Lotte und die Sexualität

Am Wochenende hatte ich Besuch von Lotte. Lotte ist Mitte 20, Rollifahrerin mit einer angeborenen Querschnittlähmung (Spina bifida), mir von gemeinsamen Trainingslagern flüchtig bekannt und kommt aus dem südlichen Niedersachsen. Sie hatte angefragt, ob es in Hamburg bei einem von uns einen Übernachtungsplatz gibt, denn sie wäre für ein berufliches Seminar in Hamburg und würde sich gerne mit uns treffen und vielleicht auch an einem Abend nochmal gemeinsam trainieren (Handbike oder Rennrolli).

Da sich eine Übernachtungsmöglichkeit in unserer WG immer findet, haben wir ihr kurzerhand gesagt, dass wir uns auf ihren Besuch freuen. Nun schnupft Cathleen immernoch vor sich hin, Simone war nicht in Hamburg und von den anderen Leuten hatte niemand Zeit, so dass ich am Freitagabend mit Lotte alleine über die Radwege der Elbdeiche gedonnert bin. Etwas kühl, reichlich dunkel, aber insgesamt sehr positiv (Sport macht glücklich!) kamen wir wieder am Parkplatz an und verluden unsere Sportgeräte ins Auto. Wir beschlossen, in einer naheliegenden Sporthalle kurz zu duschen und danach gemeinsam essen zu gehen.

Sie war sehr interessiert an mir, fragte jede Menge über mich und mein Leben mit meiner Behinderung. Irgendwann kamen meine Fragen auf ihren Beruf. „Ich habe Sozialpädagogik studiert“, meinte sie. Neugierig fragte ich weiter, ob sie einen Job habe. Sie nickte. Ich wusste zunächst nicht, warum sie so zögerlich antwortete und ich wollte auch nicht in irgendeinen Fettnapf treten. Sie sagte, sie arbeite bei einem großen, bundesweit tätigen Verein als Sexualassistentin. Mir fiel fast die Gabel aus der Hand. Ich hatte mich noch nie mit dem Thema beschäftigt und in meinem Kopf kreisten erstmal die wildesten Gedanken. Prostituierte? Schmuddelkram? Gesetzeswidrig? Ausnutzen von Menschen mit kognitiven Einschränkungen? Diese junge Frau, die bis eben noch absolut seriös und normal wirkte, soll beruflich mit Behinderten ins Bett gehen?!

Lotte ist sportlich, hat trotz ihrer angeborenen Behinderung einigermaßen übliche Körperproportionen, ist schlank, hat ein hübsches Gesicht mit einer Haut, auf die ich sofort neidisch werden könnte, dunkelbraune, schulterlange, glatte Haare, braune Augen, schöne Zähne, trotz Triathlon eher zarte Hände, eine angenehme Stimme, ein herzliches Lachen; wirkt sehr intelligent und reflektiert, humorvoll; insgesamt jemand, mit dem ich, wäre ich ein Mann, sofort ein Date verabreden würde. Zumal sie sagt, sie sei Single.

„Was macht eine Sexualassistentin?“ fragte ich.

„Das ist sehr verschieden, da es keine geregelte Ausbildung dafür gibt. Ich habe ein Jahr in der Schweiz ontop den Job gelernt. Wie immer, wenn so etwas nicht geregelt ist, gibt es Spreu und Weizen. Ich kann dir nur erzählen, wie es bei uns ist.“

Ich nickte auffordernd. Sie fuhr fort: „Mein Angebot richtet sich an diejenigen, die wegen ihrer Behinderung keinen Zugang zur eigenen Sexualität haben oder haben können. Denen helfe ich dabei, wenn sie mich
konkret damit beauftragen.“

„Gehst du mit denen ins Bett?“ fragte ich. Die Socke konnte sich darunter nur wenig vorstellen. Asche auf mein Haupt.

