Als ich am Sonntagabend vom Triathlon wieder zurück war, zusammen mit Maries Eltern zu Abend gegessen hatte und mich langsam bettfertig machte, bekam ich eine Nachricht von Marie. Es würde noch länger dauern.
Sie hängt mit dem Auto hinter einer Streckensperrung, der ganze Autobahnverkehr werde über eine völlig überlastete Landstraße umgeleitet, sie hatte bis eben gehofft, nun wieder auf die Autobahn auffahren zu können, aber die Umleitung gehe noch eine Ausfahrt weiter. Im Schritttempo. Irgendein umgestürzter Lastwagen, der seine Ladung quer über die Autobahn verteilt hatte. Zusammen mit dem Rückreiseverkehr und dem Dauer-Chaos vor dem Elbtunnel.
Marie war für ihr Studium bei einer Praxis-Einheit, die über das Wochenende andauerte. Als sie später völlig geschafft zu Hause ankam, meinte sie, es sei total schrecklich gewesen. Vor Ort seien fast ausschließlich Spinner gewesen, die sich gegenseitig in ihrer Coolness überbieten wollten. Auch das Klischee, dass Menschen mit Behinderung stinken, wurde mal wieder bedient. Als in einer Zweiergruppe am Mikroskop etwas untersucht werden sollte, habe ihre Gruppenkollegin sich hinter Marie gestellt, an ihr geschnüffelt und gemeint: „Mit der arbeite ich nicht zusammen, die stinkt nach Schweiß.“
Maries Mutter verdrehte die Augen: „Oah, wie ätzend. Du bist dir aber sicher, dass das nicht aus Versehen der Einführungskurs Biologie für die neuen Sextaner war, den du da besucht hast?“ – „Nein, bin ich mir inzwischen nicht mehr.“ – „Wie hast du reagiert?“, fragte ich Marie. Sie sagte: „Ich habe mich umgedreht und in die glotzende Runde gerufen: ‚Sie findet mein Parfüm toll!‘, und dann zu ihr: ‚Such dir ein paar anständige Freunde zum Shoppen, dann riechst du auch nicht mehr nach Tropifrutti.‘ Aber das war eher kontraproduktiv, die anderen kannten sich schon jahrelang.“ – „Und hast du wirklich nach Schweiß gerochen?“ – „Hab ich schonmal nach Schweiß gerochen?“, gab sie die Frage zurück. Ich antwortete: „Nein, aber warum sagt die Kuh das?“ – „Weil sie doof war und Aufmerksamkeit brauchte. Ich bin danach erstmal ins Bad gefahren. Erst habe ich geheult, weil ich so verletzt war, dann hab ich an mir gerochen, und dann hab ich geheult, weil ich so wütend war. Und mir nochmal extra Deo draufgetan, wohl wissend, dass heute noch mehr Leute an mir schnüffeln würden. Hat aber nichts gebracht, die anderen meinten auch alle, ich stinke nach Schweiß, Fisch, Imbiss-Bratfett, Moorleiche, was weiß ich. Das Fischige käme aber davon, dass ich wegen meiner Behinderung diese Omega-3-Fettkapseln futter. Meinten sie zumindest. Ich habe die zwar noch nie genommen, die würden ja nun bei Spina auch nichts bringen, aber egal. So helle waren sie nicht.“
„Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, wie diese Leute später ihre Patienten behandeln. Ich hoffe, sie werden noch rechtzeitig rausgesiebt“, meinte Maries Mutter. Marie ging noch duschen, ich legte mich bereits ins Bett und guckte noch einen Moment irgendeine Quizsendung. Dann kam sie endlich ins Bett, krabbelte unter meine Decke und kuschelte sich an mich heran. Ich nahm sie in den Arm. Sie sagte: „Und dann bin ich gerade total eifersüchtig auf Lisa. Ich wäre so gern dabei gewesen und musste mich stattdessen zwei Tage lang beleidigen lassen, während ihr da ohne mich gefeiert habt. Ich habe dann auch noch geträumt, ich wäre dabei gewesen und ihr beide würdet mich nach einem Klogang nicht mehr zu euch in den Bus lassen und mich mobben, ich müsste nahezu unbekleidet irgendwo im Wald stehen und frieren, am Ende bin ich aufgewacht und habe tatsächlich gefroren, weil es in diesem komischen Herbergszimmer arschkalt war.“
„Ach, Marie“, erwiderte ich. Sie sagte: „Du brauchst gar nichts zu sagen, mein Kopf weiß ja, dass du mich gerne dabei gehabt hättest und es war auch alles richtig so, wie es war. Aber meine Seele ist trotzdem verletzt. Wäre der Kurs nicht so blöd gewesen, wäre das vermutlich auch alles anders. Aber ich wäre viel lieber mit dir zusammen gewesen als mit diesen Vollpfosten.“ – „Das kann ich gut verstehen.“ – „Sag mal, können wir vielleicht ein bißchen knutschen?“ – „Knutschen?“ – „Ja, so wie neulich mal im Pool. Ich brauche nach dem Wochenende dringend ein paar Endorphine, und spritzen wollte ich sie mir nicht.“ – „Spinnst du?“ – „Ja. Völlig. Du auch?“ – Ich saß plötzlich senkrecht im Bett. „Hast du dir schon mal was gespritzt?“ – „Quatsch, bin ich bescheuert? Jule, echt mal jetzt.“ – „Ich weiß es ehrlich gesagt gerade nicht genau.“ – „Was weißt du nicht? Meinst du, ich nehme Drogen oder was?“ – „Bis eben nicht, nur was sollte diese Bemerkung?“ – „Das sollte lustig sein und über meine Unsicherheit hinweg helfen. Hat aber nicht geklappt. Sorry, wenn ich dich erschreckt haben sollte. Das war nicht meine Absicht. Und das ist auch heute nicht mein Tag. Gute Nacht.“
