Jeder kennt sie, niemand erlebt sie gerne, aber es gibt sie immer wieder: Die Tage, die morgens schon verbraucht sind. So einer war heute.
Bei mir.
Ich musste wegen meines Praktikumstages früh aufstehen, bin noch vor Mitternacht entsprechend früh ins Bett, als mich eine Kommilitonin anrief. Ich nenne sie mal Regina. Mein Handy war lautlos, da ich aber noch nicht schlief, sah ich es leuchten. Da war es etwa 22.20 Uhr. Irgendwie ahnte ich, es würde irgendetwas wichtiges sein. Und ich merkte
schon bei den ersten beiden Sätzen, dass mit Regina irgendwas nicht stimmte. Sie bat mich um Hilfe. Sie sei in einer Klinik, rund 25 Kilometer von meiner Wohnung entfernt, nachdem ein Mann … und weiter sprach sie nicht, sondern fing an zu heulen.
Ich muss dazu sagen: Ich kannte Regina kaum. Wir haben im Rahmen einer Gruppenarbeit vielleicht 10 oder 15 Stunden zusammen gearbeitet, wir haben uns mehrmals über persönliche Dinge unterhalten, wir sind einmal zusammen Essen gegangen, sie hat mir sehr viel von sich erzählt (umgekehrt eher weniger) und ich weiß von ihr, dass sie jede Menge Probleme hat, vor allem familiäre und finanzielle. Sie ist bereits Anfang 30, hat aber eben wegen dieser Problem noch lange keinen Studien-Abschluss.
Ob ich sie abholen könnte. Sie möchte einfach nicht alleine durch die
Dunkelheit mit dem Bus. Bevor ich überhaupt reagieren konnte, flehte sie mich an. Ich sagte ihr: „Eine gute Stunde wird es aber dauern, bis ich da bin.“ – Das sei kein Problem.
Während ich mich anzog, ging mir alles mögliche durch den Kopf. Und ich weiß nicht warum, aber irgendwas sagte mir: ‚Fahr da nicht alleine hin!‘ Mein Bauch vermutlich. Mein Kopf sagte: ‚Fahr da gar nicht hin!‘ –
Ich hätte mich am liebsten gedrückt. Aber wenn jemand Hilfe braucht… Ich rief eine andere Kommilitonin an und erreichte sie – bei ihrem Freund auf dem Sofa. Sie und ihr Freund sind frisch verliebt, haben zusammen gekocht. Ich erzählte ihr von dem Anruf und dass ich zu dieser Klinik fahren wollte. „Ich komme mit“, sagte die Kommilitonin, sehr zur Verärgerung ihres Freundes, der sich wohl schon lange auf diesen gemeinsamen Abend mit ihr gefreut und ihn sich bestimmt anders vorgestellt hatte. Sie meinte, sie packt noch eine Jogginghose und ein Sweatshirt ein, man wisse ja nie. Ich wusste, dass die Kommilitonin und Regina etwa genauso eng miteinander bekannt sind wie Regina und ich.
Das Navi führte uns, niemand von uns sagte mehr als drei Sätze. Dann haben wir es nicht gleich gefunden, sind an der Einfahrt erst vorbei gefahren, mussten wenden. Und als wir endlich auf dem Parkplatz standen,
hatte Regina eine derart schlechte Laune und einen derart vorwurfsvollen Ton aufgelegt, dass ich fast Angst bekam. Sie machte in erster Linie meine Beifahrerin, dann aber auch mich an, warum sich nun noch andere Leute in ihr Privatleben einmischen würden, und dass es doch
toll sei, wenn man sich gemeinsam über sie lustig machen könne. Ich habe einmal versucht, mit Regina zu reden und ihr zu erklären, dass die zweite Person mitgekommen ist, weil wir uns Sorgen um sie machen. Nur deshalb sind wir hier – und nicht, um über sie zu lachen.
