Lotte

Ich kannte Lotte vom Triathlon, hatte lange keinen Kontakt mehr, umso überraschter war ich, als ich heute eine Mail von Lottes Schwester bekommen habe. Am Vortag abends von Lottes Account abgesendet. Lotte habe den Mann ihrer Träume geheiratet, lässt sie mich wissen. Ich freute mich, überlegte, ob ich gerne eingeladen worden wäre, las weiter. Sie sei schon seit Jahren mit ihm befreundet gewesen und sei nun in kleinster Runde und aus einem eher ernsten Anlass den Bund der Ehe eingegangen. Aus demselben Anlass arbeite sie auch seit einiger Zeit nicht mehr.

Sie schreibt, dass Lotte inzwischen in einer Klinik liege, sich gerne an unser Treffen erinnere, sich in meinem Blog verewigt sehe und mich gerne noch einmal sehen, sich von mir verabschieden möchte. Wegen einer Krebserkrankung werde sie künstlich ernährt und beatmet. Sie bekomme starke Schmerzmittel, die das alles erträglich machten. Der letzte Dienstag sei ein guter Tag gewesen, an dem Lotte auch eine Zeitlang ohne Beatmung ausgekommen sei und geredet habe. Dabei habe sie geäußert, Jule noch einmal sehen zu wollen. Es habe einen Moment gedauert, bis sie recherchiert habe, wer diese Jule sei.

Tränen schossen mir in die Augen. Es fühlte sich an, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Ich habe sie eigentlich nur von Wettkämpfen und Trainingslagern gekannt. Und von eben diesem einen gemeinsamen Tag. Diese wunderbare Frau.

Sie könne gut verstehen, schreibt sie weiter, wenn ich die Kraft nicht hätte, die sich Lotte von mir wünschen würde. Wenn ich Lotte in der Erinnerung behalten möchte, in der ich sie hätte. Dann solle ich bitte auch nichts neues in meinem Blog über sie schreiben. Ansonsten möge ich sie besuchen, solange das noch ginge. Und vielleicht vorher mit der Station einen Termin machen. Es dauerte fast eine Stunde, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich rief die Nummer an, die in der Mail stand, und erfuhr, dass man täglich damit rechnet, dass sie erlöst wird.

Völlig verheult und mit zitternden Händen ging ich zu Marie in die Praxis. Ihre Mutter war unterwegs bei Hausbesuchen, Marie räumte noch auf. Ich gab ihr den ausgedruckten Brief und konnte zusehen, wie Marie die Farbe aus dem Gesicht wich. „Marie, ich möchte dorthin“, sagte ich zu ihr.

„Ja. Klar. Wann? Jetzt sofort? Ich rufe Mama an und dann fahre ich dich dorthin. So fährst du jedenfalls nicht Auto.“ – „Ich habe dort eben angerufen. Morgen ist es vielleicht zu spät.“ – „Ja, dann los. Worauf warten wir? Wie lange fahren wir? Zwei Stunden? Zweieinhalb?“ – „Zweieinhalb.“

Maries Mutter sagte am Telefon, dass sie nicht möchte, dass Marie fährt. Vor allem nicht zurück. Wir sollten warten, entweder fahre sie oder Maries Papa. Sie versucht ihn zu erreichen. Am Ende fuhren wir alle vier. Maries Papa saß am Steuer, donnerte über die Autobahn ins südliche Niedersachsen, niemand sagte ein Wort.

Als wir dort ankamen, wurden wir von einer Mitarbeiterin in einen Intensivbereich geschickt. „Bitte Schutzkleidung anziehen“, stand dort auf einem Schild. Kittel, Masken, Handschuhe, Schuhüberzieher lagen dort bereit. Maries Mutter schnappte sich Handschuhe. Während ich noch überlegte, wie wir das mit den Rollstühlen machen würden, kam eine andere Mitarbeiterin durch die andere Tür der Schleuse. „Kommen Sie durch, kommen Sie durch“, sagte sie. Maries Mutter zog im Gehen ihre Schuhe aus und schoss sie in eine Ecke. „Ich bleib draußen“, sagte Maries Vater.

Wir wurden zu einem Raum gebracht, der für einen sterilen Intensivraum sehr geschmackvoll eingerichtet war. In einem Intensivbett lag Lotte. An ihrem Bett saßen mehrere Leute. Ich glaubte, die Eltern zu erkennen. Lottes Gesicht war eingefallen und aufgedunsen zugleich. Sie schlief. Die Menschen, die an ihrem Bett saßen, standen auf, nickten uns ohne ein Wort zu, gingen raus. Ich war wie gelähmt. Der Anblick machte mich fassungslos. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht laut loszuschluchzen.

Ich legte meine Hand auf ihren Arm. Der war eiskalt. Marie stand neben mir. Ich guckte Maries Mutter an. Tränen kullerten durch ihr Gesicht. Sie nickte in die Richtung eines Überwachungsmonitors. Blutdruck 60 zu 40, Puls 25. Sauerstoffsättigung (bei maschineller Beatmung) 52%. Alle Alarme aus. Ich guckte wieder in das Gesicht von Maries Mutter. Sie schüttelte den Kopf und schluckte einmal. „Wir verabschieden uns zügig von ihr und lassen die Eltern und den Ehemann wieder rein“, sagte sie.

Mehr als ein „Tschüss, machs gut, und danke, dass ich dich kennenlernen durfte“ war nicht drin. Ich rollte aus dem Zimmer. Draußen auf dem Flur wollte ich den Eltern noch was sagen, aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Der Vater streichelte mir über die Schulter und ging wieder in den Raum. Eine Mitarbeiterin hielt uns die Tür zur Schleuse auf. Maries Vater guckte mich an und sagte nur: „Oh mein Gott, so schlimm?“ – Er nahm mich in den Arm. Als die Tür hinter uns zugefallen war, sagte Maries Mutter: „Vielleicht noch eine Stunde, vielleicht auch zwei. Vermutlich aber nur noch ein paar Minuten.“

Lotte ist die zweite innerhalb eines Jahres, die aus meinem Umfeld unerwartet und in so jungen Jahren verstirbt. Und obwohl ich sie nicht näher kannte, als eben vom Sport, tut es mir wahnsinnig weh. Ich habe mich später gefragt, warum ich mir das angetan habe. Und bin froh, dass ich sofort hingefahren bin. Bis ich die Bilder verarbeitet habe, werden wohl Tage, vielleicht auch Wochen vergehen. Aber ich konnte mich von ihr
verabschieden. Und das ist mir wichtiger als alles andere.


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