Ich warne vor: Das, was hier kommt, verdirbt möglicherweise den Appetit… Stell dir vor, du wachst nachts um halb vier auf, die Blase randvoll, du spürst starken Harndrang. Was machst du?
Naja, sicherlich nicht ins Bett. Unter normalen Umständen zumindest nicht. Meine Oma hat mir früher von Zeiten erzählt, in denen man einen Nachttopf neben dem Bett stehen hatte. Als die Toilette noch im Garten stand und man sonst durch den Schnee tigern müsste. Und irgendwann im Alter kommt meistens der Tag, an dem man wieder einen Topf im Zimmer stehen hat. In einem Toilettenstuhl oder ähnliches. Vielleicht zu Hause,
vielleicht im Pflegeheim.
Wenn man nun sehr krank oder körperlich schwer eingeschränkt ist, aber seinen Blasenschließmuskel durchaus noch kontrollieren kann (ob nun
durch aktives Anspannen oder durch Kompensation, durch die sich beispielsweise auch bei einer Querschnittlähmung eine relative Kontinenz
erreichen lässt), vermittelt es durchaus eine hohe Lebensqualität, wenn
man seine körperlichen Abwässer dort entsorgen kann, wo sie hingehören.
Oder wohin man sie zumindest übergangsweise mit einiger Würde umfüllt.
In unserer Kultur pinkelt man überwiegend ins Klo. Es spricht sicherlich nichts dagegen, sich auch mal hinter einen Busch zu hocken oder, falls männlich, an einen Baum zu stellen. In Brasilien wird öffentlich empfohlen, beim Duschen zu strullern, um Wasser zu sparen. Und vielleicht gibt es noch die eine oder andere akzeptable Besonderheit
– nur dann ist irgendwann Schluss mit dem, was man jedem zumuten kann.
Wenn ich mich entscheide, unterwegs in eine Pampers zu machen, weil das Bahnhofsklo zu widerlich ist, um es anzufassen (schließlich muss ich
mich überall aufstützen), ist das ein Kompromiss, den ich bewusst eingehe. Kein schöner Kompromiss, aber einer, den ich nach gründlicher Abwägung freiwillig eingehe, um andere Freiheiten, die mir sonst mit meiner körperlichen Einschränkung nicht offen stehen, zu erreichen. Wenn
ich nach einer Kneipennacht mit Pampers schlafe, weil mich meine volle Blase nicht weckt und ich mir auch nicht unbedingt zwei Mal einen Wecker
stellen möchte, sondern durchschlafen kann, ist das auch meine persönliche Entscheidung. Und ja, ich kenne auch Menschen, die im Bett auf einer Zellstoffunterlage abführen, weil sie wegen ihrer Querschnittlähmung nur in seitlicher Liegeposition die Spannung aufbauen
können, die der Enddarm braucht – sofern man nicht digital ausräumen will. Auch ein Kompromiss. Aber alles persönliche freie Entscheidungen.
Wenn man nun so stark körperlich eingeschränkt ist, dass man nachts nicht mehr alleine auf ein Klo, einen Topf oder einen Toilettenstuhl kommt, muss die Frage erlaubt sein, ob nachts ein Pflegedienst vorbei kommt, der die betroffene Person einmal zur Toilette bringt. Ein solcher
Einsatz kostet in der Regel unter 10 €, denn dafür steht nicht jemand extra auf. Viele Menschen brauchen nachts Pflege, und sei es, dass sie umgelagert werden müssen, weil sie sich sonst wundliegen. Es gibt in jedem Pflegedienst Kräfte, die nachts unterwegs sind und von einem Patienten zum nächsten fahren. Einen Schlüssel haben, in die Wohnung kommen, denjenigen neu lagern oder ähnliches tun, und wieder wegfahren.
Eine heute 70jährige Britin aus London hat eine solche Leistung bei dem für sie zuständigen Sozialamt beantragt. Der Antrag wurde zunächst bewilligt, inzwischen aber wegen neuer Vorschriften abgelehnt. Es hieße,
sie könne auch abends auf eine Zellstoffunterlage gelegt werden, und wenn sie dann nachts eine volle Blase verspürt, lässt sie es einfach laufen.
Ich will niemanden an den Pranger stellen, der das so macht. Wenn sich jemand dafür entscheidet, auf so eine Unterlage zu pinkeln und die anschließend zu entsorgen, ist das seine Sache. Ich kenne auch Leute, die sowas machen. Gerade wenn jemand sehr eingeschränkt ist, hängen manche Messlatten anders. Aber: Das muss bitte jeder selbst für sich entscheiden dürfen.
Die Frau aus London fand das entwürdigend und hat sich gegen die Entscheidung der Sozialbehörde, sie solle statt aufs Klo lieber auf eine
Zellstoffunterlage pinkeln, gewehrt. Gestern hat das höchste Gericht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, geurteilt, dass eine solche Behandlung nicht gegen die Menschenrechte verstoße. Staaten dürften Pflegebedürftigen auch gewisse Unannehmlichkeiten zumuten, um dem Steuerzahler oder der Solidargemeinschaft Geld zu sparen. Die Mittel für soziale Ausgaben seien notwendig begrenzt. Die Staaten hätten einen weiten Spielraum, wie sie diese Mittel einsetzen wollen. Zwar sei die Klägerin in ihrem Recht auf Privatleben betroffen, weil sie Inkontinenzunterlagen verwenden muss, obwohl sie gar nicht inkontinent ist. In Abwägung mit den wirtschaftlichen Interessen von Staat und Gesellschaft müsse sie ihre „sehr unglückliche Situation“ aber
hinnehmen. In einer demokratischen Gesellschaft seien derartige Eingriffe unvermeidbar.
Tja. Was kommt als nächstes? Rollstuhlfahrer pinkeln zu Hause in die Hosen, schließlich sieht es dort niemand?