Im freien Fall

Kein Anruf, auch kein Sturmklingeln an der Tür. Der Hund spitzt die Ohren, rennt aufgeregt zur Terrassentür, weiß nicht genau, ob er was gehört hat oder nicht. Guckt Marie ratlos an. Sie löst ihren Blick vom Fernseher, fragt: „Na, hörst du wieder die Regenwürmer husten?“ – Der Hund legt den Kopf schief. Maries Mutter blickt von ihrer Zeitschrift hoch und kommentiert: „Regenwürmer? Die schmecken nicht. Gib mir lieber die Gulaschreste aus dem Kühlschrank. Ich weiß genau, dass da noch welche sind.“

Der Hund bellt. Also doch was gehört? Bestimmt irgendein Tier, das sich in den Garten verirrt hat. Der Hund setzt sich vor die Tür, kläfft. Steht auf, rennt zur vorderen Tür, bellt dort, kommt wieder zurück, setzt sich wieder vor die Terrassentür. „Wollen wir mal gucken, ob ein Rehkitz in den Pool gefallen ist?“, fragt Marie den Hund mit alberner Stimme und öffnet die Terrassentür. Der Hund fetzt nach draußen, keine drei Sekunden später ist der Eindringling gestellt. Der Hund bellt aufgeregt. Marie runzelt die Stirn, setzt sich vom Sofa in ihren Stuhl und rollt nach draußen. Einen Moment später ruft Marie: „Mama, kommst du mal?“

Mama legt ihre Zeitschrift aufgeblättert und mit dem Rücken nach oben auf das Sofa, steht mit knackenden Fußgelenken auf, tappst barfuß über den Holzfußboden nach draußen. Der Hund ist inzwischen still. Kurz danach kommt Maries Mutter wieder nach drinnen, hat ein weinendes Mädchen im Arm. Ich kenne sie, sie war vor einiger Zeit mal in der Praxis. Sie ist 14 Jahre alt. Maries Mutter schickt Marie und mich weg. Das Mädchen sagt: „Nein, sie können bleiben“, bricht richtig heftig in Tränen aus und bringt kaum ein Wort über die bebenden Lippen. Maries Mutter schubst sie sanft auf das Sofa, holt eine Packung Papiertaschentücher. Der Hund setzt sich beim Mädchen auf die Füße und leckt ihr die Hände. Das Mädchen fängt an, den Hund zu kraulen.

Maries Mutter legt die Packung Taschentücher auf den Tisch, setzt sich neben sie. „Hast du was ausgefressen?“, fragt sie. Das Mädchen schüttelt den Kopf. Maries Mutter fragt weiter: „Was ist denn passiert?“ – „Meine Mutter“, sagt das Mädchen in kaum verständlicher Sprache und schluchzt heftig. Mein Adrenalinspiegel steigt. Was ist mir ihrer Mutter? Hat sie geschlagen, ist abgehauen, ist im Krankenhaus, gestern gestorben, hatte einen Unfall, wird vermisst, hat den Papa betrogen, ist nicht die leibliche Mutter oder hat ihr am Ende nur das Handy weggenommen?

Maries Mutter muss nachfragen: „Was ist mit deiner Mutter?“ – Das Mädchen sammelt sich und sagt erstaunlich klar: „Sie liegt zu Hause auf dem Sofa und ist randvoll mit Tabletten. Es gibt einen Abschiedsbrief, den hat der Papa aber eingesackt. Ich weiß nicht, was drinsteht. Ich weiß auch nicht, was ich machen soll.“ – Maries Mutter fragt: „Wo ist die Mama denn jetzt?“ – „Na, zu Hause auf dem Sofa, hab ich doch gesagt!“ – „Und der Papa?“ – „Steht in der Küche und besäuft sich.“ – „Hat er die Mama so dort liegen sehen und weiß er, dass sie Tabletten genommen hat?“ – „Ja. Er hat ja den Abschiedsbrief irgendwo versteckt.“ – „Und was sagt er dazu?“ – „Die spinnt.“ – „Und die Mama, was sagt die?“ – „Die sagt nichts. Sie schläft tief und fest, aber sie atmet noch. Aber sie wacht nicht auf, auch nicht, wenn ich laut rufe.“ – „Hast du sie mal kräftig gerüttelt?“ – „Nein, das habe ich mich nicht getraut. Ich habe Angst.“ – „Weißt du, was für Tabletten sie genommen hat und wieviele?“ – „Nein, da liegen ganz viele auf dem Tisch, alle möglichen, die Blister sind alle leer. Ich würde mal sagen vielleicht so 20 oder 30, können aber auch 50 sein. Und eine Flasche Rotwein hat sie dazu getrunken, da ist nur noch ein letzter Rest im Glas mit Tablettenresten drin.“ – „Und dein Papa will nicht vielleicht mal einen Krankenwagen rufen?“ – „Nö, er meint, die Mama will ihn nur provozieren und das Spiel spielt er nicht mit. Ich hab ihn gefragt, was passiert, wenn sie jetzt wirklich stirbt und er hat gesagt, die stirbt nicht. Und dann habe ich gefragt, was, wenn doch, und dann hat er geantwortet, dann ist das eben so.“ – „Dann ist das eben so?“ – „Hat er gesagt, ja.“

