Gerade vor zwei Wochen hatte ich schon eine Diskussion mit einem Oberarzt, die ich hier
beschrieben hatte. Mein Praktikum ist vorbei, bis zum Ende des Semsters
habe ich nur noch einen halben praktischen Tag pro Woche.
Und genau an diesem praktischen Nachmittag, an dem ich eigentlich nur
in der inneren Ambulanz mitlaufen (oder mitrollen), zuschauen, was lernen, einzelne Parts unter Aufsicht übernehmen soll, steppt dort, wie eigentlich immer, der Bär. Entsprechend hat eigentlich niemand Zeit und ich lerne kaum neue Dinge, sondern bekomme lediglich Routine im Zugänge legen und Blut abnehmen. Mein freundlicher Oberarzt war auch wieder am Start: „Sie schallen in der Drei mal den Oberbauch und sagen mir, ob dort Ihrer Meinung nach alles in Ordnung ist. Die Patientin gibt an, immer mal wieder Schmerzen an der rechten untersten Rippe zu haben.“
Wenn der so fragt, ist da natürlich nicht alles in Ordnung. Stinkesocke, such den Fehler! Eine Frau, Mitte 60, deutlich übergewichtig, lag auf der Liege, ihr Mann saß auf einem Stuhl. Begrüßt wurde ich mit den Worten: „Endlich passiert hier mal was!“ – „Guten Tag,
Frau …, mein Name ist Jule Stinkesocke, ich bin Studentin und ich würde
mir gerne Ihren Bauch per Ultraschall anschauen. Sind Sie damit einverstanden?“ – „Ultraschall ist das ohne gefährliche Röntgenstrahlen,
oder? Das macht keinen Krebs, oder?“ – „Nein, Ultraschall macht keinen Krebs. Ultraschall ist ein hoher Piepston, den das menschliche Ohr nicht
mehr hört, und dessen Echo stellt das Gerät als Bild dar.“ – „Und das ist nicht gefährlich?“ – „Nein, das macht man auch bei Schwangeren, das ist ungefährlich.“ – „Ach, das ist das mit dem kalten Glibberkram, das kenn ich ja schon. Das können Sie machen.“
Stinkesocke nimmt den Schallkopf in die Hand, aber außer Schneegestöber ist auf dem Bildschirm nichts zu erkennen. Irgendein runder Schatten wandert da ständig von oben nach unten, aber der wandert
auch, wenn der Schallkopf frei in der Luft hängt. Habe ich alles richtig ausgewählt? Sind alle Stecker richtig drin? Hmpf. Irgendwas stimmt hier nicht. Aber bevor ich hier irgendwas kaputt mache, frage ich
lieber. Ich rolle zurück, der Oberarzt schreibt gerade etwas am Computer. Ohne mich anzugucken fragte er: „Na? Haben Sie was gefunden?“
Ich antworte: „Irgendwie noch nicht. Ich bekomme kein vernünftiges Bild auf den Monitor.“ – „Dann schmieren Sie da halt nicht so rum und nehmen weniger Gel!“ – „Ich habe das so wie immer gemacht, ich vermute eher, dass mit dem Gerät etwas nicht stimmt. Das zeigt nur Schnee und ein Schatten wandert einmal von oben nach unten.“ – „Sie finden den Fehler schon. Kleiner Tipp: Weniger Gel.“
Okay. Weniger Gel. Die Patientin wird schon ungeduldig, ich halte den
Schallkopf erstmal auf meinen Unterarm. Die Patientin guckt mich fragend an: „Ich habe das Gefühl, als wenn das Ding kaputt ist. Das liefert überhaupt kein vernünftiges Bild.“ – „Macht er doch Krebs?“ – „Nein. Ich muss mal einen Kollegen holen. Tut mir leid, kleinen Moment bitte.“
Im Zimmer nebenan höre ich die vertraute Stimme einer freundlichen Ärztin. Ich klopfe vorsichtig an die Tür, schiebe sie einen Spalt zur Seite. „Entschuldigung, können Sie mir bitte später einmal bei einem Sono helfen?“
In dem Moment kommt der Oberarzt über den Flur. „Was machen Sie da? Halten Sie nicht die Kollegen von ihrer Arbeit ab. Nehmen Sie weniger Gel. Weniger Gel, verstehen Sie? Wenig. Nicht so viel.“ – Er geht weiter
und verschwindet im Treppenhaus. Ich schlucke. Und gucke noch einmal durch den Türspalt. Die Ärztin nickt und sagt: „Ich komm gleich. Wo sind
Sie?“ – „Nebenan in der Drei.“ – „Das Gerät ist kaputt. Schauen Sie mal, ob in der Zwei oder in der Eins noch eins steht und gerade nicht gebraucht wird. Ich helfe Ihnen aber sonst gleich beim Schieben.“
Na super. Weniger Gel. In der Zwei liegt niemand, das Papierlaken ist
zerknittert, ein Ultraschallgerät steht dort, abgestöpselt. Ein schöner
