Keine Campingliegen, keine Feldbetten, sondern Holzpaletten mit aufblasbaren Luft-Schaumstoff-Rollmatratzen und Schlafsäcken. Die Paletten und Matratzen sowie die persönlichen Schlafsäcke (sofern man es
geschafft hatte, kurzfristig jemanden damit in Hamburg zum Hauptbahnhof
zu schicken) brachte Maries Papa gestern abend aus Hamburg mit einem Lkw. Dieses Paletten-Zeug hatten wir schon öfter mal bei Freizeiten in Gebrauch. Allerdings gab es zunächst noch Probleme mit dem Aufbau der Zelte. Es waren einfach zu wenig Fußgänger vor Ort, die mal mit anfassen
konnten. Leider war es trotz der späten Stunde noch etwas arg windig. Mit Hilfe des Zeltplatzbetreibers und seinen von ihm dazu gebetenen Kumpeln der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr standen um halb zehn dann doch noch fünf Mannschaftszelte (zu je 23 Quadratmeter, ich habe allerdings nicht nachgemessen) aus dem Bestand einer Hamburger Hilfsorganisation, die uns die Dinger immer mal wieder günstig vermietet.
Der Tag begann heute mit zwei ernüchternden Feststellungen: Dass auflandiger Wind herrscht und dass die örtliche Badeaufsicht eine gelbe Fahne in den Wind gehängt hatte. Aus Gründen.
Und nachdem unsere Camping-Nachbarn meinten, das würde lediglich bedeuten, dass man sich eincremen soll, weil die Ozon-Belastung zu hoch sei (was hat Ozon mit Sonnencreme zu tun und seit wann wird am Strand davor gewarnt?), waren die Behinderten des Lesens kundig und wussten, dass die Damen und Herren aus der Baywatch-Fraktion uns damit signalisieren wollten, dass nicht nur ein Lifeguard on Duty, sondern auch noch das Baden saugefährlich sein würde. „Badeverbot für ungeübte Schwimmer, Kinder und ältere Menschen“, stand auf einem extra verteilten Flyer, auf dem auch die Baderegeln (Unterwasser-Fondue verboten u.a.) abgedruckt waren.
„Das mit dem Ozon liegt daran, dass bei den Temperaturen so viele Leute ihre Kühlschränke offen stehen lassen“, meinte selbiger Campingnachbar bierernst. Und dass Rollstuhlfahrer in der Ostsee sowieso
nicht baden dürften, das sei viel zu gefährlich. Stünde auch überall auf den Blechschildern. Früher hieß es, so ein alter Hase unter unseren Teilnehmern, tatsächlich noch „Badeverbot für Kinder, Alte und Behinderte“, doch inzwischen weiß man wohl, dass nicht jeder, der behindert wird, automatisch gleich schlechter schwimmt. „Baden und Schwimmen gefährlich“ finde ich mal gelungen:
Und gleich daneben war ein Schild angebracht, das unseren Camping-Nachbarn vermutlich erst recht irritiert hätte. „Schätzungsweise hätte selbiger ‚Steinmolen‘ für Energie spendende Maulwürfe gehalten, die sich zwischen Steinen verstecken, und denen regelmäßig eine Spannung anliegt, die eine komplette S-Bahn zum Summen bringen könnte“, frotzelte ein Schwimmkollege herum, der sich noch immer nicht über den Unsinn mit den offenen Kühlschränken beruhigt hatte.
Ein Blick auf das Meer bestätigte, die gelbe Fahne hängt nicht ohne Grund da.
Ein Blick in den Himmel verriet, es gibt fliegende Fische. Und andere See-Ungeheuer.
Selbst Elsa standen die Haare zu Berge.
Nein, wir waren nicht nur zum Fotos schießen da. Und nein, das war nicht meine Spiegelreflex-Kamera, die nehme ich weder zum Schwimmen noch zum Strand mit. Wir mussten warten. Auf zwei Seekajaks, die von einem rund 15 Kilometer entfernten Wassersportverein kommen sollten, und die eine unserer Trainerinnen über Vitamin B (ihre Schwester ist dort Mitglied) organisiert hatte. Uns besuchte ein uniformierter Mensch von der DLRG, riet uns zu einheitlichen Badekappen in Leuchtfarben, versorgte Tatjana, eine andere unserer Trainerinnen (die wiederum Mitglied in der DLRG ist), mit einem wasserdichten Handfunkgerät. Sie musste sich ihre Funknummer auf dem Handrücken notieren und sich vor den Ohren des uniformierten Menschen mit dem Ding irgendwo anmelden und wurde dann in den nächsten zwanzig Minuten prompt noch fünf oder sechs Mal vom anderen Ende mit allen möglichen Fragen angesprochen. Als Anspielung darauf fragte dann einer unserer älteren Teilnehmer, ob ihm der „Adler Null-Acht-Fuffzehn Siebenundvierzig-Elf Anton“ mal den Reißverschluss vom Neo schließen könnte.
