Eine Chance für ein Orga-Talent

Ich gehörte in diesem Jahr zwar nicht zum Orga-Team, da ich es zeitlich nicht geschafft hätte und ja auch in der Vorbereitungszeit nicht in Hamburg vor Ort war. Aber bevor ich bis Drei zählen konnte, hatte es mich wieder voll erwischt. Ich fuhr mit einem Kumpel (der allerdings gehörte zum Orga-Team, genauer gesagt hatte er den Hut auf) aus dem Sportverein zu einem Trainings-Camp im Schwimmen. Aus Hamburg und (näherer bis ferner) Umgebung sollten insgesamt 26 Sportlerinnen und Sportler kommen, einige davon zum ersten Mal. Marie und Cathleen waren auch dabei, allerdings reisten die beiden wegen vorheriger privater Termine getrennt von mir mit der Bahn an. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren (gerade so) volljährig, einige aber auch noch 14 oder 15 Jahre alt. Die Veranstaltung sollte in einem Bundesland stattfinden, für das früher galt: „Folge dem Kompass solange nach Osten, bis du wieder im Westen bist.“

Wir waren rund zwei Stunden vor dem offiziellen Beginn vor Ort und was wir dann erlebten, hat mir wirklich die Sprache verschlagen. Geplant war, wie auch schon in den letzten drei Jahren, in einer Sportlerunterkunft (ähnlich einer Jugendherberge oder einem Sportinternat) zu schlafen und einige Häuser weiter in einer Schwimmhalle zu trainieren. Die letzten Male hatte es mehr oder weniger gut geklappt, ein paar kleinere Improvisationen waren immer nötig. Dieses Mal allerdings hatte man unser Kommen gar nicht auf dem Schirm. Derjenige aus dem Vorstand, der uns die Reservierung schriftlich bestätigt hatte (zuletzt vor zwei Wochen), war in Urlaub, die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin, die man irgendwie erreichen konnte, wusste von nichts. Sie kümmerte sich aber und rief das Vorstandsmitglied auf dem Handy in seinem Urlaub an – und erreichte ihn auch.

„Ja, nö, ich weiß auch nicht, ich habe schon in den letzten beiden Tagen versucht, der Gruppe abzusagen, aber unter der Handynummer, die mir bekannt war, ging niemand dran.“ – Absoluter Unsinn, denn die einzige Handynummer, die ausgetauscht wurde, war ständig besetzt und zeigte keinerlei Anrufe in Abwesenheit. Lange Rede, kurzer Sinn: Alles Diskutieren half nichts. Weder die Halle noch das Quartier standen zur Verfügung, sondern waren anderweitig belegt. Die Frage, ob man uns dann wenigstens mit einer anderen Halle weiterhelfen könne oder einem Kompromiss bei den Belegungszeiten (eine Übernachtungsmöglichkeit fänden wir vielleicht noch in einer Jugendherberge), wurde kurzerhand abgewimmelt: Das Vorstandsmitglied erklärte der hauptamtlichen Mitarbeiterin, sie solle solche Bemühungen unterlassen, es sei ohnehin nichts anderes frei und dafür werde sie nicht bezahlt. Ihr seien damit die Hände gebunden. Das Vorstandsmitglied selbst war für uns allerdings nicht zu sprechen.

So eine Kackdreistigkeit habe ich lange nicht erlebt. Nach und nach trudelten die Leute ein. Immerhin war es früh am Tag und gutes Wetter, so dass wir uns zu einer gemeinsamen Besprechung draußen verabredeten. Der Kumpel informierte zuerst die anderen Trainer und Betreuer von der Neuigkeit. Allgemeine Fassungslosigkeit machte sich breit. Eine Trainerin schlug vor, wir sollten mit allen zwanzig Leuten in die Geschäftsstelle rollen und diese komplett verwüsten. Natürlich war das nicht wirklich ernst gemeint, es zeigt vielmehr die allgemeine Empörung und Ratlosigkeit. Es war schlicht ein Super-GAU, nicht zuletzt, weil etliche Leute sich auf das Camp schon seit Monaten gefreut haben. Einige Eltern, die mitgereist waren, haben für sich Hotelzimmer gebucht. Und so weiter, und so fort.

