sich zuzueignen, wird bestraft. Wer in der Absicht, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen, indem er einen Irrtum erregt, wird bestraft. Wer zur Täuschung eine Urkunde verfälscht,
wird bestraft. Wer in die Wohnung eines anderen eindringt, wird bestraft.

Nahezu egal, welchen Paragrafen ich mir im deutschen Strafgesetzbuch ansehe, immer wird die Tat beschrieben, die „wer“ verüben muss, um bestraft zu werden. Bis auf eine einzige Ausnahme: Beim Mord. Der Mörder
wird auch bestraft, klar. Aber hier wird nicht beschrieben, was ein Mord ist, sondern wer Mörder ist. Mörder ist nämlich, wer aus niedrigen Beweggründen heimtückisch einen Menschen tötet.

Die Gesetzestexte habe ich in dem obigen Beispiel verkürzt und vereinfacht, um auf den Kern der Sache zu kommen: Nachdem Wissenschaftler herausgefunden haben, dass diese Abweichung von dem üblichen Vorgehen, die Tat und nicht den Täter zu beschreiben, auf den Nationalsozialismus zurückzuführen sei, wird eine möglichst rasche Anpassung des Paragrafen 211 gefordert. Unser aktueller Bundesjustizminister hat bereits einige Experten aufgefordert, auch beim
Mord die Tat und nicht den Täter zu suchen und entsprechende Vorschläge
für einen neuen Gesetzestext auszuarbeiten.

Ein wohl am häufigsten diskutierter Entwurf stammt vom „Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizer Strafrechtslehrer“. Er wird vom Deutschen Anwaltsverein als gründlichster und umfassendster Reformentwurf bezeichnet und sieht unter anderem vor, die lebenslange Freiheitsstrafe nur zu verhängen, wenn besonders erhöhtes Unrecht verwirklicht ist, das die Lebenssicherheit der Allgemeinheit zu bedrohen
geeignet ist. Das sei zum Beispiel der Fall, wenn der Täter einen Menschen „wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens oder seiner religiösen oder seiner politischen Anschauung tötet.“

Ich bin keine Juristin. Ich habe auch keinen Juristen um Rat gefragt.
Sondern mir ohne Jura ein eigenes Urteil gebildet. Und bin dabei auf eine Frage gestoßen, die mich schon mehrmals beschäftigt hat. Obwohl ich
mir nie im Leben vorstellen könnte, einen Menschen mutwillig zu töten, weiß ich, dass Menschen getötet werden. Und teilweise aus banalen sowie lebens- und menschenverachtenden Gründen. Wenn jemand einen Menschen wegen seiner Hautfarbe tötet, sei nach dem zitierten Entwurf ein besonders erhöhtes Unrecht verwirklicht. – Was ist denn eigentlich, wenn
jemand wegen seiner Behinderung, oder besser, wegen einer körperlichen,
seelischen oder kognitiven Beeinträchtigung getötet wird?

Huch? Ja. So etwas gibt es. Und dazu gibt es beispielhaft die eine oder andere Sichtweise, die ich zwar inhaltlich begreifen, mit dem Herzen aber nicht nachvollziehen kann. Nach aktueller Rechtsprechung verhält es sich zum Beispiel so, dass Heimtücke (ein Mordmerkmal, und damit ein Baustein für ein höheres Strafmaß) voraussetzt, dass das Opfer
arglos war. Arglos kann nur sein, so die gängige Rechtsauffassung, wer zumindest zeitweise argwöhnisch ist. Jemand, der schwere kognitive Einschränkungen hat und deshalb vor niemandem Angst hat oder wenigstens Misstrauen hegt (sondern wie ein Hund, der das Schnitzel in der Hosentasche riecht, mit jedem Menschen mitlaufen würde) ist nicht argwöhnisch und kann folglich auch nicht arglos sein. Wird also so ein Mensch beispielsweise im Schlaf getötet, fehlt (und nun wird es paradox!) bei einem kognitiv eingeschränkten Menschen das Mordmerkmal der Arglosigkeit. Weil ein Mensch mit kognitiven Einschränkungen tagsüber keinen Argwohn entwickelt, wird sein Mörder folglich anders bestraft als der Mörder desjenigen, der keine Behinderung hat und der tagsüber Argwohn und Misstrauen entwickeln kann.