Regina meinte, sie wisse nicht, ob sie mir als Freundin überhaupt vertrauen könne. Normalerweise würde ich ihr den Stinkefinger zeigen und
Adieu sagen, nur wenn sie wirklich gerade irgendein traumatisches Erlebnis gehabt hat, tickt ja nichts normal. Andererseits: Wenn sie so unnormal tickt, wohin sollte ich dann mit ihr? Sie nach Hause bringen? Und dort alleine lassen? Konnte ich das verantworten? Regina sagte: „Entweder, du fährst mich jetzt ohne ein Wort zu mir nach Hause, oder ich rufe mir ein Taxi.“
Ich sagte: „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, wenn ich du
alleine zu Hause bist.“ – Regina antwortete: „Also willst du mir nicht helfen, dann vergiss es einfach. Danke, dass du mich hier eine Stunde stehen lassen hast, ich hätte schon zu Hause sein können.“ – „Hättest du“, murmelte ich. – Sie antwortete: „Dein letztes Wort? Du nimmst mich nicht mit?“ – „Richtig. So würde ich dich nicht mitnehmen wollen.“ – „Dann noch einen schönen Abend, und unsere Freundschaft kannst du dir in
die Haare schmieren.“ – „Okay, tschüss.“
Ich rollte in die Klinik, hauptsächlich, um einmal die Toilette zu benuten. Die Klinik hatte keine Notaufnahme, nur eine Notdienstschwester, die mir auf dem Gang über den Weg lief und mich gleich fragte, wohin ich wollte. Ich fragte, ob ich einmal die Toilette benutzen könne und erzählte ihr, dass ich gekommen war, um Regina abzuholen. Nun würde sie aber wohl mit dem Taxi nach Hause fahren. Die Schwester sagte: „Das ist wohl auch das Beste.“ – Ich antwortete: „Ich mache mir Sorgen um sie! Müsste man sich nicht um sie kümmern?“ – „Theoretisch schon, aber wenn sie sich nicht helfen lassen will, können wir niemanden zwingen.“ – „Naja, nach so einem Ereignis … bräuchte sie da nicht vielleicht ein umfassendes Hilfsangebot?“ – „Von welchem Ereignis sprechen Sie?“ – „Sie hat mir am Telefon erzählt, ein Mann habe
sie missbraucht.“ – „Aha. Dazu kann ich nichts sagen.“ – „Nein, müssen Sie auch nicht. Sie hat es mir erzählt.“ – „Sagen wir mal so: Bei solchen akuten Dingen würden wir niemanden einfach so gehen lassen.“ – „Wollen Sie damit sagen, das stimmt nicht, was sie erzählt?“ – „Das haben Sie gesagt, nicht ich. Ich darf mit Ihnen nicht über die persönlichen Verhältnisse Ihrer Freundin sprechen.“
Das ist jawohl eindeutig. Eigentlich. Ich frage mich noch, wem ich hier glauben soll. Bleibt nur zu hoffen, dass sich das noch aufklärt. Mit Verlaub, irgendwie habe ich das Gefühl, es sind gerade zu viele Psychos in meinem Leben. Vielleicht lag es aber auch einfach nur am Luftdruck. Der soll ja in der letzten Nacht außergewöhnlich stark gestiegen sein. Von um zwei bis um fünf habe ich dann mal geschlafen, beim Praktikum ging es ähnlich merkwürdig weiter. Heute morgen in der inneren Aufnahme wurden auch fast nur komische Leute angespült.