Unser Orga-Chef wäre aber nicht Orga-Chef, wenn er kein organisatorisches Geschick hätte. Bisher waren nur die Trainer und Betreuer informiert, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer warteten artig auf einer Wiese unter Bäumen und tauschten Gummibärchen und Frotzeleien aus. Wir bekamen die Ansage: „Niemand quatscht. Ich werde diese Information an die Teilnehmer selbst verkünden. Und bis dahin überlegen wir gemeinsam, was wir alternativ machen können. Wenn wir jetzt die Leute wieder nach Hause schicken, haben wir nicht nur Dutzende traurige bis heulende Gesichter, sondern auch noch einen kaum zu behebenden Image-Schaden. Einige werden so gefrustet sein, dass sie austreten, andere werden nie wieder in so ein Camp mitwollen – wir müssen derbst vorsichtig sein und sollten mit der Absage des Camps gleich eine Alternative präsentieren, nicht zuletzt, um zu beweisen, dass wir nicht die Deppen sind, die es vermasselt haben.“

Und nun? Herumtelefonieren, ob noch irgendwo Zeiten in einer Schwimmhalle frei sind? Kurzfristig eine andere Übernachtungsmöglichkeit finden? „Wer die Sportinfrastruktur in Großstädten kennt, weiß, dass öffentliche Hallen in der Regel schon auf Monate, wenn nicht Jahre, im Voraus vergeben sind. Oft verwaltet dann auch noch jeder Bezirk seine Sportstätten in Eigenregie und stellt dafür eine Halbtagskraft ab, die stets einen übervollen Schreibtisch und gar kein Interesse an kurzfristigen Improvisationen hat“, meinte unser Häuptling. Vielleicht sei es nicht überall so, fügte er hinzu, und mit Sicherheit gebe es in der öffentlichen Verwaltung viele engagierte Mitarbeiter – aber andere Erfahrungen habe er in seinen zwanzig Jahren Vereinsarbeit eben auch gemacht.

„Das sind doch alles Leute, die draußen schwimmen wollen. So warm, wie das ist, machen wir einfach ein Trainingslager und trainieren statt im Chlorbecken im Freiwasser. See, Fluss, … oder vielleicht sogar Meer? Spricht was gegen ein Camp an der Ostsee?“ – Jeder schaute still in die Runde, tauschte Blicke aus. Die Idee war zumindest nicht schlecht und würde mit Sicherheit auch diejenigen reizen, die sehr hohe Ansprüche an die Trainingsqualität stellen und nicht in erster Linie aus Spaßgründen mitgefahren sind. Aber wo sollten wir in der Ferienzeit drei bis vier Dutzend Leute (einschließlich mitgereiste oder nachreisende Angehörige) unterbringen, Zugang zu vernünftigen Trainingsbedingungen und vor allem ordentlichen Übernachtungsmöglichkeiten bekommen? Eine Trainerin antwortete: „Es ist Urlaubszeit. Das kriegen wir nie und nimmer so schnell auf die Beine gestellt.“

Unser Orga-Chef sagte: „Ich brauche nur Leute, die das nicht wissen und es einfach versuchen. Also einfach mal aus dem Bauch raus: Ist das eine gute Idee oder kommt das nicht gut an?“ – Ich antwortete: „Die Idee ist super, aber ich habe wirklich große Bedenken, ob wir das gewuppt kriegen. Wenn jetzt nämlich Leute zuerst enttäuscht sind, dann hoffnungsvoll sind, dann wieder enttäuscht werden, ist der Image-Schaden noch größer. Weil dann haben wir zwei Dinge nicht hingekriegt.“ – „Da hast du recht, Jule, deswegen muss der zweite Teil unbedingt klappen. Ich schlage vor, wir setzen jetzt alle Hebel in Bewegung und wir geben uns eine Stunde Zeit. Dann resümieren und entscheiden wir.“ – Alle nickten.

„Ich brauche ein Internet-Laptop und ein paar Leute mit Telefon. Mein Telefon hab ich im Auto, Laptop mit WLAN hat hoffentlich jemand von Euch. Wir fahren jetzt zum Bahnhof und setzen uns dort in ein Schnellrestaurant mit Internet. Wir gönnen uns eine Runde Getränke und dann will ich rauchende Köpfe sehen. Und Angehörige werden nicht eingebunden, ich will nicht, dass in der Zwischenzeit jemand sein Kind auf der Wiese anruft und die ersten nach Hause fahren, bevor wir wieder zurück sind.“ – Er trommelte die Horde zusammen und sagte: „Leute, es gibt wie bei jeder größeren Veranstaltung noch ein paar organisatorische Probleme. Wir müssen noch ein paar Gespräche führen und ziehen uns eine Stunde zurück. Danach geht es los – bitte beschäftigt Euch noch ein Stündchen mit Sonnen, Kartenspielen und Euren persönlichen Trainingszielen.“ – Keine Nachfrage, kein Nörgeln. Sehr gut.