Schiebegriff ist dran, das ist nicht anders, als wenn ich meinen Sportrollstuhl vor mir herschiebe. Als ich mittig zwischen den beiden Untersuchungsräumen bin, kommt der freundliche (ach nee, ich soll
ja nicht zynisch sein) Oberarzt wieder aus dem Treppenhaus. Und poltert
los: „Was machen Sie da? Wenn ich sage, dass Sie weniger Gel nehmen sollen, dann haben Sie nicht aus anderen Räumen die Geräte umzuparken. Stellen Sie sich mal vor, dass in die Zwei jetzt ein Notfall reinkommt und der Kollege sucht dann erstmal eine halbe Stunde das Gerät, weil er zuletzt vermutet, dass in der Drei zwei davon stehen.“
Bevor ich was sagen kann, geht die Tür vom vierten Behandlungsraum auf. Die Ärztin kommt aus der Tür und sagt: „Ich habe sie gebeten, ein anderes Gerät zu holen, weil das in der Drei kaputt ist. Das hängt sich in einer Tour auf.“ – „Wieso ist denn das kaputt? Und wieso wird da nicht gleich die Technik angerufen?“ – „Da muss die Firma kommen, das ist alles schon angestoßen.“ – „Und wieso hängt das hier überhaupt noch am Strom? Da gehört ein Zettel dran, dass es defekt ist und in Kürze repariert wird.“ – „Der Außendienst von der Firma kommt in den nächsten Stunden und er hat gebeten, das nicht auszuschalten, weil er das gerne sehen möchte. Nach einem Neustart funktioniert das nämlich meistens wieder. Für 10 Minuten, und wenn der Techniker daneben sitzt auch für 5 Stunden.“ – „Das sollte uns allen mal zu denken geben. Ein Zettel gehört
da trotzdem dran. Bevor noch zwanzig andere Leute das ausprobieren oder
den Stecker ziehen.“
Ich schiebe das Gerät in die Drei, die Ärztin kümmert sich bereits um
ihren nächsten Patienten, der Oberarzt verschwindet im Dienstzimmer. Während ich das Gerät vorbereite, erzählt mir die Frau von kolikartigen Schmerzen im rechten Oberbauch, verbunden mit zeitweiligem Hustenreiz beim Bücken. Im Moment habe sie aber keine Beschwerden. Ich fasse mich kurz: Ich sehe einen Schatten zwischen Brustkorb und Lunge, das könnte eine milchige Flüssigkeit sein, dazu vier kleine und zwei relativ große Gallensteine, fünf sind in der Gallenblase und ein kleiner hat es sich mitten im Gallengang bequem gemacht. Beim ganzen Rest fällt mir nichts auf. Ich mache vier schöne Prints. „Haben Sie was gefunden?“, fragt mich
die Patientin.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich würde das jetzt einmal kurz mit meinem
Chef besprechen und dann komme ich wieder zu Ihnen.“ – „Ist es Krebs?“ –
„Ich habe keinen gesehen.“ – „Was denn?“ – „Ich bin mir nicht sicher. Ich habe hier ja nur ein Schwarz-Weiß-Bild, und das kann immer nur ein erfahrener Arzt beurteilen. Ich kann erstmal nur raten, und das bringt Sie nicht weiter.“
Ich rolle zum Oberarzt. Ohne von seinem Computer hochzuschauen, fragt
er: „Na, jetzt was gefunden?“ – „Ich denke ja.“ – „Was ist es Ihrer Meinung nach?“ – „Ich habe sechs Gallensteine und vermutlich einen Pleuraerguss gesehen.“ – „Einen Pleuraerguss?“ – „Ich denke schon. Ich hab das mal ausgedruckt.“ – Er kommt auf seinem Drehstuhl sitzend zu mir
geschossen und sagt: „Was, der Schatten hier? Das ist ein Schallschatten.“ – „Meinen Sie? Wovon denn? Ich habe den von unten auch nochmal…“ – „Was drucken Sie hier so viel rum? Wissen Sie, was das kostet?“ – „Nein.“ – „Viel Geld.“ – „Ich dachte mir, das ist auf dem einen Bild nicht eindeutig zu sehen, deshalb hatte ich das zweite Bild für nötig gehalten.“ – „Ich gucke mir das nochmal genau an. Sie können sich inzwischen mit der Kollegin in der Eins mal eine entzündete Bauchspeicheldrüse anschauen.“
Ja, natürlich. Und am Ende? Stickesocke hatte Recht. Nicht nur die Gallensteine, sondern auch eine fette (rund 1.250 ml) Wasseransammlung zwischen Lunge und Rippenfell, die punktiert werden musste, gab es bei dieser Patientin zu sehen. Irgendwie hat mich das gefreut. Nicht für die
Patientin, aber für mich. Ach, und bevor ein falscher Eindruck entsteht: Natürlich gibt es hier ganz viele nette Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger – und viele andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kommilitoninnen und Kommilitonen. Und ne Stinkesocke.