Nachdem es am Morgen in Hamburg endlich mal wieder etwas abgekühlt war (ich habe nichts gegen den Sommer, aber für ein paar Stunden durchlüften tut mal ganz gut), demonstrierte zum Nachmittag die Sonne wieder ihre ganze Kraft und ließ das Thermometer auf 27 Grad steigen. Marie und ich entschieden uns, die Gunst des Wetters zu nutzen und vor dem Abendessen noch eine Stunde im See zu schwimmen. Eine Freundin von Marie, die gerade zwei Bücher zurück gebracht hatte, wollte spontan auch
mit. Und auch Maries Mutter fragte, ob wir was dagegen hätten, wenn sie
sich anschließt. „Wir wollen aber eine Stunde trainieren“, meinte Marie. – „Kein Problem, ich trainiere zwar keine Stunde, aber ich kann mich ja einen Moment in die Sonne setzen und lesen.“
Gesagt, getan. Wir bogen in die Zufahrtsstraße zum See ein. Auf ihr sind rund 20 Parkplätze am Straßenrand, die aber, weil die Leute ja nicht so gerne weit laufen, immer schnell belegt sind. Daneben ist noch eine Wiese, auf die locker 200 Autos passen, nur ist das mit den Rollstühlen etwas umständlich, denn das Gras ist nicht gemäht und der Boden äußerst uneben und mit tiefen Schlaglöchern durchsetzt. Maries Mutter versuchte also, auf der Zufahrtsstraße eine Lücke zu bekommen, und tatsächlich war eine frei. Langsam ranfahren, rechts blinken, bis auf Spiegelhöhe an das davor stehende Auto dicht heranfahren, Rückwärtsgang rein … und zack: Das nächste Auto war vorwärts in die freie Lücke geschossen und stand mehr schlecht als recht schräg drin.
Maries Mutter murmelte: „Oh, wirklich sehr freundlich.“ – Und so rücksichtsvoll. Maries Mutter fuhr weiter und wie es der Zufall so will,
fuhr ganz am Ende der Reihe gerade jemand weg. Der Parkplatz war noch wesentlich günstiger gelegen, denn nun waren wir direkt auf Höhe des Zugangswegs zur Badestelle. Maries Mutter und Maries Freundin luden die beiden Rollstühle aus dem Kofferraum und schoben sie zu unseren Türen. Während wir unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum holten, war die rücksichtsvolle Frau mit ihren zwei Kindern auf dem Weg zum See und musste, um dorthin zu gelangen, direkt an uns vorbei. Maries Freundin stand etwas abseits von uns neben einer großen Hecke, fummelte gebannt an ihrem Handy herum und pupste nonchalant. Marie grinste mich an und stupste sich selbst gegen ihre scheinbar juckende Nase. Maries Mutter sammelte gerade noch etwas aus ihrer Türablage, so dass sie das nicht mitbekam.
Dafür bekam es aber das eine Kind der rücksichtsvollen Mutter mit. Das alles wäre nicht der Rede oder gar eines Beitrags wert, wäre es nicht so skurril: „Mama, die Frau hat gepupst!“ – Maries Freundin lächelte verlegen, die Mutter antwortete, während sie langsam vorbei ging und ihren Sohn an der Hand hielt: „Die Frau weiß das nicht besser, die ist behindert.“ – Jetzt reichte es aber gleich, auch wenn es vermutlich gar keinen Sinn hatte, darauf etwas zu erwidern. Bevor ich Luft holen konnte, sagte der Junge: „Nein, Mama, das war die andere, nicht die Behinderte!“ – „Dann ist die Frau ziemlich ungezogen!“
Maries Mutter hatte das scheinbar nur halb mitbekommen, kam zum Kofferraum und fragte: „Wer ist ungezogen?“ – „Du! Weil du sie dorthinten ausgebremst hast, nur, damit du hier den schöneren Parkplatz bekommst.“ – „Die tickt wohl nicht ganz richtig.“ – „Nein, es geht um [Maries Freundin]. Sie hat gefurzt und der Junge hat es gehört und gleich an Mama gepetzt. Und die meinte erst, die Behinderten wüssten das
nicht besser, und als sich rausgestellt hatte, dass das nicht die Behinderten waren, meinte die Mama, [Maries Freundin] sei ziemlich ungezogen.“ – Maries Freundin sagte: „Ich wollte das nicht im Auto machen und bin extra ein Stück zur Seite gegangen. Warum ist denn das jetzt so ein Drama?“
„Das ist überhaupt kein Drama“, sagte Maries Mutter. „Vermutlich hat die Frau nur ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper und erzieht das ihren Kindern auch gleich an.“
Während die merkwürdige Frau mit ihren Kindern weit nach hinten über die Badewiese ging, blieben wir eher weiter vorne. Wir wollten so bald wie möglich ins Wasser, denn wir wollten ja auch noch ein paar Kilometer
schwimmen. Während wir auf dem Po sitzend uns in Richtung Wasser über den Strand bewegten, kam -wie könnte es anders sein, und wer mich genauer kennt, weiß inzwischen, dass ich skurrile Personen immer mehrmals treffe- der Junge angelaufen, sprang neben uns mit seinen Füßen