Dann endlich konnten wir mal anfangen. Sehr zur Verwunderung etlicher Badegäste, die nicht sahen, dass hinter der Düne Rollstühle standen und somit nicht unbedingt verstanden, warum lauter schwarz gekleidete Leute
nacheinander oder im Pulk auf dem Hosenboden sitzend durch den Sand rutschten. Das Wasser war herrlich warm, fast schon zu warm, um im Neo zu schwimmen. Die ersten zwanzig Meter, wo es noch relativ flach war, musste ich relativ schnell überwinden und mich bei jeder Welle gut abstützen, um nicht umzufallen. Spätestens mit der zweiten Welle war ich von oben bis unten komplett nass. Als ich dann endlich so tief im Wasser war, dass ich schwimmen konnte, war es ein absolut geiles Erlebnis. Es herrschte Windstärke 5, in Böen bis 7, der Wind war in einem ungefähren Winkel von 45 Grad auflandig.
Die Wellen selbst waren eher weniger die Herausforderung, ich musste mich nur beim Atmen darauf einstellen, dass ich nicht bei jedem vierten oder sechsten Zug, sondern notfalls bei jedem zweiten Zug versuche, Luft
zu holen. Im Schwimmbad kann ich mich halt darauf verlassen, dass der Mund, wenn ich ihn an die Wasseroberfläche drehe, aus dem Wasser ragt, in einer großen Welle ist das mitunter nicht der Fall. Darauf mussten wir individuell reagieren und durften nicht panisch werden, wenn das nicht wie geplant beim zweiten, sondern eben erst beim vierten oder sechsten Armzug klappt. Entsprechend ruhig und kräftig mussten wir eben auch schwimmen, um mit der Atemluft lange auszukommen. Das hat einigen anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern anfangs große Probleme gemacht. Viele waren wegen der unbekannten Situation eher aufgeregt und hektisch.
Atmen ist ja ohnehin schon mit die schwierigste Aufgabe beim Kraulschwimmen, dann auch noch individuell auf die Umwelt reagieren zu müssen, hat einige Leute anfangs echt überfordert. Der Trick dabei war die so genannte Drittel-Atmung, die ein wenig Übung erfordert: Es wird pro Doppelschwimmzug immer nur ein Drittel ausgeatmet, allerdings wird versucht, nach jedem Doppelschwimmzug einzuatmen. Gelingt das nicht, weil das Gesicht nicht aus dem Wasser kommt, wird nicht eingeatmet, sondern beim nächsten Doppelschwimmzug das zweite Drittel ausgeatmet. Nach dem zweiten Doppelschwimmzug kommt noch ein Versuch einzuatmen, notfalls habe ich noch das dritte Drittel. Spätestens nach dem dritten Doppelschwimmzug sollte ich aber atmen können, sonst muss ich unterbrechen und komplett auftauchen. Ich habe selten das dritte Drittel gebraucht. Wichtig ist, aufzupassen, dabei nicht zu hyperventilieren. Ich kannte diese Technik schon und habe mich schnell wieder darauf einstellen können. Wichtig ist nur, dass alle ihren Rhythmus finden, nach einigen Minuten ist dieser Drittel-Kram hinfällig, er dient einfach nur dazu, überhaupt mal irgendwie zu beginnen.
Weitaus herausfordernder aber war die Unterströmung, also das, was passiert, wenn die Welle bricht und zurück läuft. An einigen Stellen war diese Strömung so stark, dass es die Leute umgerissen und vom Strand weggesaugt hat. Allerdings muss man dazu sagen, dass viele Menschen sich im Wasser bewegen wie Pinguine an Land und auch nicht nachdenken. Tippeln auf Zehenspitzen, weil das Wasser so kalt spritzt. Und geraten sofort in Panik, sobald mal irgendwas passiert, womit sie nicht rechnen.
Und weil sie nicht vorbereitet sind, rechnen sie eben auch mit nichts. Solange ich nicht in der Nähe von irgendwelchen Buhnen oder Molen schwimme, gegen die mich Wellen oder Strömung werfen könnten, soll mich die Strömung doch hin und her schaukeln. Das gehört nunmal zur Ostsee. Strudel gibt es an den Ostseestränden eher nicht und solange mein Kopf aus dem Wasser guckt und ich Luft bekomme, ist doch alles gut. Einige Badegäste haben ein Geschrei veranstaltet, weil sie auf dem Hosenboden gelandet und auf diesem einige Meter wieder ins Meer zurück gerutscht sind, meine Güte. Einem älteren Herrn habe ich noch geholfen, der versuchte fast direkt neben mir panisch, mit den Händen sich im etwa ein Meter tiefen Wasser am Grund abzustützen. Anstatt einfach zu schwimmen und den Kopf aus dem Wasser zu nehmen. Unglaublich! Und wenn die Strömung an einer Stelle zu stark ist, so dass man aus eigener Kraft nicht an den Strand zurück kommt, probiert man es halt mal zehn oder zwanzig Meter weiter links oder rechts. Schwimmt flach auf den Wellen mit und setzt sich zum Schluss auf den Po, Blick in Richtung Meer und dann lässt man sich mit jeder Welle einen Meter weiter in Richtung Strand schieben und stemmt zwischendurch, wenn das Wasser zurückläuft, Füße und Hände in den Meeresgrund. Sofern man die Beine kontrollieren kann und man nicht aufpassen muss, dass einem die Knie nicht ins Gesicht schlagen.
