Ich habe die Nacht durchgeschlafen, am Morgen wurde ich vom Wecker geweckt. Neben uns auf dem Parkplatz hat mitten in der Nacht ein Wohnmobil geparkt, das habe ich gar nicht mehr mitbekommen. Noch drei Stunden bis zum Start. Pinkeln geht auch vom Baumstumpf, Zähneputzen auch mit Mineralwasser. Auf dem Weg zum Start kamen wir an einem Bäcker vorbei, der sogar schon geöffnet hatte. Wir konnten mit dem Auto direkt bis an den Start heranfahren und etwa fünfzig Meter daneben auf einer Wiese parken. Ein Wasserrettungsverein hatte Spaß damit, sich gegenseitig die Rücken-Klettschilder (wie „Einsatztaucher“) überkopf aufzukletten. Ein Pavillon wurde aufgebaut. „Siehste, kommst ja doch noch zum Grillen. Krakauer Zwozwanzig“, sagte ich zu Lisa. Sie antwortete: „Zum Frühstück? Pfui.“
Wir begannen, unsere Rennrollstühle und Rennbikes rauszuholen und herzurichten. Es gab einige interessierte Leute, die sich für die Übersetzung, den Hersteller der Kettenblätter und die Frage interessieren, ob das Bike trotz Scheibenbremsen ruhig läuft. Dann fragte mich ein junger Mann, um die 20, nach dem Weg zu den Umkleiden. Ich konnte ihm die Frage nicht beantworten und schickte ihn zu einem Offiziellen. Wir begannen, uns genügend Flüssigkeit zuzuführen. Eigentlich viel zu spät. „Haben die eigentlich ein Rolliklo?“, fragte ich Lisa. Lisa antwortete: „Ich glaube, die haben nicht mal ein normales Klo hier. Ich habe zumindest noch keins gesehen.“ – „Gehen die jetzt alle in die Büsche oder was?“ – „Oder in den See. Dann ist es nachher wenigstens nicht ganz so kalt.“ – „Na legger. Und ernsthaft?“ – „Irgendwo müssen die Dixis ja stehen.“
Unerreichbar für uns gab es in der zweiten Etage des Bootshauses vier Unisex-Toiletten. Über dem spiegelglatten See lag dünner Nebel. Ein Rabe kam angehüpft, legte den Kopf schief und guckte uns einige Zeit aufmerksam zu. Irgendwann traute er sich bis auf einen halben Meter an Lisa heran. Sie fragte: „Na, wer bist du denn?“ – Ich antwortete mit krächzender Stimme: „Ich bin der Jakob, und ich habe Hunger. Wenn du mir
jetzt die Nutella-Brötchen-Krümel von deinem Schoß gibst, laufe ich dir noch mindestens eine halbe Stunde lang aufmerksam hinterher.“ – Lisa streckte mir die Zunge raus und wischte die Brötchenkrümel von ihrem Schoß. Auf den Moment hatte Jakob gewartet. Allerdings hatte er wohl gehofft, dass dabei etwas mehr als ein halbes Spatzen-Frühstück zusammenkommt.
Ein Ordner kam zu uns, legte seinen Arm um meine Schulter und wollte mir erklären, wo der Start ist. Ich sagte: „Oah, bitte nicht anfassen. Das habe ich nicht so gerne.“ – Er starrte mich entsetzt und fragend an.
Ich fügte hinzu: „Ja, ist so. Sie können doch nicht einfach jeden anfassen.“ – Er schüttelte den Kopf und zog davon. Eine Frau mit einem Edding und unseren Nummern kam zu uns. „Guten Morgen, an unsere Theke kommen Sie nicht, da müssten Sie durch das hohe Gras, also komme ich zu Ihnen.“ – Wir bekamen unsere Chips, wurden angemalt, bekamen die Nummern mit Kabelbinder an den Bikes und Rennstühlen befestigt. Dann kam ein älterer Mann, geschätzt 60, zu uns. „Ich sammle Autogramme. Können Sie hier in meinem Büchlein unterschreiben?“ – „Wer von uns?“ – „Na beide!“
Wir starteten eine kurze Aufwärmrunde mit dem Bike. Warm werden, aber bloß nicht ins Schwitzen kommen, war die Devise. Als wir wieder zurück waren, zogen wir unsere Neos drüber und rollten zum Einschwimmbereich. Noch 30 Minuten. Sollten wir wirklich? Es war arschkalt und es fielen die ersten Regentropfen. Ein Ordner schob unsere Rennbikes und Rennstühle ins Bootshaus. „Was macht der denn jetzt?“, fragte Lisa. Er kam anschließend zu uns: „Ich habe Eure Geräte mal ins Trockene gestellt, das wird ja sonst alles nass. Aber ich schiebe sie rechtzeitig
wieder zurück.“ – Ähm. Bitte?! Man stelle sich jetzt nur mal vor, das würde jemand mit den Rennrädern eines Fußgängers machen. Und hoffentlich werden wir dafür nicht disqualifiziert. Denn eigentlich dürfen die Räder die Wechselzone nicht mehr verlassen. Nur wenn ich mich jetzt noch mit dem nächsten Ordner anlege, der es „nur nett“ meint, gehe ich vermutlich nicht als eine der ersten beiden Rollifahrerinnen, sondern als Oberzicke in die Bücher der Veranstaltung ein. Also lächelte ich höflich und sagte ich dazu mal nichts.