Maries Mutter zieht sich Schuhe an. Nimmt sich ihr Handy und den Schlüssel vom Küchentisch. „Was machen Sie jetzt?“ – „Nach deiner Mama sehen. Ich flitze da eben rüber, du bleibst hier bei Marie und Jule. Okay?“ – „Ich will das nicht, wenn mein Vater erfährt, dass ich hier gepetzt habe, bekomme ich richtig Ärger.“ – „Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen, erstmal müssen wir feststellen, was mit deiner Mutter los ist. Das Leben deiner Mutter ist wichtiger als dass dein Papa vielleicht austickt, das siehst du auch so, oder?“ – „Ja, aber wie wollen Sie das denn machen?“ – „Erstmal schaue ich jetzt nach deiner Mutter, dann komme ich zurück und dann sehen wir weiter, okay?“ – „Okay.“

Das Mädchen wohnt keinen Kilometer von der Praxis entfernt. Während Maries Mutter unterwegs ist, erzählt uns das Mädchen alles mögliche. Unter anderem von sieben Monaten stationärem Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und von einem Vater, der sein Kind körperlich schwer misshandelt, es zum Beispiel mit einem Kleiderbügel verdrischt, bis Blut fließt. Marie fragt: „Weiß meine Mama das?“ – „Nein.“ – „Du solltest ihr das erzählen.“ – „Und dann? Dann komme ich in irgendeine Einrichtung und habe mit anderen Jugendlichen zu tun, die mich abziehen, schlagen oder mit Drogen anfixen.“ – „Das muss ja nicht gleich sein.“ – „Deine Mutter muss das dem Jugendamt melden. Genauso wie meine Lehrer. Das habe ich im Internet gelesen. Deswegen sage ich das keinen Leuten, die irgendeine Funktion haben.“ – „Und du möchtest, dass ich das jetzt für mich behalte?“ – „Mach, was du willst, ich werde sowieso sagen, dass das alles nicht stimmt und ich das nur gesagt habe, weil ich Aufmerksamkeit und Mitleid wollte.“ – „Genau, Mädel, das glaube ich dir auch. Hältst du mich für blöd? Du liest im Internet nach, wer welchen Meldepflichten nachkommen muss, um dich darauf vorzubereiten, falls du mal mit der Tochter deiner Hausärztin auf dem Sofa sitzt, während meine Mutter deine Mutter …“

Sirenengeheul ist in einiger Entfernung zu hören. Ich sage: „Musst du wissen. Dein Leben. Wenn du das noch vier Jahre so aushältst, musst du das machen. Du merkst aber, dass die Situation immer schlimmer und unbeherrschbarer wird, oder? Du bist hierher gelaufen, weil du nicht mehr wusstest, was du tun sollst. Du hast ein halbes Jahr Psychiatrie-Erfahrung mit 14. Meinst du, die Probleme werden weniger, bis du 18 bist?“ – „Weißt du, wie es ist, wenn man seine eigene Mutter randvoll mit Tabletten auf dem Sofa findet?“ – „Nein. Aber ich weiß, wie
es ist, wenn man mit 16 nach einem Vierteljahr aus dem Koma aufwacht und die Eltern nichts mehr mit einem zu tun haben wollen. Und wie es ist, wenn der Vater ausrastet und einen mit besoffenem Kopf zusammenschlägt.“

„Bist du ausgezogen?“, fragt mich das Mädchen. Ich antworte: „Ja. Alleine hätte ich es sicher nicht geschafft, aber ich habe mir Hilfe gesucht, Hilfe bekommen und es war der richtige Schritt. Ich bin mir sicher, dass Maries Mutter dir helfen würde, die richten Menschen zu finden, die dir helfen können. Ich habe damals für kurze Zeit einen Vormund gehabt, der aufgepasst hat, ob ich alleine klar komme. Vielleicht gehst du nochmal in die Klinik und versuchst von dort aus, eine betreute WG zu finden? Vielleicht wäre es eine Alternative.“ – „Ich weiß es nicht. Ich habe auch viele schöne Jahre mit meinen Eltern gehabt. Dass die beiden sich nicht mehr verstehen und dass das alles so aus dem Leim geraten ist, ist ja erst seit drei oder vier Jahren. Aber vielleicht muss ich aufhören, mir einzubilden, dass das wieder so wird wie früher.“ – Marie sagt: „Wenn deine Mama Abschiedsbriefe schreibt, scheint sie sehr zu leiden. Vielleicht kannst du dich mit ihr solidarisieren und gemeinsam etwas neues anfangen, in einer neuen Wohnung oder so. Und deinen Papa einfach besuchen, wann immer du das willst.“