„Quatsch.“ erklärte sie geduldig. „Ich selbst empfange keinerlei sexuellen Reize und ich biete auch meinen Körper nicht dafür an. Ich würde niemals mit jemandem intim werden, auch Oralverkehr, Petting oder Küssen scheiden vollkommen aus. Ich ziehe mich weder aus dabei noch darf mich der- oder diejenige anfassen. Ich bin keine Prostituierte, sondern eine Sexualassistentin. Auf diese Trennung lege ich unheimlich großen Wert.“

„Wie läuft denn so etwas ab? Wie kommst du an deine Kunden oder wie kommen die Kunden an dich?“

Sie war noch geduldiger: „Also, meine Klienten wenden sich an die Organisation, an den Verein, für den ich arbeite, entweder weil sie davon erfahren und selbst recherchiert haben, oder weil sie von irgendwem, zum Beispiel vom Hausarzt, vom Psychologen, vom Gesundheitsamt oder von der Telefonseelsorge dorthin vermittelt werden. Dort spricht eine Psychologin oder ein Psychologe mit demjenigen und bietet dem Klienten Gespräche an und dann, möglicherweise, je nach Vorgeschichte und konkreten Problemen, den Kontakt zu mir an. Manchmal gibt es vorgeschaltet auch noch eine ärztliche Untersuchung, wenn sein Problem möglicherweise körperliche Ursachen hat, die er abgeklärt haben möchte.“

Ich nickte. „Und dann?“

„Dann kommt es zu einem ersten Kontakt mit mir. Dabei lege ich eine eigene Karteikarte für denjenigen an und versuche anhand eines Fragebogens zu verstehen, wo sein sexuelles Problem ist und wie man ihm beispielsweise helfen kann. Das bespreche ich dann mit ihm und versuche, eine Lösung zu finden.“

„Was für Probleme oder Lösungen gibt es denn da?“

„Oft sind es Lösungen oder Ansätze, die für Leute wie dich oder mich völlig banal erscheinen, die für den Klienten aber unheimlich viel bedeuten. Beispielsweise sind viele Menschen mit angeborener Behinderung
niemals aufgeklärt worden. Wissen nicht, wie ein Vibrator funktioniert.
Und haben auch keine Motavation, es herauszufinden. Oder Ängste. Oder keine Möglichkeiten. Haben von der erzkonservativen Mutter, die nicht wollte, dass ihr kognitiv eingeschränkter Sohn draußen am Laternenmast rammelt, immer wieder nachdrücklich erfahren, dass Masturbation verboten ist. Wenn man denen dann erzählt und mit Infobroschüren mit Bildern und einfacher Sprache erklärt, dass sie sich doch da unten anfassen dürfen und wie sie ihre Ejakulation neutralisieren können, ist für die viele schon die halbe Welt wieder in Ordnung.“

„Wahnsinn.“ staune ich.

„Es gibt auch viele körperlich eingeschränkte Menschen, die ihren defekten Körper nicht mögen und ihre sexuellen Bedürfnisse im Kopf verdrängen. Und körperlich wirklich leiden. Vor allem Frauen. Und es gibt viele Menschen, die körperlich nicht in der Lage sind zu masturbieren und auch so wenig einfallsreich sind, dass sie kein geeignetes Hilfsmittel finden. Und es gibt eben diejenigen, die es auch mit Hilfsmitteln nicht können. Körperlich nicht können. Das ist dann in der Tat diejenige Gruppe, die von mir per Hand befriedigt wird, möglicherweise auch immer wieder, über Monate und Jahre. Allen anderen helfe ich einige Male, damit sie sich am Ende selbst helfen können. Mit Gesprächen, Anleitungen, Aufklärung, Tipps und Tricks, Hilfsmitteln – es kann auch sein, dass ich Menschen, die wegen einer Krankheit oder Behinderund die Wohnung nicht verlassen können, etwas aus dem Sexshop besorge oder bestellen lasse, wenn derjenige auch keine Kreditkarte oder kein Internet hat. Wir haben einen Shop bei uns in der Nähe und da bin ich schon Stammkundin.“

„Das heißt, sexuelle Handlungen sind eher die Ausnahme?“ frage ich.