Ein Moderator beschallte mit einer Lautsprecheranlage das gesamte Gelände. Gerade war „Samurai“ von der Ersten Allgemeinen Verunsicherung verstummt, ich war ja froh, dass sie nicht aus Versehen „Burli“ gespielt
haben, da wurde angekündigt, dass das Wasser kalt, das Wetter scheiße und die Teilnehmerzahl nicht so hoch wie im letzten Jahr ist. Aber: „In diesem Jahr sind erstmals zwei Behinderte am Start. Begrüßt mit mir Lisa
und Julia aus Hamburg!“ – Die Menge klatschte und gröhlte. Lisa und ich klatschten und winkten einmal freundlich in die Menge. „Die beiden erkennt ihr an der orangenen Badekappe. Ihr habt alle eine gelbe, die beiden Behinderten haben eine orangene. Nehmt etwas Rücksicht und schwimmt sie nicht über den Haufen! Wir starten vom Strand, Lisa und Julia starten aus dem Wasser.“
Lisa sagte leise: „Ach echt? Ich dachte, wir starten vom Steg.“ – „Wir werden es ja sehen.“ – „Ich bin so aufgeregt.“ – „Wird schon schiefgehen!“, versuchte ich sie zu beruhigen. Daran war aber nicht zu denken: „Was meinst du, sind da tote Fische im See?“ – „Zombies!“, blödelte ich. – „Das ist Maries Witz.“ – „Stimmt, aber Marie ist nicht da.“ – „Die sollen mal hinne machen, ich muss dringend ins Wasser.“ – „Setz dich doch auf den Rasen. Dann kann einer der Ordner schonmal deinen Alltagsstuhl wegbringen.“ – „Gute Idee“, befand Lisa. Ich setzte mich zu ihr, zwei Ordner, die zuvor auf das Flatterband aufgepasst hatten, rollten unsere Alltagsstühle in das Bootshaus.
Zur Freisetzung des letzten Fünkchens Motivation hielt dann noch der Bürgermeister eine Ansprache über das Mikrofon. Am Wochenende so früh aufstehen sei eine Sache, dann aber kilometerweit schwimmen, radeln und laufen, da bewundere er uns. Und ganz besonders bewundere er die beiden Rollstuhlfahrerinnen, die das alles ohne Einsatz ihrer Beine machen werden. „Können die beiden mal winken?“ – Wir winkten. – „Ah, ich habe sie entdeckt. Ich wünsche Euch und allen anderen Sportlerinnen und Sportlern einen verletzungsfreien und fairen Wettkampf! Ich hoffe, dass ich alle am Ziel wiedersehen werde und übergebe das Mikro nun zurück an den Wettkampfleiter.“
Lisa tickte mich an. „Spitzmaus und Spitzmaus“, sagte sie und zeigte dabei zunächst auf mich und dann auf sich, „krabbelten ums Bootshaus. Wollten sich was kaufen … wie geht es noch gleich weiter?“ – „Keine Ahnung“, antwortete ich. – „Na jedenfalls hatten sie kein Geld mit. Irgendwie so. Also: Wollten sich was kaufen, tralala, hab ich vergessen, und dann: Setzten sich ins grüne Gras und pieselten die Hosen nass.“ – Ich schüttelte den Kopf. Lisa lachte: „Triathlon! Wenn man muss, dann muss man.“ – „Ich kenne den Spruch mit der Dickmadam und der Eisenbahn.“ – „Das kenne ich auch, das diskriminiert aber dicke Leute, hat mal ein Lehrer von mir gesagt.“ – „Aha. Und der Biss einer Spitzmaus ist giftig. Musste ich gerade kürzlich lernen. Die Viecher verwenden das gleiche Gift wie ein Skorpion.“ – „Das ist ja widerlich. Dann bin ich lieber doch keine Spitzmaus.“
Zwei kräftige Jungs in Neoprenanzügen kamen zu uns. „Wir sollen Euch ins Wasser tragen. Wen zuerst?“ – Wir deuteten beide gleichzeitig aufeinander, sagten dann beide wie aus einem Mund: „Na gut.“ – Die Jungs
