Täterstrategien

Hinweis: Dieser Beitrag beschäftigt sich sehr intensiv mit sexualisierter Gewalt und Täterstrategien.

Es ist noch nicht lange her, als ich einigermaßen verstört aus einem Seminar kam, dessen Thema „sexualisierte Gewalt“ war. Ich schreibe nicht oft über Inhalte meines Studiums, weil ich denke, dass der meiste fachliche Kram eher nicht interessiert. Aber dieses Seminar hat mich aufgewühlt. Nicht, weil ich nicht wusste, dass es sexualisierte Gewalt gibt. Natürlich wusste ich das. Ich wusste auch die eine oder andere statistische Zahl – es bleibt nicht aus, sich während eines Medizinstudiums mit dieser Thematik eingehend zu beschäftigten. Auch wenn ich am liebsten nichts davon hören und lesen würde. Denn eigentlich möchte ich unvoreingenommen meine ersten eigenen sexuellen Erfahrungen sammeln (und ich würde behaupten, es sind noch immer erste Erfahrungen, die ich jetzt sammeln würde), ohne dabei zu assoziieren, dass es Menschen gibt, die Sexualität, die eigentlich schön sein soll und die ich eigentlich als schön empfinden möchte, für ihre Macht (-spiele) missbrauchen. Diese Assoziation finde ich persönlich schlimmer als mir die ganzen Geschlechtskrankheiten anschauen zu müssen, bevor ich mit jemandem ins Bett gehe. Dennoch ist gerade das Thema „sexualisierte Gewalt“ wichtiger als falsche eigene Assoziationen rund um Sexualität – und überhaupt wichtiger denn je. Und so erschreckend.

Ich kenne aus dem Norden einen inzwischen etwas über 40 Jahre alten Menschen, männlich, dessen mehrjährige Partnerin Opfer sexualisierter Gewalt war. Erst nach deren Trennung, während einer anschließenden Freundschaft, hat sie ihm erzählt, was ihr als Kind widerfahren ist. Die Freundschaft besteht inzwischen auch nicht mehr. Geblieben ist aber sein Kampf gegen sexuellen Missbrauch. Er berät und begleitet als studierter Wissenschaftler auf sozialpsychiatrischer Ebene straffällig gewordene Täter oder jene Menschen, die befürchten, Täter werden zu können. Das heißt: Er versucht mit seinen Möglichkeiten (im Rahmen eines anerkannten Beratungsprogramms) auf Menschen einzuwirken, damit sie keine sexuellen Übergriffe auf andere Menschen verüben.

Kennengelernt haben Marie und ich diesen Mann auf einer Feier von Maries Mutter. Maries Mutter und er kennen sich privat seit der Kindheit, Marie und ich haben uns auf besagter Feier sehr intensiv und nett unterhalten, weniger über seine Arbeit, sondern mehr über alles mögliche andere. Ich fand ihn sehr klug, er vertrat spannende Ansichten.
Als ich kürzlich bei Marie zu Hause zum Essen eingeladen war und anschließend am Tisch von meinem Seminar und vor allem meiner Seminararbeit erzählte, sagte Maries Mutter: „Ruf doch den […] mal an und frag, ob du dich mit ihm treffen kannst und ob er dich beraten kann. Er kann dir bestimmt helfen, die richtigen Quellen zu finden und die wichtigen Punkte herauszuarbeiten. Und ihr kennt euch doch schon von der Feier aus dem letzten Jahr.“

Gesagt, getan. Wir trafen uns gestern in der Beratungsstelle, in der er arbeitet, und weil das Wetter schön war, lud er uns auf ein Eis ein. Draußen, in der Nähe, an einem Badesee. Er erzählte uns mehr als ich wissen wollte. Hatte viele Zahlen im Kopf, kannte Quellen, ich konnte manchmal gar nicht so schnell mitschreiben, wie er erzählte. Das meiste waren statistische Details, Studienergebnisse. Es war spannend und erschreckend, widerlich zugleich. Nein, es ging nicht um einzelne Täter oder Taten, es ging um wissenschaftliche Ergebnisse. Und die waren mir in der Form nicht bekannt – und ich möchte sie hier auch nicht diskutieren oder auf Details eingehen. Er war nett, rücksichtsvoll: „Wir hören auf oder fahren ein anderes Mal fort, wenn du Zeit brauchst, um das zu sortieren. Unser Gespräch soll dich nicht belasten.“