Aber damit nicht genug. Anderes Beispiel: Eine Mutter, die ihr behindertes Kind jahrelang selbst pflegt, aufopferungsvoll und voller Liebe, merkt irgendwann, dass ihr Kind sie vermutlich überleben wird. Wie auch nicht behinderte Kinder ihre Eltern regelmäßig überleben. Regelmäßig kommt es vor, dass Mütter ihre schwer beeinträchtigten Kinder
„aus Liebe“ töten, oft zusammen mit einem eigenen Suizid (-versuch). Aktuell gibt es in Hamburg gerade wieder so einen Fall. Das Urteil wird in wenigen Stunden erwartet, der Staatsanwalt fordert maximal 2 Jahre Haft auf Bewährung wegen Totschlag in einem minder schweren Fall. Sie habe befürchtet, dass die Tochter in ein Pflegeheim müsse, wo sie „womöglich nicht ihren besonderen Bedürfnissen entsprechend behandelt“ würde. Sie musste die Tochter zunächst betäuben, damit sie sich beim Erwürgen nicht wehrt.

Ohne jeden Zweifel, die Mutter hatte es schwer. Zu der Zeit, als sie entschieden hat, ihre Tochter zu pflegen, waren Menschen mit Behinderung
in der Öffentlichkeit eine Attraktion. Sie wurden übedies entmündigt, sie kamen in Heime, wurden dort oft nicht menschlich behandelt. Ich selbst habe Horrorgeschichten aus erster Hand erzählt bekommen von Menschen, die mir regelmäßig über den Weg rollen. Ich selbst habe schreckliche Erlebnisse mit Maria live erlebt. Und ich kann verstehen, wenn nach langen Jahren der Blick der Mutter nicht mehr neutral ist. Wenn sie es nicht mehr schafft, sich Hilfe zu holen.

Aber trotzdem bin ich der Meinung, liebe Gesellschaft, wir machen etwas falsch, wenn wir das Leben eines Menschen mit einer Behinderung deswegen nicht als gleichwertig ansehen, weil der Getötete zu Lebzeiten eine Last war. Ich glaube kaum, dass das Strafmaß ähnlich niedrig ausfallen würde, wäre die Tochter ohne eine kognitive Einschränkung. Ich
halte es für absolut falsch, die Behinderung, das Wechselspiel zwischen
einer persönlichen Beeinträchtigung und den Barrieren der Umwelt, nur dem getöteten Menschen zuzuschreiben und das tätliche, vorsätzliche Beenden eines gleichwertigen Menschenlebens mit einer Bewährungsstrafe zu ahnden.

Und einen Mord wegen einer Behinderung bei der nächsten Strafrechtsreform nicht mit erhöhtem Unrecht zu verbinden. Es wäre ein deutliches Zeichen der Politik an die Gerichte, dass auch das bei den Nationalsozialisten lebensunwerte Leben heute gleichberechtigt schützenswert ist. Ein Zeichen, das die betroffenen (oder hoffentlich) beschützten Menschen mit kognitiven Einschränkungen vielleicht gar nicht
begreifen können. Das aber klarstellt, dass ihre Tötung nicht nur mit einem Warnschuss auf Bewährung gesühnt wird. Und damit vielleicht am Ende gar nicht so schlimm ist. Das klarstellt, dass Menschen, die nicht selbst für sich sorgen können, in großer Gefahr sind, wenn sie alleine von einem Menschen, von der Mutter, abhängig sind. Dass diese Menschen, dass diese Mütter ein gutes Hilfspaket brauchen, das Leben wertvoll macht.

Ich stelle mir vor, ich müsste hoffen, niemals selbst an einen aufopferungsvollen Pfleger zu kommen, der es am Ende gut mit mir meint –
und mein Leben dann beendet, wenn ich eigentlich noch jede Menge vor habe. Und sei es, dass ich morgen die Sonne nochmal sehen möchte.

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