im Neo lachten. „Ihr seid bestimmt so leicht, dass jeder von uns eine von Euch huckepack kriegt, oder?“ – „Können wir probieren.“ – Wir klammerten uns um die Schultern, die beiden standen aus der Hocke auf, latschten mit uns ins Wasser. Wir waren kaum bis zur Brust drin, da kam das Startsignal. Ich schubste mich von meinem Träger weg und schwamm. Eine Frau paddelte auf einem Surfbrett liegend vorweg und zeigte den Weg zur nächsten Boje. Lisa und ich mussten anfangs etwas schräg schwimmen, um zum Hauptfeld zu kommen. Das sollte unseren Vorsprung, den wir dadurch bekommen hatten, dass wir ins Wasser getragen wurden, wieder ausgleichen. Ich befand mich dennoch in der Spitze eines Feldes aus rund 70 Personen und gab Vollgas. Konzentrierte mich nur auf das Schwimmen, konnte mich gut an der Frau auf dem Surfbrett orientieren, schluckte ein paar Mal Wasser, als eine Welle beim Einatmen mein Gesicht traf, verschluckte mich aber nicht. Alles lief super.
Die Schwimmstrecke verlief als Dreieck, man musste um zwei große Bojen herum schwimmen. Bei der ersten Boje gehörte ich noch zu den fünf Schnellsten. Ich schwamm, vorgegeben durch meinen Startplatz, auf der Innenseite des Feldes und bekam auf Höhe der Boje den Kampfgeist der anderen Teilnehmer zu spüren. Ein Kick in den Bauch, ein anderer gegen den Ellenbogen, das zwiebelte ganz schön. Dann schwamm irgendjemand fast auf mir. Vier, fünf Mal bekam ich seinen Arm in die Seite. Ich wich etwas nach links aus, das brachte aber nichts. Ich hörte den langen Pfiff einer Trillerpfeife. Galt der mir? Wohl eher nicht. Ich schwamm weiter. Der Typ, der eben noch halb auf mir lag, schwamm etwas weiter rechts. Inzwischen hatten mich einige Leute überholt. An der zweiten Boje war ich geschätzt noch unter den ersten fünfzehn. Das lief besser als gedacht. Und das, obwohl ich selten schlechter vorbereitet in einen Triathlon gegangen war. Hoffentlich würde ich das durchstehen.
Am Ende wartete bereits ein Helfer im Neo auf mich. Im hüfttiefen Wasser umklammerte ich seinen Oberkörper, er trug mich raus, lief mit mir über den Strand an die Stelle, wo eigentlich unsere Bikes stehen sollten. Er setzte mich etwas unsanft auf dem Boden ab. Ich begann, mich aus dem Neo zu schälen. Er wollte mir helfen. „Wo sind unsere Bikes? Die hatte vorhin jemand ins Bootshaus geschoben.“ – Das durfte doch nicht wahr sein. Der Typ im Neo flitzte los. Bis zum Bootshaus waren es rund 300 Meter. Während ich mich wie ein Käfer auf dem Rücken im Gras wälzte und meinen Neo auf links zog, kam Lisa bereits auf dem Rücken des anderen Helfers aus dem Wasser. Auf der anderen Seite kamen rund ein Dutzend Leute mit unseren Sportgeräten angelaufen. Jeweils vier Leute trugen sie, vermutlich war die Feststellbremse angezogen. Unglaublich. Ich krabbelte in mein Rennbike, klettete meine Beine fest, trocknete meine Hände ab und wischte den Sand weg, Helm auf, Sonnenbrille auf, Trinkflasche ausgerichtet, dann wurde ich über den Rasen zu dem Grundstück gezogen, über das wir die Wechselzone verlassen sollten. Vor der Garage stand noch ein Auto, was dort eigentlich nicht stehen sollte, so dass ich kurzerhand nicht über die Garagenauffahrt, sondern über den gepflasterten Weg rund um einen Fischteich das Gelände verließ. Dann war ich auf der Straße und konnte endlich Gas geben.