Wir waren bereits mittendrin in einem Experiment, ohne es zu wissen. Als ich die Frage stellte, und natürlich hatte ich auch bereits während meines Seminars jede Menge Antworten auf diese Frage bekommen, wollte aber seine Antwort hören auf die Frage, nämlich warum und vor allem wie es Täter immer wieder schaffen, Taten zu begehen, und damit meine ich nicht jene gewalttätigen Menschen, die sich „mal eben“ ein wehrloses Kind von der Straße schnappen, sondern die vielen (deutlich überwiegenden) Fälle, die es in Familien, in Arbeitsverhältnissen oder unter eigentlich lieben Menschen gibt, bekam ich eine überraschend klare Antwort: „So wie ich gerade.“

„Wie meinst du das?“ – „So wie ich das sage. So, wie wir ein Eis zusammen essen, während ihr mit dem Wunsch zu mir gekommen seid, etwas über das Thema zu erfahren, so missbraucht ein Täter seine Opfer. Das Eis wollte ich. Ihr habt nur zugestimmt. Es ist aber keineswegs üblich, dass ich mit meinen Studentinnen oder Praktikantinnen Eis essen gehe.“ – „Naja, machst du das denn mit den anderen Leuten, die sich auf wissenschaftlicher Ebene für deine Arbeit interessieren, auch?“ – „Nein. Mit denen gehe ich meistens nur einen Kaffee trinken. Dann komme ich mal aus meinem Büro … aber wir kennen uns ja von deiner Mutter und haben uns ja da schon gut unterhalten.“ – „Ja, deshalb dachte ich…“ – „Täter suchen sich ihre Opfer auch gezielt aus. Und haben meistens ein gutes Verhältnis zu den Eltern. Warum geht ein zwanzig Jahre älterer Mann mit zwei jungen Frauen Eis essen?“ – Mir wurde mulmig.

„Unser Prof ist letztes Jahr auch mal mit uns einen Kaffee trinken gegangen, als wir eine Arbeit besprechen wollten. Wenn man so will, kann man in alles etwas reininterpretieren.“ – „Genau. Und genau diese Unsicherheit nutzen Täter. Testen ihre Grenzen aus, überschreiten Grenzen, erzeugen Missverständnisse, manipulieren ihre Opfer. Ihr beiden, Marie und du, ihr müsst keine Angst haben, ich wäre mit euch auch ein Eis essen gegangen, wenn es um Rechnungswesen oder Informatik gegangen wäre. Ihr könnt euch zudem wehren. Ihr seid erwachsen. Auch wenn ihr im Rollstuhl sitzt, wenn ich euch dumm komme, habt ihr ein Handy, könnt um Hilfe rufen oder einfach  wegfahren. Kann das auch ein Kind, dessen Aufmerksamkeit mit einer tollen Geschichte gefesselt wird? Und das gar nicht bemerkt, wie rundherum die Gäste aufstehen und nach Hause gehen, weil es immer später wird? ‚Jetzt hast du die Zeit vergessen, die Mama macht sich bestimmt schon Sorgen, komm, ich bring dich schnell nach Hause.‘ – Täter schaffen Abhängigkeitsverhältnisse. Sofern sie nicht ohnehin schon bestehen. Und nutzen sie für ihre Zwecke.“ – „Das Kind hat doch auch ein Handy. Und kann die Mama anrufen.“ – „Die Mama wird schimpfen. Lass uns lieber schnell nach Hause gehen und dann rede ich erstmal mit der Mama. Dann schimpft sie mit mir und nicht mit dir. Ich werde sagen, dass ich die Zeit verpasst habe und nicht du.“

„Na komm, so naiv ist doch kein Kind. Zumindest keins, das draußen ohne Mama rumlaufen darf. Ich kenne genügend Kinder, die dann einfach die Mama anrufen, wenn sie Hilfe brauchen oder was ausgefressen haben.“ –
„Und ich kenne genügend Männer, die es so oft probieren, bis sie so ein ’naives‘ Kind an der Angel haben. Das vielleicht keinen so tollen Draht zur Mama hat. Oder wo sich die Mama nicht immer gerne stören lässt wegen jeder vermeintlichen Kleinigkeit.“ – „Ich glaube dir das, du hast die Erfahrung. Aber das überzeugt mich nicht. Ich habe auch einen guten Draht zu Kindern. Wir beide eigentlich. Wir sind ständig diejenigen, die auf Freizeiten oder beim Sport eine Horde Kinder um uns herum haben. Und dennoch, wenn ich vorschlagen würde, wir machen jetzt Doktorspielchen, … wie erkläre ich das hinterher den Eltern, wenn das Kind zu Hause mehr oder weniger begeistert davon erzählt?“