„Absolut. Die sind wirklich auf die Personen beschränkt, die dauerhaft körperlich nicht in der Lage sind, sich das selbst zu machen. Auch nicht mit Hilfsmitteln. Die auch keinen Partner und keine Partnerin
finden. Und die meistens darunter enorm leiden.“

„Bezahlen dich deine Klienten direkt?“ möchte ich wissen.

„Nein. Ich bekomme von keinem direkt Geld und ich darf auch nichts annehmen. Nicht mal ein Stück Schokolade. Derjenige zahlt an meine Organisation zwischen 7,50 € und 50 € pro Hausbesuch, je nach seinem Verdienst und seinen Möglichkeiten, und bekommt mich dafür eine Stunde lang. Allerdings werde ich niemals direkt gebucht, sondern immer über einen Psychologen oder eine Psychologin unserer Einrichtung. Direkte Buchungen sind verboten. Es darf kein Abhängigkeitsverhältnis entstehen und es muss eindeutig dokumentiert sein, was derjenige möchte, am besten in einem schriftlichen Vertrag. Das, was ich mache, bewegt sich rechtlich auf einem ganz schmalen Grat. Dadurch, dass es als Therapie von unserer Organisation übernommen wird, muss es sich klar abgrenzen von der Prostitution.“

„Therapie – das hört sich ja so an, als wäre Sexualität eine Krankheit“, zweifle ich.

„Nicht die Sexualität ist die Krankheit, sondern das Leiden unter der fehlenden Sexualität.“

„Wird das von den Krankenkassen übernommen?“ frage ich.

„Nein, wir finanzieren uns nur über private Spenden, Fördergelder, Eigenanteile und Mitgliedsbeiträge von Förderern – wobei niemand Mitglied sein darf, wenn er diese Leistungen in Anspruch nehmen will.“

„Hast du schonmal jemanden abgelehnt?“ möchte ich wissen.

„Ja, das kommt vor. Es kommt ja niemals beim ersten Treffen zu einem sexuellen Kontakt. Sondern derjenige bekommt mich vom Psychologen vermittelt und bestellt mich beim Psychologen ein zweites Mal. Wenn Aufklärung und Tipps und Tricks nicht reichen, oder die Schulung, wie man Hilfsmittel anwendet, gibt es irgendwann mal eine sinnliche Massage.
Und die Aufforderung, bei sich im Intimbereich weiter zu machen. Und wenn das dann auch nicht klappt trotz aller Motivation oder anhand der körperlichen Einschränkungen deutlich wird, dass das nix werden kann, auch nicht mit Hilfsmitteln, bestellt man mich ein drittes Mal und dann kommt es frühestens dazu, dass ich auch im Intimbereich aktiv werde bei demjenigen oder derjenigen.“

Eine ältere Frau vom Nachbartisch schaute, obwohl wir uns leise unterhielten, herüber und schüttelte den Kopf. Lotte fuhr fort: „Ablehnen muss ich regelmäßig diejenigen, die privates und geschäftliches nicht trennen. Die mich berühren wollen, die sich in mich verlieben, die mich als Prostituierte verstehen – oder die hygienische Bedenken zulassen. Weil sie sich nicht richtig waschen oder ähnliches. Die kriegen dann die Auflage, beim nächsten Mal sauber zu sein und notfalls dafür zu sorgen, dass sie jemand wäscht oder badet, und wenn das nicht fruchtet, lehne ich das ab. Es gibt hin und wieder auch Leute, die sind mir nicht geheuer, die lehne ich dann auch ab. Es kommt aber unter dem Strich nicht sehr häufig vor. Über 5%, aber weit unter 10%.“

„Ist das nicht auch gefährlich?“

Lotte schüttelte den Kopf. „Dadurch, dass die erst beim Psychologen sind, weiß man ja vorher, wie die so drauf sind. Ich habe noch nicht einen Fall gehabt, wo ich Angst hatte, in etwas reingeraten zu sein, was ich nicht mehr kontrollieren kann.“