in dem flachen Wasser auf und ab, kniff sich in seine Wiener Wurst, holte selbige aus der Badehose und strullerte direkt neben uns im hohen Bogen in den See. „Na legger“, kommentierte Marie. – „Tu nicht so, als wenn du das nicht machst“, konterte ich. „Seit deinem letzten Fragebogen im Internet weiß ich über das Gegenteil genauestens Bescheid.“
„Ich stell mich aber nicht vor allen Leuten hin dabei“, antwortete sie. Ich erwiderte: „Stimmt, du kannst ja nicht stehen!“ – „Genau.“ – Maries Freundin sagte: „Worüber redet ihr? Ich komme gerade nicht mit.“ –
Im selben Moment kam die Mutter angewetzt, brüllte ihr inzwischen wieder hüpfendes Kind an: „Hörst du schwer, ich hab dir gesagt, du gehst
nicht ohne Schwimmflügel ins Wasser!“ – Das Kind hüpfte nicht mehr, sondern zog den Kopf ein. Sie sah uns und fauchte weiter: „Und dann kommst du weg hier von den Behinderten, die brauchen Platz und wollen nicht von dir gestört werden.“ – Einige Sekunden später, als die beiden außer Hörweite waren, sagte Marie: „Am besten wäre, wenn die ungezogene [Maries Freundin] der Mutter gesteckt hätte, dass ihr braver Sohnemann gerade einen Viertelliter hochkonzentriertes renales Filtrat im Badesee verklappt und somit maßgeblich zur Vermehrung von Cyanobakterien beigesteuert hat.“ – „Sowas macht mein Sohn nicht, der weiß nicht mal, wer dieser Cyano ist“, blödelte ich. – „So wirds sein, genau.“
Als wir von unserer Schwimmstrecke wieder zurück waren und inzwischen
auch noch mit einigen zufällig anwesenden Triathleten ins Gespräch gekommen waren, kam ein Mann auf uns zu. Wir saßen auf einer Decke auf dem Rasen, unsere Rollstühle standen etwa drei Meter von uns entfernt. Der Mann fragte: „Entschuldigung, darf ich Sie mal was fragen? Gehören die Rollstühle Ihnen?“ – „Ja, warum?“ – „Die standen hier die ganze Zeit.“ – „Ja, wir waren im See schwimmen.“ – „Achso, und ich hatte mich schon gewundert, wer mit dem Rollstuhl zum See fährt und dann hier stundenlang spazieren geht! Wie dumm von mir! Schönen Tag noch!“ – Marie
und ich guckten uns an. Vermutlich ist das Naheliegendste nur für uns naheliegend.
Maries Mutter, die uns gerade ein Eis von einem nahe gelegenen Imbiss
geholt hatte, hatte den letzten Satz mitbekommen und schüttelte nur den
Kopf. Ich sagte: „Beschwer dich nicht zu laut. Bei unserem Glück kippt gleich noch jemand um, springt kopfüber ins flache Wasser oder ein Rennradfahrer zerlegt sich oben an der Kreuzung.“ – Eine Stunde später, wir sind auf dem Rückweg, bremst vor uns ein Autofahrer scharf. Vor ihm war ein Rennradfahrer gestürzt. Der Grund war nicht erkennbar. Er war auch nicht wirklich schnell und außer ein paar blutenden Schürfwunden und kaputten Klamotten schien ihm nichts passiert zu sein. Zum Glück.
Ganz anders erging es etwa zeitgleich einem seiner Kollegen in der Nähe unserer Trainingsstrecke, wie heute in der Zeitung stand. Wir waren
zum Glück nicht live dabei. Schon vor rund zwei Jahren war dort jemand tödlich verunglückt, als ein Lkw-Fahrer zum Überholen mitten in eine Gruppe Radler hineinlenkte und später mit einer Bewährungsstrafe von 10 Monaten
davon kam. Gestern nun fühlte sich fast an derselben Stelle ein etwa 30jähriger Renault-Fahrer von zwei nebeneinander fahrenden Rennradlern so provoziert, dass er nicht nur laut hupend überholte, sondern auch noch direkt vor ihnen einscherte und eine Vollbremsung hinlegte. Einer knallte direkt in den Kofferraum, der andere schaffte es gerade noch, rechts dran vorbei zu ziehen, wurde dann aber unsanft vom Rad geholt, weil der Beifahrer blitzschnell seine Tür aufstieß. Ein Radler wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht und dort stationär aufgenommen,
der andere kam mit leichteren Verletzungen davon. Die Polizei konnte die beiden Chaoten schnappen, beide waren erheblich alkoholisiert. Marie, als sie die Zeitungsmeldung sah: „Ich weiß, warum wir nicht im fließenden Verkehr, sondern nur auf abgesperrten Strecken trainieren. Stell dir mal vor, die beiden sehen ein Rennbike, fühlen sich noch mehr belästigt, und fahren dann so ein Manöver. Ein Rennbike hat einen deutlich längeren Bremsweg als ein Fahrrad. Und der Kopf wäre auf Höhe der Stoßstange. Hurra.“