„Als erstes brauche ich einen klimatisierten Bus für alle, die jetzt mit der Bahn angereist sind. Also für nahezu alle. Den brauche ich auch, wenn das alles hier in die Grütze geht. Irgendwie müssen die Leute dann nach Hamburg kommen. Also den organisieren wir auf jeden Fall. Hotels und Pensionen an der Ostsee kann ich vergessen, es ist Urlaubszeit. Also drei große Zelte und einen Zeltplatz. Plus jede Menge vernünftige Feldbetten, auf denen man drei Nächte pennen kann, ohne Rückenschmerzen und ohne sich wundzuliegen.“ – Eine Trainerin suchte sämtliche Verkehrsbetriebe raus. Es dauerte nicht lange, da kristallisierte sich aus den wenigen, die sofort 400 Kilometer fahren würden und noch einen Bus mit Rollstuhlhebebühne hatten, eins heraus: Für 600 € einschließlich
Steuer und Fahrer würde man uns fahren. Andere Angebote reichten bis 2.500 € – ich kommentiere es mal nicht.

Und beim Zeltplatz hatten wir auf Anhieb Glück (man muss ja auch mal Glück haben): „Mein Mann ruft Sie gleich zurück.“, sagte eine ältere Frau, die unter der Nummer eines direkt an der Ostsee gelegenen Mega-Campingplatzes an das Telefon ging. Keine fünf Minuten später reichte die für das Camping zuständige Trainerin das Handy an unseren Chef weiter. Ich saß genau daneben und konnte mithören. „Rollstuhltoiletten und barrierefreie Duschen haben wir. Platz haben wir nicht. Ist Ferienzeit. Aber wir schaffen Platz. Ich habe eine Wiese für Tagesgäste direkt neben dem einen Sanitärhaus, da müssen dann halt ein paar Leute auf andere Stellplätze umziehen. Das werden die auch machen, aber ich muss denen dafür was anbieten. Also zwei, drei Tagesmieten gratis. Sie kommen bei uns für die drei Nächte auf rund zwölfhundert Euro, für das kurzfristige Rangieren würde ich Ihnen drei- bis vierhundert Euro draufschlagen, die ich den Gästen anbieten muss, die jetzt Ihretwegen umparken. Wenn Sie das zahlen, können Sie sofort kommen.“

„Zahlen wir. Wenn das fünfhundert werden, lässt sich darüber auch noch reden.“ – „Woher weiß ich denn, wer Sie sind und dass mich hier jetzt nicht jemand auf den Arm nimmt?“ – „Haben Sie Internet?“ – „Ja.“ – „Gehen Sie mal bitte auf die Seite vom [Sportverein], da ist eine Telefonnummer angegeben. Würde es Ihnen reichen, wenn Ihnen die Dame, die dort den Hörer abhebt, Ihnen das bestätigt?“ – „Das würde mir reichen.“ – „Dann geben Sie mir fünf Minuten Zeit, das mit ihr zu klären. Notfalls stellt die Dame Sie auch zum Vorstand durch.“

Unser Chef rief in Hamburg an. „Moin, wir müssen hier umdisponieren. Super-GAU, Unterkunft und Halle sind doppelt belegt worden, ich steh hier mit drei Dutzend Leuten unter freiem Himmel im Park und muss mir innerhalb einer Stunde ein Alternativprogramm aus den Fingern saugen. Meine Planung geht in Richtung Freiwassertraining in der Ostsee. Entsprechend ruft unter der Hotline gleich jemand vom Zeltplatz in […] an und fragt, ob ich telefonisch einen Auftrag über im Moment 1.600 € erteilen darf. Kannst du veranlassen, dass der telefonisch über die Zentrale eine Deckungszusage bekommt?“ – „Sicher. Hast du alles im Griff? Oder können wir was helfen?“ – „Bekommst du auf die Schnelle vier bis sechs Zehn-Mann-Zelte organisiert und an die Ostsee gefahren? Ich habe zwar schon drei Eisen im Feuer, aber noch keinen Rückruf. Falls dir noch was einfällt, lass es mich wissen.“ – „Ich ruf dich in der nächsten Stunde zurück.“

Eine Stunde später waren wir wieder zurück im Park. Unser Orga-Chef, durchgeschwitzt, vermutlich bis auf die Unterhose, trommelte die Leute zusammen, während im Hintergrund ein quietschgelber Reisebus im Rückwärtsgang in seine endgültige Parkposition rangierte. Wie immer begann seine Ansprache mit den Worten: „Bitte erstmal genau zuhören, Fragen merken. Alles, was sich in den nächsten fünf Minuten nicht klärt,
kann hinterher noch einzeln besprochen werden.“