Zugegebenermaßen: Das waren verschärfte Bedingungen. Die DLRG hatte an dem Tag in einer Tour zu tun. Nicht mit uns, sondern mit Leuten, die achtlos ins Wasser gingen. Ich begreife nicht, wieso man sich das nicht erstmal aus sicherer Entfernung anschaut. Die Leute beobachtet, vorsichtig mal bis zur Wasserkante geht und sich dann überlegt, ob man sich das zutraut. Und sobald die ersten Zweifel kommen: Sein lassen. Es gab bei uns auch Leute, die sich das nicht zugetraut haben. Die waren für unser Mittagessen und die Getränkeversorgung auf See zuständig. Die Trainingseinheit dauerte über drei Stunden (mir kam es allerdings vor wie eine), ich habe in der Zeit gefühlte drei Liter Seewasser getrunken und dazu zwei komplette Trinkflaschen mit Wasser-Iso-Mix an unserem (zweiten) Verpflegungs-Kajak, um zwischendurch mal irgendeinen vernünftigen Geschmack in den Mund zu bekommen. Inzwischen waren meine Hände schrumpelig, ich hatte trotz des vielen Wassers im Bauch mächtigen
Hunger. Von unseren Leuten brauchte niemand Hilfe beim Herausklettern aus dem Wasser. Drei, vier Leute, die das schon kannten, machten das vor – der Rest orientierte sich daran und fertig.
Weil ich lange kein Foto-Posting mehr gemacht habe, gibt es noch zwei Bilder, von aus der Perspektive der Trainerin – direkt nachdem wir aus dem Wasser waren.
Einmal quer durch den Sand zu unseren Rollis – und wir sahen aus wie die panierten Schnitzel. Welche Wassermengen ich aufgenommen haben musste, wurde mir deutlich, als wir endlich auf der Bank saßen, unsere Neos von außen gegenseitig grob vom Sand befreiten und sie ausziehen wollten. Ich musste plötzlich so schnell und so dringend aufs Klo, dass ich gar nicht mehr zu überlegen brauchte, wie ich das jetzt am besten anstellen könnte. Ich versuchte noch, meine Füße irgendwie auf dem Rasen und nicht auf den Steinplatten zu halten, die zu aller Begeisterung auch noch abschüssig waren, aber es hatte keinen Zweck. „Jule ist undicht, Jule ist undicht!“, krähte eine 12jährige Teilnehmerin begeistert. Marie, die auf dem Rasen saß und sich mit einem Handtuch bearbeitete, murmelte: „So kann man auch mit kleinen Sachen Kindern eine Freude machen.“ – Ich antwortete dem Küken: „Komm her, wir kuscheln!“ – „Iiiiih, geh weg!“, krähte sie weiter. – „Ich kann nicht gehen“, frotzelte ich. „Ich bin behindert.“ – „Ach echt? Sag bloß.“
„Ganz schön kiebig, die halbe Portion“, alberte Cathleen, die direkt neben mir saß, bewusst laut und streckte der übermütigten und vom Meeresschaukeln vermutlich gut mit Adrenalin angereicherten Zwölfjährigen die Zunge raus. Ich fügte hinzu: „Stimmt, irgendwas überlege ich mir noch für sie. Mal sehen, wieviel Meerwasser sie beim nächsten Training trinken wird.“ – „Gar nicht!“ – „Abwarten“, sagte ich. Lisa fühlte sich ebenfalls auf den Plan gerufen: „Zeig mal! Haha, ich brauche meine Kamera, ich will Fotos! Schnell, wer kann Fotos von Jule machen?!“ – „Nix da“, versuchte ich mich zu wehren und war froh, dass niemand auf die Idee kommen würde, mir sandigen Fingern irgendwelche technischen Geräte anzufassen. Geschweige denn, sie am Strand dabei zu haben. „Ich setz mich gleich bei dir auf den Schoß.“
Ehrlich gesagt war ich eher froh, dass mich die Salzwassermengen in Verbindung mit dem Geschaukel nicht zum Kotzen gebracht haben. Und die abführende Wirkung von Salzwasser im Darm sollte man auch nicht unterschätzen. Aber diesbezüglich hat mein Körper sich gut benommen.
Zum Abend hin ließ der Wind glücklicherweise etwas nach, so dass wir beim Lagerfeuer und Grillen einen wunderschönen Sonnenuntergang sahen. Leider hatte ich nur eine Handy-Kamera dabei. Dennoch:
Und als ich gegen halb drei noch zum gefühlten zwanzigsten Mal pinkeln war, hatte ich diesen Blick auf den fast vollen Mond:
Ich glaube, wir werden morgen gutes Wetter haben.