Die Straße war zwar für den Autoverkehr gesperrt, aber einige Leute hielten sich daran nicht. Zum Glück war die Fahrbahn breit genug, so dass wir uns nicht ins Gehege kamen. Einige Autofahrer wichen auch auf den Radweg aus und warteten dort. Die Straße war gut asphaltiert und hatte keine Löcher, so dass man vernünftig fahren konnte. Einige Leute auf Rennrädern überholten mich. An der Strecke standen einige Grüppchen und feuerten an. Die Straße war teilweise nass vom Regen und entsprechend rutschig. Zwei Leute hatten sich gleich in der ersten Kurve hingelegt. Man musste schon etwas langsamer werden. Die Strecke war gut ausgeschildert. Eine Bundesstraße wurde von der Polizei abgesperrt, das funktionierte einwandfrei. Die Lufttemperatur war genau richtig, die Sonne schien inzwischen ein wenig und wärmte angenehm. Meine Blase meldete sich in einer Tour, das war aber nach dem einen oder anderen tiefen Schluck aus dem See kein Wunder. Übel war mir aber nicht, mein Kreislauf spielte auch mit, nichts scheuerte, nichts tat weh, alles war gut.
Lisa war inzwischen etwa 500 Meter hinter mir, wie ich irgendwann zufällig bemerkte. Ich konnte die zweite Wechselzone am Ende der Straße sehen. Während Fußgänger nur bis zu einer Linie auf dem Rad fahren dürfen und ab dort ihr Rad schieben müssen, gilt für Paratriathleten, dass sie hinter dieser Linie nicht schneller als 12 km/h rollen dürfen. Ein Kampfrichter stand an dieser Linie und hielt – wie bei jedem Rennen – massenweise Teilnehmer an, die ihre Helme bereits vor dieser Linie geöffnet und teilweise auch schon abgenommen hatten. Die Regel ist, dass der Helm erst nach Abstellen des Rades geöffnet werden darf. So mussten sie alle dort anhalten, für die letzten 20 Meter ihren Helm wieder aufsetzen und nochmal ordnungsgemäß verschließen. Ich brüllte rechtzeitig, um nicht erst stoppen und mühsam wieder anfahren zu müssen: „Darf ich mal vorbei?“ – Der Ordner brüllte zurück: „Und wenn Sie dabei jetzt noch die Frau im Rollstuhl behindern, werden Sie disqualifiziert!“ – Hier herrscht Recht und Ordnung! Etliche Leute sprangen zur Seite.
Ich hielt direkt neben meinem Rennrollstuhl. Das Umsetzen dauerte keine Minute, nebenbei eine Banane in den Mund, Hände abtrocknen, Handschuhe an. Ich fuhr gerade los, da kam Lisa in die Wechselzone. Sie streckte mir einmal die Zunge raus. Ich grinste. Das Auto stand inzwischen nicht mehr auf der Auffahrt, mit dem Rennrolli wäre der Weg um den Fischteich auch etwas beschwerlicher geworden. Ab auf die Straße, erstmal loskommen. Ich kam nach einigen Metern an einem Wasserstand vorbei und ergatterte im Vorbeirollen einen Pappbecher. Die Hälfte des Inhalts schwappte mir wegen des weichen Bechers über die Brust, den Rest kippte ich in drei großen Schlucken in mich rein. Becher weg, weiter. Einen Kilometer weiter gab es einen Müsliriegel. Eingepackt. Tolle Idee…
Der Rest der Strecke lief fast automatisch. Ich versuchte, den möglichst optimalen Weg zu finden und konzentrierte mich auf ein möglichst gleichmäßiges Tempo. Da ich mit meinem Rennrollstuhl durchaus ein höheres Tempo erreiche als ein Fußgänger im Ausdauerlauf, überholte ich etliche der Leute, die mich zuvor mit ihrem Rennrad abgehängt hatten, wieder. Die drei Stufen vor dem Zieleinlauf kamen sehr überraschend, so dass ich ziemlich scharf abbremsen musste. Drei Leute mit gelben Westen fassten an und hoben mich mitsamt dem Stuhl über die drei Stufen. Ich rollte über einen gepflasterten Weg direkt auf die 400-Meter-Bahn der Anlage. Leider wurde die in Drehrichtung des Uhrzeigers befahren, also gegen die sonst übliche Richtung, so dass die im Rennrolli eingestellte Kurvenvorgabe wirkungslos war und ich mehrmals manuell gegensteuern musste. Über Lautsprecher wurde die halbe Anlage beschallt. „Und da kommt bereits die erste Rollstuhlfahrerin, ich habe noch nicht gesehen, ob es Lisa oder Tina ist, aber das ist im Moment auch egal, freuen Sie sich mit mir auf ihren Zieleinlauf.“ – Einige Leute klatschten. Ich fragte mich, wer Tina ist und wie überrascht man wohl sein würde, wenn es weder Lisa noch Tina ist, die da über die Ziellinie rollt.