Man habe die mehrjährige Zusammenarbeit mit dem hiesigen Schwimmverein vor rund zwei Stunden mit sofortiger Wirkung beenden müssen, nachdem dieser mit unverfrorener Gleichgültigkeit unser Trainingscamp spontan und ohne irgendeinen Hinweis gegen die Wand gefahren hätte. Halle und Herberge seien doppelt vergeben worden und für uns sei nichts mehr frei. Weil man auch nicht helfen wollte, habe er die Angelegenheit an die Juristen des Vereins weitergereicht, er sei angesichts des bisherigen Mailverkehrs und der schriftlichen Buchungsbestätigung zuversichtlich, dass die Fahrt für alle Teilnehmer relativ günstig werde. Solle heißen: Es werde wohl eine Schadenersatzforderung geben. Zum Glück sei kein Verantwortlicher vor Ort, den hätte er ob der allgemeinen Gleichgültigkeit sonst eigenhändig verhauen. Um aber wieder zur Sachlichkeit zurück zu kommen: Von außen reingedrückte Programmänderungen bieten manchmal auch ungeahnte Chancen.
Das Trainings-Camp werde natürlich nicht abgesagt, wäre ja noch schöner, wenn Dritte uns einfach das verlängerte Wochenende versauen, sondern es werde nur der Ort sich ändern. Der Bus dort hinten sei für uns. Und der neue Ort hätte es in sich. Nicht ganz so steril wie die Sportunterkunft, dafür würde sich der Event- und Erlebnisfaktor aber mindestens verdoppeln. Unser Orga-Chef war bestimmt früher mal Verkäufer
auf dem Hamburger Fischmarkt…

Es gebe etwas, was sonst eigentlich nur älteren und erfahrenen Schwimmerinnen und Schwimmern vorbehalten sei, einfach, weil es etwas anspruchsvoller sei als eine rundum geflieste Fünfzig-Meter-Bahn. Aber es seien genügend Trainer und Betreuer dabei, um auch denen optimal zu helfen, die noch nie im Freiwasser geschwommen und noch nie mit ihrem Rolli am Strand waren. Genau wie der [andere Verein, der für seine regelmäßigen Camps an einem großen See in Bayern deutschlandweit bekannt ist] böten wir kurzfristig als Alternativprogramm vier Tage Training unter freiem Himmel. Sozusagen als kleines Bonbon für den Ärger hier. Einschließlich Zelten auf einem rolligerechten Campingplatz. Mit Lagerfeuer und allem, was sonst noch dazu gehöre. Und es werde sich sicherlich auch die eine oder andere Stunde ergeben, in der man sich mal
in den Sand legen und sonnen könne. „Ist das eine gute Nachricht oder eine gute Nachricht?“, stellte unser Orga-Chef seine Teilnehmer mitten in ein einfach zu lösendes Dilemma.

Nach etlichen offenen Mündern, gerade unter den jüngeren Teilnehmern, und kurzem Schweigen hörte man als erstes ein lautes „Geil“ aus der Runde, dann eine Mutter, die ermahnte: „Du sollst nicht immer ‚geil‘ sagen.“ – Der Orga-Chef und ich tauschten einen Blick aus. Wenn das das derzeit größte Problem ist, waren wir gut im Rennen. Es werde einen Gepäck-Shuttle vom Hamburger Bahnhof zur Ostsee geben, für alle, die jetzt zu Hause anrufen und noch Sachen (wie Schlafsäcke) nachschicken wollen. „Es ist alles organisiert. Wir lassen unsere Sportler nicht hängen. Ich brauche aber von allen minderjährigen Teilnehmern ein Gespräch mit den Eltern. Von allen. Also gibt es gleich ein allgemeines fröhliches Handy-Weiterreichen. Gibt es jemanden, der nicht mitfahren möchte?“

Der ängstliche Blick in die Runde war unbegründet. Wer mit wem in welchem Zelt schlafe, ob auch Handbike- und Schnellfahrtraining angeboten werden könnten und wir Handbikes und Rennrollis aus Hamburg nachholen könnten, ob es okay sei, wenn die wenigen mitgereisten Eltern sich eine Unterkunft in dem 15 Kilometer entfernten größeren Ort nehmen würden. Eine Mutter am Telefon hatte Angst, dass ihre Tochter in der Ostsee untergluckern würde, eine andere, dass ihr Sohn sich auf der Toilette auf dem Campingplatz einen Harnwegsinfekt holt. „Das ist ein festes Klo mit Wasseranschluss in einem festen Haus, das wird genauso oft gereinigt wie das Schwimmhallen-WC.“ – Am Ende hatten wir alle Leute dabei. Auch Marie und Cathleen, die inzwischen eingetrudelt waren und ganz verdattert die ausgelassene Stimmung begutachteten, fanden die Alternative toll. War auch nicht anders zu erwarten. Ich tauschte noch einmal mit unserem Orga-Chef einen Blick: Der nickte zufrieden. Konnte er auch sein. Hut ab!

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