Auch darauf gab es eine Antwort. Ich werde hier keine Gebrauchsanweisung schreiben. Aber es war so einfach wie erschreckend zugleich. Und dann kam ein Angebot, das Marie und ich angenommen haben. Ob wir bereit seien für einen Versuch. Waren wir. Wenn wir morgen (also heute) ihm einen Grill mit an den Badesee bringen, mit Kohle und Anzünder, mit einem marinierten Schweineschnitzel, rund 250 Gramm, dazu eine Packung Würstchen, ein wenig selbst gemachten Kartoffelsalat und vielleicht ein Baguettebrot, dazu eine gekühlte Cola und natürlich jene Dinge, die wir gerne essen und trinken würden, dann mache er mit uns einen Versuch, für den man ihn sonst teuer entlohnen müsste. Ich fand diese Einladung zum Baden irgendwie charmant und wusste nicht mal mehr, ob das überhaupt mit unserem wissenschaftlichen Interesse zu tun hatte, oder ob er als Single einfach nur mal mit zwei jungen Frauen baden gehen wollte. Marie sagte: „Wenn es jetzt darum geht, ob wir den Kram dort mit hinbringen und heute abend für dich nochmal einkaufen gehen, dann hast du gewonnen. Das würden wir aber auch so machen, wenn du einfach nett fragst, ob wir morgen zusammen baden gehen und am See grillen. Wir würden uns auch noch einen Salat schnibbeln, wenn du möchtest. Das machen wir aber mit anderen Freunden auch und das beweist nichts.“ – Er lächelte nur.

Um halb vier waren wir verabredet. Er war bereits da, am Badesee, aus der Steckdose in seinem Auto hing ein Kabel, daran ein Mini-Kompressor, der eine Palmeninsel aufblies. Das Ding hatte mehrere Luftkammern, zwei
aufblasbare Plastikpalmen standen senkrecht in die Luft. Sie waren Teil eines großen Rings, ich schätze mit zwei Metern Durchmesser, in deren Mitte ein weißes dünnes Netz gespannt war. Auf dieses Netz konnte man sich drauflegen und dadurch das Wasser sehen, sofernd die Insel schwamm.
Ein Popup-Strandiglu hatte er auch schon aufgestellt. Wir kamen mit unserem Grill und unserer Kühlbox dazu … dann konnte die Party ja beginnen. Marie fragte: „Was hast du denn mit der schwimmenden Oase vor?
Ist das nicht ein wenig übertrieben?“ – „Wenn ich schonmal baden gehe, dann mit allen Raffinessen.“

Ehrlich gesagt freute ich mich schon ein wenig, auch mal auf so einem Ding zu liegen und über den See zu treiben. Ich würde mir selbst so ein Teil nie kaufen, aber heute würde ich ja niemandem erklären müssen, wieso ich auf so einem Kitsch-Ding auf dem Wasser treibe. Es dauerte keine dreißig Minuten, da waren wir drei im Wasser und hatten eine Mordsgaudi mit diesem Spielzeug. Wir haben dermaßen ausgelassen herumgealbert, uns gegenseitig nassgespritzt und uns gegenseitig von dieser Palmeninsel heruntergestoßen, dass die anderen Badegäste gedacht haben müssen, wir hätten was eingenommen. Ich hatte selten so einen Spaß, vor allem mit einem eher  unbekannten wesentlich älteren Mann. Der gar nicht mal schlecht aussah in Badeshorts. Der ganze  wissenschaftliche Zweck war in weiter Ferne und ich beschloss, ihn einfach nicht danach zu fragen. Vermutlich wollte er wirklich mal zwischen dem ganzen erschreckenden Alltag eine Runde Spaß haben – und die sollte er nun auch bekommen. Er schaffte es, sich so auf dieses Netz fallen zu lassen, dass die andere Person (Marie oder ich) im hohen Bogen hochflogen und ins Wasser rauschten. Da wir uns mit den Beinen nicht hochdrücken konnten, zog er uns meistens hoch. „Ich habe keine Erfahrung mit Querschnitten, sagt mir einfach, wie ich das machen soll und ob es okay ist, wenn wir so ausgelassen sind.“ – Alles war okay. Warum sollte man mit Behinderung nicht ausgelassen sein dürfen? Er war so nett, so reizend und zuvorkommend.