Sie war völlig übermüdet. Das merkte ich in diesem Moment. Mir war wichtig, nicht in dieser angespannten Stimmung einzuschlafen. Oder noch stundenlang wach zu liegen und zu grübeln. Ich sagte: „Marie, können wir
das bitte einmal klären?“ – „Aus meiner Sicht ist da nichts zu klären. Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt haben sollte. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich möchte jetzt schlafen. Mach bitte das Licht aus.“ – „Boa, Marie, ich habe mich so gefreut, dich wiederzusehen, und dann sagen wir uns noch nicht mal vernünftig gute Nacht?“ – „Ich habe dir schon eine gute Nacht gewünscht. Gerade eben.“ – „Warum bist du so angepiekst? Warum zeigst du mir die kalte Schulter?“ – „Wer zeigt hier wem die kalte Schulter? Ich dachte, wir kuscheln noch einen Moment, und dann fängst du hier mit Drogen an, obwohl du genau weißt, dass ich mir vor jeder Kopfschmerztablette drei Mal überlege, ob ich meiner Leber das zumuten möchte.“ – „Marie, du hast damit angefangen. Du hast gemeint, du würdest dir nichts spritzen wollen.“ – „Das war ein Scherz, Jule. Wie schon gesagt, meine Unsicherheit über die Frage mit dem Knutschen.“ – „Aber dann mach mir doch bitte keinen Vorwurf, wenn ich nicht damit rechne, dass du mir mit Unsicherheit begegnest und das, weil ich das nicht einordnen kann, in einen falschen Zusammenhang stecke. Und dann irritiert bin und nachfrage.“
„Habe ich dir einen Vorwurf gemacht?“ – „Ja, hast du. Eben dass ich auf deine Unsicherheit falsch reagiert habe.“ – „Okay, kann sein. Ich möchte mich entschuldigen, ich bin völlig erschöpft. Ich sehe es ein und gebe mir dafür selbst einen Backs.“ – „Und warum bist du dir nun so unsicher?“ – „Weil wir beste Freundinnen sind, weil ich dich als allerbeste Freundin behalten möchte, weil ich gerne nochmal mit dir knutschen möchte, weil mir das letztes Mal im Pool so viel Spaß gemacht hat, ohne dass ich mehr von dir will und ohne dass es sich irgendwie blöd auswirkt. Ich habe das Gefühl, ich strapaziere und missbrauche dabei unsere Freundschaft für ein körperliches Verlangen. Unsicher, ob Knutschen in die Schublade „Freundschaft“ oder in die Schublade „Sexualität“ gehört. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, dir sofort heute abend zu sagen, dass ich das Gefühl habe, noch nie in meinem Leben
so eine enge Verbundenheit mit einem Menschen gehabt zu haben, dass ich Angst habe, dich zu verlieren, dass ich das Bedürfnis habe, meine Gefühle mit dir zu teilen, und was mir noch so alles stundenlang im Kopf
herumkreist, wenn ich nachts in einem kalten Bett alleine aufwache. Stattdessen geht das nun völlig in die Hose und ich habe zudem noch die Angst, gerade etwas zu zerstören, was mir wichtiger ist als körperliche Zuneigung.“
Ich schluckte. Drückte sie noch einmal fest an mich heran. Sie sagte: „Ich bin total verliebt in dich. Nein, nicht mit Schmetterlingen im Bauch. Nicht so, wie ich mich in einen Mann verlieben würde. Völlig anders. Eher so, wie ich in meine kleine Nichte verliebt bin. Oder wie ich meine Mutter liebe. Oder meinen Vater. Oder meine Oma. Oder unseren Hund. Ich möchte dich am liebsten den ganzen Tag in meinen Armen haben und dich nicht wieder loslassen. Du bedeutest mir so viel, dass ich es nicht in Worte fassen kann. Oder nur in schwachsinnige, wie die mit den Endorphinen. Ich will keinen Sex mit dir, aber ich möchte mit dir schmusen, in den Arm genommen und gestreichelt werden, vielleicht auch knutschen, aber vor allem dich festhalten. Möglichst die ganze Nacht.“
Ich bin mir sicher, dass körperliche Zuneigung zu einer intensiven Freundschaft gehören kann. Ich bin mir auch relativ sicher, dass Rumknutschen einer intensiven Freundschaft nicht schadet. Auch dann, wenn wir nichts Sexuelles miteinander möchten. Kuscheln ist eine andere Ebene. Eben jene, auf der auch ein Hund stundenlang gekrault werden möchte. Auf der ein Hund mir am liebsten stundenlang durch mein Gesicht lecken würde. Ohne dabei eine Erektion zu bekommen. Aber selbst wenn ich mir darüber im Kopf unsicher wäre: Mein Herz irrt sich nicht. Und mein Herz sagt, alles ist gut und richtig, so wie es ist. Und ja, nach dieser Definition bin ich auch total verliebt!