Endlich auf der Zielgeraden. Auf einer Zuschauertribüne saßen geschätzt 200 Leute, die nun klatschten, von ihren Sitzplätzen aufstanden und mich anfeuerten. Hoffentlich passt mein Rennrolli durch den schmalen Zieleinlauf und ich fahre nicht noch ein Gitter um oder sowas. Oder dem Bürgermeister über die Füße. Vor allen Leuten sich auf den Schoß reihern wäre bestimmt auch klasse. Ich sah Lisa, die gerade vom gepflasterten Weg auf die Bahn rollte. Während ich über die Ziellinie fuhr, kam eine Ordnerin auf mich zugesprungen und wollte, dass ich meinen Chip an ein Lesegerät halte. Ein anderer Typ hielt mir ein Mikro unter die Nase. Drei Sekunden nach dem Überqueren der Ziellinie. „So, Julia, lese ich, wie war es?“ – „Ich bin im Ziel, bin völlig außer Atem von einem Endspurt auf den letzten vierhundert Metern und sehe gerade, dass ich nur ganz knapp vor meiner Herausforderin ins Ziel gekommen bin.“, hechelte ich. – „Kommen Sie mal ein kleines Stück mit mir, wie war die Strecke?“ – „Lassen Sie mich erstmal fünf Minuten runterkommen, bevor wir ein Interview machen, okay?“ – „Das ist natürlich völlig verständlich“, sagte er, dann wurde dem Typen der Saft abgedreht und ein unsichtbarer Moderator erzählte weiter: „Die Julia werden wir nachher bei der Siegerehrung nochmal zu Wort kommen lassen, jetzt feuern Sie bitte erstmal Lisa an, denn die letzten hundert Meter sind die schwierigsten!“
Wenn auch sonst das eine oder andere etwas holprig verlaufen war, eine Sache hatte geklappt: Unsere Alltagsstühle hatte man vom Start zum Ziel befördert. Wunderbar. Ein Ordner kam, beide Stühle an der Rückenlehne schiebend, auf mich zu. Ich signalisierte ihm, dass wir den Transfer nicht vor allen Leuten machen würden, sondern dafür hinter die Tribüne rollen. Auch Lisa wurde beklatscht und lehnte das Interview mit einem hechelnden „Später, okay?“ ab. Dann kam sie zu mir. Ich knuddelte sie erstmal, dann fuhren wir duschen.
Frisch gebürstet und gestriegelt tauchten wir dann bei der Siegerehrung auf, bekamen unsere Urkunden, eine Medaille und noch einmal das Mikro unter die Nase gehalten. Wir bedankten uns für die Organisation, für das tolle Erlebnis. Auf die Schwachstellen in der Organisation ging ich gar nicht erst ein, auch wenn ich explizit danach gefragt wurde. Vor Publikum musste das nicht sein, so dass ich nur sagte: „Es war ein schöner Tag, ihr seid ein tolles Team mit vielen hilfsbereiten Menschen hier, und dass beim ersten Mal noch nicht alles routiniert abläuft und das eine oder andere noch optimiert werden kann, ist völlig normal. Wir freuen uns, dass wir dabei sein konnten, und wir freuen uns über zwei tolle Zeiten und einen tollen Applaus im Ziel.“ – Der Organisator meinte dennoch: „Ich persönlich freue mich riesig, dass wir erstmals zwei Paratriathletinnen dabei gehabt haben und ich euch kennenlernen durfte. Es war eine spannende Herausforderung, ich bin froh, sie angenommen zu haben, denn ich habe heute so viele wichtige Dinge dazu gelernt wie auf den letzten zehn Veranstaltungen nicht. Ich bin ganz ehrlich, bis heute morgen fand ich mich cool, weil ich hier jedes Jahr mit meinem Team dieses Event auf die Beine stelle, aber heute musste ich feststellen, ich habe dabei nie an Menschen mit Behinderung gedacht und bin in diesem Trott über zehn Jahre lang völlig an der Realität vorbeigelaufen. Ich verspreche Euch, beim nächsten Mal haben wir für Euch den gleichen Standard wie für alle anderen Athletinnen und Athleten, und ich lade Euch schon heute ein, im nächsten Jahr dabei zu sein und uns mit anderen Triathlon-Events zu messen!“