Irgendwann waren wir kaputt. Erschöpft. Wir trieben zu dritt über das Wasser, er paddelte mit uns auf ein Schlauchboot zu, in dem zwei Mädchen saßen. Ich schätze, sie waren zwölf und vierzehn. Die beiden Wasserfahrzeuge kollidierten, unser vierzigjähriger Mann knickte eine der beiden Palmen um, so dass sie auf das eine Mädchen kippte und sich mit einem lauten „Plong“ wieder aufstellte. Die beiden Mädchen guckten sich an, dann fingen sie an zu lachen. Wie bei den Teletubbies wiederholte sich das Spielchen noch zwei, drei Mal. Jedes Mal kippte die Palme, jedes Mal stellte sie sich mit einem „Plong“ wieder auf, jedes Mal gackerten die Mädchen. Er sprang auf diesem Ring herum, so dass Marie und ich ein paar Mal hochflogen und dann ins Wasser fielen. Die Mädchen kamen aus dem Lachen kaum noch heraus. Die Palmen-Insel war leer, wir drei schwammen im Wasser. „Was meint ihr, ob die Mädchen schwimmen können?“, fragte er mich. „Ich wette, deren Schlauchboot kippt
gleich um, nachdem es mit der Insel kollidiert ist.“

„Könnt ihr ruhig machen“, sagte das ältere Mädchen. „Wir können schwimmen“, fügte das jüngere hinzu. Ich kürze es an dieser Stelle ab: Es dauerte keine zehn Minuten, da waren sechs bis acht Kinder im Alter zwischen 6 und 16 auf der Palmeninsel, hüpften wild darauf herum, brachten sie zum Kentern, waren ausgelassen. Marie und ich waren inmitten dieser Wasserschlacht, schafften es inzwischen selbst auf die Insel, wurden andauernd wieder ins Wasser katapultiert und vergaßen dabei nicht nur unsere körperliche Einschränkung, sondern übersahen auch, dass unser vierzigjähriger Mann inzwischen längst neben seinem Iglu saß und den Grill herrichtete. Als wir Blickkontakt hatten, meinte er: „Mir war kalt, ich lass schonmal die Kohle vorglühen, wenn ihr so in dreißig Minuten rauskommt, können wir vielleicht zusammen essen?“

Marie und ich wollten ihn da nicht alleine sitzen lassen. Ziemlich kaputt waren wir auch, völlig nass – wir beschlossen, rauszugehen. Wir schwammen erstmal ohne die Insel zum Strand, krabbelten auf dem Po sitzend raus. Die Kinder waren weiterhin mit der Insel beschäftigt. Sie hatten vermutlich gar nicht mitbekommen, dass wir eine Querschnittlähmung haben. Das machte mich für einen kurzen Moment nachdenklich. Ich setzte mich in die Sonne, ließ mich trocknen und träumte vor mich hin. Auf dem Wasser planschten die Kinder mit der Insel. Einige der Eltern standen am Rand, machten Fotos. Sprachen den Mann an: „Da haben Sie aber ein tolles Teil, wo gibt es denn sowas?“ – „Das gab es mal bei […], eigentlich kitschig, aber dann doch wieder schön.“ – „Ich hoffe, es ist okay, wenn die Kinder noch damit spielen.“ – „Jaja, klar, dafür ist es ja da. Solange sie es nachher mit rausbringen, ist alles gut.“

