Ich hatte einen schönen Abend mit einem Freund, wir haben uns über alles Mögliche und Unmögliche unterhalten. Und er erzählte mir von seinem Abenteuer mit der Fahrschule, das ich unbedingt aufschreiben möchte. Der Mann ist fast doppelt so alt wie ich und hat seit über 20 Jahren eine Fahrerlaubnis. Hatte noch nie Punkte in Flensburg, noch nie einen Unfall verschuldet – und fährt pro Jahr zwischen 30.000 und 50.000 Kilometern. Das Auto bedient er mit den Händen, denn auch er ist Rollstuhlfahrer. Wir kennen uns vom Sport. Ich kenne nun inzwischen mehrere Leute, mit denen er Autofahren in der Großstadt geübt hat. Die meistens im Hamburger Umland in kleinen Dörfern wohnen, dort auch ihren Führerschein gemacht haben, und nun vor Hamburgs überwiegend mehrspurigen Straßen zu viel Respekt oder gar Angst haben. Und vielleicht zusätzlich ihren Führerschein mit den Füßen gemacht haben – und später, wegen eines Unfalls oder einer Krankheit, auf Handbedienung umlernen mussten. Diejenigen machen ja nicht den kompletten Führerschein neu, sondern in der Regel nur eine kurze Fahrprobe, in der ein Prüfer dokumentiert, dass sie mit den Händen sicher fahren können. Routine hat damit aber noch niemand.
Eine von ihnen kenne ich besonders gut. Sie heißt Jule und hat einen Blog, in dem es um Stinkesocken geht. Insgesamt fünf Mal habe ich ihn, kurz nachdem ich den Führerschein hatte, auf dem Beifahrersitz durch Hamburg kutschiert. Es war mir eine große Hilfe, denn er ist ein absolut toller Beifahrer. Strahlt in der größten Hektik absolute Ruhe aus. Und gibt große Sicherheit, da er schon lange vorher erklärt, was gleich passieren wird. „Am Ende, dort, wo der Möbelwagen steht, biegen wir rechts in eine Straße mit sechs Spuren ab. Du achtest auf den Gegenverkehr und auf den Fußgängerüberweg. Der Gegenverkehr hat zwar keinen Vorrang, aber manchmal weiß das jemand nicht und fährt einfach durch. Fußgänger kreuzen, die haben Vorrang. Wir ordnen uns sofort in die zweite Spur von links ein und folgen dann dem Spurverlauf in den Tunnel hinein. Wichtig ist, dass du genau der Spur folgst.“
Aktuell hat ihn eine Sportlerin um Hilfe gebeten. Sie ist 20 Jahre alt und übt in der rund 30. Fahrstunde noch immer das Rechtsabbiegen. Es gehe einfach nicht weiter, das ganze Projekt drohe zu scheitern. Sie hat eine Zerebralparese, die Fahrschule ist auf Menschen mit Behinderung spezialisiert und hat auch ein entsprechend umgebautes Auto. „Da sind, wenn wir davon ausgehen, dass jede Fahrstunde rund 50 € kostet, inzwischen 1.500 € reingeflossen, und irgendwie kommt sie auf keinen grünen Zweig.“ – Die junge Frau, die in diesem Jahr ihre Berufsausbildung erfolgreich abgeschlossen hat, hat ihn um Hilfe gebeten. Sie hat das Gefühl, zwischen ihr und dem Fahrlehrer gebe es ein Kommunikationsproblem.
Zwei Fahrstunden, so erzählte er mir, habe er hinten im Fahrschulwagen gesessen und sich das angeschaut. Er sagte: „Ich wäre fast wahnsinnig geworden. Er fuhr mit ihr fast ständig durch enge 30er-Zonen, in denen ein Paketfahrer hinter dem nächsten stand, Radfahrer kreuz und quer fuhren, ständig wer auf die Fahrbahn lief und man gerade, wenn man nicht so routiniert ist, mehr bremst und steht als fährt. Dann hat es geschüttet wie aus Kübeln und dann ging ständig beim Anhalten das Auto aus – wegen einer Start-Stopp-Automatik. Die jemanden,
der alles Wahrgenommene erstmal ordnen muss, besonders nervös macht. Am Ende der Stunde habe ich mal meine Wange an ihre gehalten. Ihre glühte, meine weniger, aber was ich sah, war erschreckend: Nichts. Sie konnte aus ihrer Sitzposition kaum über das Lenkrad gucken. Und sah so auch überhaupt nicht, wo sie hinlenkte. Die Straße in 100 Metern Entfernung konnte sie erkennen, aber wo beim Abbiegen der Bordstein war, konnte sie
nur erahnen. Das war unglaublich.“
Der Fahrlehrer meinte, der Sitz sei bereits in der höchsten Position und sie brauche später im eigenen Auto einen besonderen Sitz. Die Idee, doch ein dickes Sitzkissen zu benutzen, führte prompt zu einer wesentlichen Besserung. Und dann sei er derjenige gewesen, der ihr intensiv erklärt hat, wohin sie schauen müsste. Jemand mit Zerebralparese, der seine Umwelt mitunter wahrnimmt wie durch Watte, der alle Reize in gleicher Stärke erlebt, Eindrücke schlecht selektieren, bewerten und loslassen könne, braucht am Anfang klare Hilfen, worauf er sich jetzt konzentrieren müsse. Ich habe ihr einfach gesagt: „Einmal auf den Tacho schauen, ob du 50 fährst, einmal an den Horizont, ob die Straße frei ist, einmal in den Spiegel, ob hinter dir ein Auto fährt, einmal auf deinen Vordermann, was der tut, und dann wieder auf den Tacho… – Wir haben das intensiv geübt, immer wieder aufgegriffen und verfeinert, damit sie ein Gespür dafür bekommt und sich selbst richtig triggert – nach 45 Minuten fuhr sie nicht mehr nur 12 bis 18, sondern 50 km/h, bog rechts ab, bog links ab, jeweils ohne den Bordstein mitzunehmen. Natürlich überhaupt nicht routiniert, sondern wie jemand, der die dritte Fahrstunde hat. Aber der Groschen war gefallen und sie war plötzlich super glücklich und motiviert.“
Ich bin keine Fahrlehrerin. Aber ich würde natürlich erwarten, dass eine spezialisierte Fahrschule diesen Support bieten kann. Vielleicht lädt sie ihn sich ja mal als Referenten für eine Fortbildung ein. Ich glaube, das wäre eine gute Idee und eine große Hilfe für alle anderen Zerebralparetiker (Spastiker), die nach der Sportlerin dort ihren Führerschein machen wollen.