Der Hund seufzt. Als hätte er die Worte verstanden. Das Mädchen lacht. „Du bist eine Rübe“, sagt sie zu ihm und streicht ihm über den Kopf. Marie sagt: „Der müsste mal eine Runde gassi gehen. Machen wir das zu dritt?“ – Marie legt ihrer Mutter einen Zettel hin: Sind zu dritt mit dem Hund raus, habe mein Handy dabei. Als wir wieder zurückkommen, erzählt uns Maries Mutter, dass die Mutter ins Krankenhaus mitgenommen wurde. Die Mutter hatte eine für einen Suizid eher halbherzige Menge an Tabletten in einem Glas Rotwein aufgelöst, den Schlonz aber nicht getrunken. Sie war nicht bewusstlos, sondern habe nur so getan als ob. Das Mädchen sagt: „Dann hat mein Vater ja doch Recht gehabt.“ – „Deine Eltern haben sich beide unmöglich verhalten. Ich musste die Polizei hinzurufen, damit ich überhaupt in die Wohnung komme. Ich muss in der nächsten Stunde dem Kinder- und Jugendnotdienst erklären, wo du heute nacht bleibst. Nach Hause kannst du im Moment nicht zurück.“

„Warum?“, fragt das Mädchen. Maries Mutter antwortet: „Weil das in der Situation niemand verantworten kann. Dein Vater ist betrunken, deine Mutter ist psychisch nicht belastbar. Du hast mir doch mal erzählt, dass du in der Klinik gut zurecht gekommen bist und dort noch ambulante Therapie einmal pro Woche machst. Wäre es eine Lösung, wenn du dorthin für ein paar Tage gehst und dort den heutigen Abend noch einmal aufarbeitest?“ – „Das wäre eine sehr gute Lösung. Vielleicht kann meine Mutter für sich auch eine Therapie anfangen und wir können zu zweit was aufbauen, was wir zu dritt nicht hinkriegen.“ – Maries Mutter schluckt. Sie sagt: „Ich rufe in der Jugendpsychiatrie für dich an und schreibe dir eine Einweisung. Und einen Transportschein bekommst du auch von mir. Und jemanden, der dich direkt dorthin fährt, rufe ich dir auch. Okay?“ –   Okay.“

Eine halbe Stunde lang krault das Mädchen den Hund. Dann fährt ein Krankenwagen auf den Parkplatz vor dem Haus. Ein VW-Bus mit Hochdach einer Hamburger Rettungsorganisation. Ein in weiß gekleideter Sanitäter kommt rein, bekommt die ganzen Papiere in die Hand. Bevor das Mädchen mitgeht, fällt sie Maries Mutter um den Hals und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. In der Tür dreht sie sich nochmal um und sagt: „Danke euch dreien.“ – „Melde dich mal“, sagt Maries Mutter.

Als sie raus sind, fragt Marie: „Warum ein Krankenwagen?“ – „Damit sie da auch ankommt. Die fahren eine halbe Stunde, das ist eine halbe Stunde, um sich anders zu entscheiden, ohne dass jemand nachfragt. Und ich habe keinen Bock, dass sie noch auf dumme Ideen kommt.“ – „Meinst du, sie tut sich was an?“ – „Nein, sie steigt in den nächsten Bus und sucht ihre Mutter. Und fährt irgendwann völlig erschöpft zum Vater, weil sie einfach nur in ihr Bett will.“ – „Das heftigste weißt du ja noch gar nicht. Sie hat erzählt, dass ihr Vater sie mit dem Kleiderbügel blutig schlägt. Dass sie aber mit dir nicht drüber reden kann, weil du das dem Jugendamt melden musst. Das hätte sie im Internet gelesen.“ – „Damit hat sie ja auch nicht ganz Unrecht. Immerhin hat sie heute drüber geredet. Damit wird sich dann endlich mal was bewegen.“ – „Hättest du das gedacht, dass sie geschlagen wird?“ – „Ja. Ich habe es gewusst. Also ich hatte es im Gefühl. Richtig gewusst habe ich es nicht. Ich habe aber in meinem Brief an die Klinik damals sogar extra auf meine Vermutung hingewiesen.“ – „Schon heftig, oder?“ – „Der Vater hatte als größte Sorge, dass die Nachbarn was mitkriegen. Darüber habe ich ihn auch eingefangen: Ich lasse nicht locker, und wenn Sie jetzt noch viel Theater machen, wird der Auflauf an Polizei und Rettungskräften da draußen immer größer. Und irgendwann fährt er mit auf die Wache.“ – „Musste er mit?“ – „Nein. Die haben einfach keinen Mut, etwas Neues zu probieren. Und halten sich an alten Zöpfen fest und realisieren nicht, dass sie schon längst im freien Fall sind.“

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