Das Fleisch lag auf dem Grill, die Kinder brachten die Insel aus dem Wasser. „Stellt sie einfach dahinten hin, nur nicht so nah an den Grill, falls da Funken fliegen.“ – Die beiden Mädchen kamen zu uns hin und sagten zu dem Mann: „Das hat total Spaß gemacht. Vielen Dank.“ – „Wollt ihr ein Würstchen? Fragt Eure Eltern mal, ob ihr ein Würstchen dürft“, sagte er. Wir fanden sowohl die Kinder als auch ihn unheimlich nett. Die beiden kamen wieder, holten sich ein Würstchen mit Ketchup ab. Setzten sich zu uns auf die Decke und erzählten alles mögliche. Die Mutter kam noch dazu, fragte, ob die beiden sich bedankt hätten und nahm ihre Kinder mit. „Wir wollen nach Hause“, ließ sie uns wissen. Inzwischen hatte uns die jüngere erzählt, wo sie wohnt. Auf die ganz subtile Frage unseres Begleiters, ob sie Urlaubsgäste seien oder in Hamburg wohnten. Und falls ja, in welchem Stadtteil. „Oh, ich komme auch aus Eppendorf. Ich wohne in der Martinistraße, da beim Krankenhaus in der Nähe.“ – „Wir wohnen ein Stück weiter, in der […]straße Nummer 2.“

Als wir wieder alleine waren, die anderen Leute waren schon fast alle weg, und die Reste des Essens vor uns auf den Tellern sahen, meinte er: „Das waren ein paar total schöne Stunden. Ich habe lange nichts mehr privat unternommen, das sollte ich öfter machen. Ich hoffe, euch hat es auch Spaß gemacht.“ – „Sehr“, antworteten wir beide, fast wie aus einem Mund. Er fügte hinzu: „Ich möchte aber auch noch auf den offiziellen Teil zurückkommen. Ich wohne natürlich nicht in der Martinistraße. Aber ich weiß jetzt, wo die Kinder wohnen und stehe morgen dort wieder vor der Tür. Um sie dann irgendwo mal ganz zufällig wieder zu treffen. Als der liebe Onkel mit der tollen Palmeninsel. In der Zwischenzeit mache ich ganz viele tolle Fotos von ihnen, ihr Haus wird ab sofort von mir observiert. Und bei nächster Gelegenheit berühre ich sie wieder unsittlich. Aus Versehen natürlich.“

„Was meinst du damit?“ – „Na, ich habe sie heute unsittlich berührt, ohne dass ihr was davon mitbekommen habt. Beim Spielen auf der Insel.“ – „Nicht wirklich. Das sagst du hoffentlich jetzt so.“ – „Nein, nicht wirklich. Erinnere dich, ob ich jemals zusammen mit den Kindern auf der Insel war.“ – „Nein, warst du nicht. Du bist rausgegangen, bevor die beiden Mädchen zum ersten Mal auf die Insel geklettert sind. Und inzwischen verstehe ich auch den Grund.“ – „Genau aus diesem Grund. Deutlich bevor euer Spielchen mit den Kindern losging. Bevor die ganzen anderen Kinder dazu kamen. Bevor ihr euch alle angefasst habt. Immer und immer wieder. Wie gesagt, ich weiß, warum ich vorher rausgegangen bin. Ich habe euch einen Versuch angekündigt und habe im entscheidenden Moment die Kurve gekratzt. Als Pädophiler hätte ich vielleicht mitgespielt. Als Kinderschänder, als Täter, hätte ich die Kinder womöglich angefasst. Und eben auf keinen Fall von vornherein klare Verhältnisse geschaffen. Genauso wie vielleicht am Arbeitsplatz, in der Therapie, überall.“

„Muss ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben, weil ich mit fremden Kindern auf einer Palmen-Hüpf-Insel gespielt habe?“ – „Nein, Jule. Ich müsste es auch nicht, weil ich keine Kinder anfasse. Aber ich muss eben als Mann sehr schnell damit rechnen, dass man mir das mal vorwirft. Gerade, wenn ich Hüpfburgen mit zum Schwimmen nehme und Kinder anspreche. Der beste Schutz gegen einen falschen Vedacht ist, einfach nicht mit fremden Kindern zu spielen und immer klare Verhältnisse zu schaffen. Die Palmen-Insel ist am Ende, wo wir vom Spielen wieder zurück
zum Arbeiten kommen, kein Spielzeug mehr sondern ein Teil eines Versuchs. Ich habe die Voraussetzungen für euch geschaffen, ihr habt selbst erlebt, wie einfach ein Stück Kinderfleisch, wie die Szene sagt, zu bekommen ist. Wie einfach man es berührt.“