Gleich Nummer 2 sitzt um Zwanzig nach Acht auf der Liege, schaukelt mit den Beinen, ein Hosenbein aufgekrempelt, das andere nicht, hat Stöpsel im Ohr, die er erst rausnimmt, nachdem ich ihn anticke. Er sagt:
„Ich brauche dringend diese Kautabletten, dass ich nicht so oft rülpsen
muss, wenn ich Brause trinke.“ – „Ähm, was?“ – „Ja, dringend!“ – „Sie sind in einer Notaufnahme!“ – „Ja, ist ein Notfall! Die Tabletten sind alle.“ – „Mein Kollege kümmert sich um Sie.“
Nummer 3 hat Schmerzen in der Nierengegend. Pinkelt auf Aufforderung blutigen Urin in den Becher. Ich frage ihn nach Fieber und so weiter, und dann, ob ich ein Ultraschall von seinen Nieren machen kann. Er antwortet: „Ja und nein.“ – „Wie meinen Sie das?“ – „Ich habe nur noch eine Niere.“ – Nachdem ich aus dem Bild nicht schlau werde, hole ich einen Arzt dazu. Der veranlasst eine Röntgenaufnahme. Gefunden wird: Eine Harnleiterschiene, also ein Schlauch, der mit einem Endoskop mal in
den Harnleiter (zwischen Blase und Niere) eingebracht worden ist, vermutlich wegen Nierensteinen. Diese Harnleiterschiene ist an den Enden
wie ein Schweineschwanz gedreht, damit sie nicht rausrutscht. Und laut Patient liegt sie schon seit mehreren Jahren – soll aber eigentlich nur maximal wenige Wochen liegen. Mahlzeit. Er sagt: „Die hat nie Probleme gemacht.“ – „Bis heute“, meinte der Doc. Vermutlich ist das inzwischen alles eine Einheit.
Nummer 4 ist ein Ehepaar, er war mir schon aufgefallen, weil er seine
Frau mit einer weinroten E-Klasse-Limousine bis direkt vor den Eingang gefahren und das Auto mit laufendem Motor und Auspuff in Richtung Eingang stehen gelassen hatte. Sie spricht mich sofort an: „Oh nein, Rollstuhl ist ja nichts. So jung, wie sie noch sind! Blase kaputt, Darm kaputt, funktioniert denn wenigstens noch der Sex?“ – Wer mich so begrüßt, muss mit solcher Antwort rechnen: „Vorführen muss ich es jetzt aber nicht, nein?!“
Ein anderer, späterer Patient, er sprach nur gebrochen Deutsch, beschrieb sein Problem so: „Ich habe starke Regelschmerzen.“ – „Hier steht, Sie sind männlich?“ – „Nee, im Kopf!“ – „Sie meinen, Sie haben regelmäßig Kopfschmerzen?“ – „Nee, nur heute.“ – „Also Kopfschmerzen.“ –
„Nein Regelschmerzen. Stark. Hier oben.“ – Der Doc klärte auf: Könnte es eine Wetterfühligkeit sein? – „Ja, habe ich manchmal, dass Kopf schmerzt wenn Gewitter naht.“
Und kurz vor der Frühstückspause war da dann noch das Kind, das zu viel pupst. Vor allem beim Frühstück, was Mama nicht so klasse findet. Und vor allem, wenn es am verlängerten Wochenende bei Papa war. Denn Papa brät gerne Bratkartoffeln mit Zwiebeln. Ich schreibe alles über diesen absoluten Notfall brav auf und frage: „Wann hat Ihre Tochter zuletzt abgeführt?“ – „Lulu, hast du heute morgen bei Papa einen Stinker
gemacht?“ – Was sagt die kleine Lulu: „Nein zwei.“
Um kurz vor Mittag kam noch einer, der glaubte, er habe MS. Er war ganz aufgeregt. Er hat irgendeine Apotheken-Zeitung gelesen und befunden, dass alle Symptome, die dort beschrieben waren, manchmal auch auf ihn zuträfen. Ob er denn aktuelle Beschwerden hätte, wollte ich wissen. Nö, im Moment nicht. Aber er habe alles das, was da steht, schon
mal gehabt. Einschließlich zitternde Oberlider. Vor allem links, wo das
Herz sitze. Da ich das nicht offiziell bewerten darf, schreibe ich auch
das alles brav auf.
Und manchmal bin ich einfach nur froh, wenn ich mich danach wieder mit einfachen Dingen beschäftigen darf. Wie „auf den Bus warten“ oder „Hübsche Wolken am Himmel zählen“. Oder sowas.