„Und kann man das wirklich immer trennen? Also gibt es nicht auch mal Leute dazwischen, wo du dir mehr vorstellen könntest?“

„Nein“, kam als prompte Antwort, „definitiv nicht. Ich gehe nicht mit diesem Gedanken daran. Es gibt in der Tat Menschen, bei denen fällt es mir leichter als bei anderen. Aber ich selbst empfinde dabei nichts. Es hat auch, anders als ich anfangs vermutet hatte, keine Auswirkungen auf meine eigene Sexualität. Ich kann das wirklich sehr sauber trennen und muss (und will) auch nicht an irgendwelche Klienten denken, wenn ich selbst im Bett liege und mich befriedige.“

„Wie bist du zu diesem Job gekommen und was verdient man dabei?“

„Ich habe in meinem Studium die Möglichkeit gehabt, in ein solches Projekt reinzuschauen. Nahezu unfreiwillig. Das war halt ausgeschrieben und eins von den wenigen, die noch übrig waren. Ich hatte erst total eklige und befremdliche Vorstellungen davon, aber dann habe ich mir überlegt: Wir haben in Deutschland inzwischen so klare Gesetze zum Schutz von Menschen mit Behinderung vor sexuellen Übergriffen, da wird niemand gewerbsmäßig irgendwas veranstalten, was nicht vertretbar ist. Also überwindest du jetzt mal deine Vorurteile und schaust dir das an. Und dann habe ich das getan und es hat Klick gemacht. Später, als ich meinen Abschluss hatte, bin ich an meinen heutigen Arbeitgeber rangetreten und habe mich mit diesem Projekt beworben – und damit quasi dort meine eigene Stelle geschaffen. Ich bekomme etwas über 3.100 € brutto im Monat plus meine Fahrtkosten zu den Klienten.“

„Das ist doch recht ordentlich, wie ich finde. Kommst du denn da überhaupt überall rein?“ frage ich.

„Die meisten Leute haben ja selbst eine Behinderung und wohnen in einem barrierefreien Haus oder einer Einrichtung. Manche kommen auch zu uns in die Therapieeinrichtung, dort gibt es einen Raum mit einer Liege wie bei der Krankengymnastik, nicht der Burner, aber inzwischen recht wohnlich gestaltet, das klappt schon alles.“

„Gibt es etwas, wofür oder wogegen du kämpfst?“

„Es gibt Menschen mit kognitiven Einschränkungen, deren Sexualtrieb immernoch mit Medikamenten unterdrückt wird, weil die erzkonservative Familie glaubt, damit allen Problemen bequem aus dem Weg gehen zu können. Dabei ist das seit den 1980er-Jahren verboten. Aber es finden sich immernoch Ärzte, die Mittel wie Androcur für Menschen mit kognitiven Einschränkungen zur Unterdrückung des Sexualtriebs verordnen.
Offiziell gibt es dann andere Gründe dafür oder es wird offiziell jemand anderem verordnet und mein Klient bekommt es dann ins Essen gemischt und alle wundern sich, warum ihm Titten wachsen.“

„Das gibt es doch nicht. Was macht man dagegen?“

„Offiziell melden und hoffen, dass es aufhört.“

Überwältigt von diesen vielen für mich völlig neuen Informationen und Eindrücken stellte ich meine letzte Frage: „An welchen Psychologen muss ich mich wenden, wenn ich von dir einen Hausbesuch haben möchte?“ – Lotte schaute mich mit großen Augen an. Dann fügte ich hinzu: „War nur ein unprofessioneller Scherz. Ich finde das unheimlich spannend. Ich glaube nicht, dass so ein Job was für mich wäre, zumal ich mit meiner eigenen Sexualität noch genug eigene Probleme habe. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das etwas gutes und sinnvolles ist. Nachdem ich im ersten Moment doch etwas skeptisch war.“


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