Marie guckte sichtlich mitgenommen. Die ausgelassene Stimmung, die Freude, alles war schlagartig verflogen. „Das ist total krass“, sagte sie. Er antwortete: „Marie, du darfst jetzt zwei Dinge nicht vermischen: Wir haben auf dem See herumgealbert, ihr habt mit den Kindern gespielt, ausschließlich, weil wir herumalbern und spielen wollten. Es gab zu keinem Zeitpunkt den Gedanken, jemanden manipulieren, beherrschen oder missbrauchen zu wollen. Erst in der nachträglichen Auswertung erkläre ich Euch, dass ich als Täter die Palmeninsel auch aus anderen Gründen mitgebracht haben könnte. Das ist mir sehr wichtig, denn ich möchte selbstverständlich niemanden manipulieren, schon gar nicht unbeteiligte, die nicht damit rechnen und die nicht wissen, was wir hier
tun. Wir haben gespielt, nichts anderes. Und anhand der nachschauenden Betrachtung eures Spiels, unter Einbeziehung einer möglichen Täterstrategie, ziehen wir neue Schlüsse.“

„Es gibt aber noch einen Teil 2“, sagte der Mann. Und fuhr fort: „Da habe ich euch manipuliert und bin von eurem Einverständnis ausgegangen. Könnt ihr euch mal umziehen?“ – Ich grinste. „Kannst du mal aufhören mit
uns zu spielen? Ich habe heute einen eindringlichen Beweis von dir bekommen und ich bin dir sehr dankbar, denn du hast mir wirklich die Augen geöffnet. Aber so langsam möchte ich wieder in meine beschützte Welt zurück.“ – „Ich habe euch angefasst.“ – „Okay, wo? Im Schritt?“ – „Würdet ihr es merken?“ – „Nein und ja.“ – „Nein, nicht im Schritt. Zieht euch mal bitte um. Ich gehe inzwischen mal zum Auto und pack die Insel weg.“ – „Ich habe jetzt keine Hemmungen, mich auszuziehen, ich geh auch in die Sauna. Du musst dich jetzt nicht verkrümeln.“ – „Dann mach dich doch schonmal obenrum frei und guck mal genau, was da passiert.“

Ich streifte die Träger von meinem Badeanzug, einem Sportbadeanzug mit gekreuztem Rücken, nach unten. An meinem Bauch klebte eine durchsichtige, inzwischen zerknitterte Folie, ähnlich jener Klebefolien, die als Hygieneschutz in fabrikneue Badeanzüge geklebt werden. Halb so groß wie ein Smartphone. „Ich war hier, wo warst du?!“, stand dort in pinken Lettern. „Das ist so ein elektrostatisches Ding, was an Fensterscheiben heften bleibt, und was man normalerweise seiner Verabredung irgendwo ans Auto pappt, wenn er dich versetzt hat. Bei dem ganzen Geschubse habe ich dir das von hinten in deinen Badeanzug getan, direkt am Bauch. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich mit meiner Hand da drin war. Bei Marie übrigens auch.“

Ich habe es nicht gemerkt. Ich war erschrocken. Wirklich erschrocken. Nein, natürlich nehme ich es ihm nicht übel. Ich hätte es ihm auch nicht übel genommen, wenn er mir das Ding noch ganz woanders hingeklebt hätte. Ich bin ihm dankbar. Er hat mir in wirklich guter Arbeit den Blick auf ein Thema ermöglicht, das ich sonst nie so intensiv aufgenommen hätte wie durch diesen praktischen Versuch. Ich glaube, es war eins der lehrreichsten Wochenenden in meinem Studium. Und dringend nötig, um Täterstrategien wirklich zu verstehen und nicht nur zu lesen. Und damit auch ein Kapitel zu verstehen, das ich am liebsten niemals aufgeschlagen hätte.

Wir haben uns nett voneinander verabschiedet. „Ich würde deine Arbeit gerne lesen“, sagte er zum Abschied. „Und unser Versuch ist damit beendet, okay? Ihr seid total nett und ich manipuliere euch hier so derb, dass ich inzwischen ein total schlechtes Gewissen haben muss und auch habe. Und das meine ich jetzt ehrlich.“ – Wir haben uns zum Abschied sehr intensiv umarmt und ich habe mich mehrmals aufrichtig bei ihm bedankt. Und ich freue mich darauf, ihn spätestens in ein paar Wochen bei einer Geburtstagsfeier wiederzusehen.

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