Ich muss Erfahrungen sammeln. So lautet meine Erkenntnis aus meiner letzten Mikro-Beziehung.
Erfahrung sei nach einem berühmten chinesichen Philosophen, der gestern
bereits rund 2.500 Jahre tot war, zwar ein bitterer Weg, aber er sei geeignet, um klug zu handeln. Ich will klug sein und lasse mich auf ein neues Abenteuer ein, bei dem es mit Sicherheit nicht als allererstes um die Frage der Liebe zu einem Traumprinzen geht. Spätestens nachdem in den Kommentaren meines Blogs auch noch behauptet wurde, ich würde mich allenfalls mit Traumprinzen einlassen, erkläre ich offiziell: Für einen Traumprinzen isser mir dann doch n büschen to bang.
Ja, ich versuche, Jörn mal auf Deutsch zu erklären: Etwas verschüchtert, verschämt, verängstigt, vielleicht auch befangen und unsicher, möglicherweise sogar verkrampft. Vielleicht sogar verklemmt. Nicht unbedingt feige oder memmemhaft – so dachte ich vor unserem ersten engeren Treffen. Aber Abenteuer müssen ja nicht immer auf der philosophischen Ebene stattfinden. Oder in festen Beziehungen.
Ich plaudere mal nicht zu viel aus dem Nähkästchen. Nur soviel: Marie und ich kennen ihn aus der Schwimmhalle. Er ist 20 Jahre alt, probiert gerade das Abitur, jobbt ein wenig nebenbei und wohnt noch bei Muddi. Sieht nicht schlecht aus, hat eine gute Figur. Hat ein herzliches Lachen und schöne Hände. Und schöne Augen. Könnte ein wenig mehr aus sich machen. Und damit meine ich kein Fitness-Studio, sondern die Frisur und die verwaschenen und zu kleinen Klamotten von C&A. Und ein wenig mehr Selbständigkeit wäre toll. Fände ich. Mag aber auch sein, dass ich mich täusche.
Jedenfalls waren Marie und ich endlich mal wieder im Wasser zum Trainieren. Nach drei Stunden hatten wir gerade noch genug Kraft, um selbständig aus dem Becken in den Rollstuhl zu kommen. Jörn fragte mich,
ob er meinen Rollstuhl festhalten sollte, während ich mich vom Boden hinein setze. Und anschließend, wieviele Meter ich geschwommen sei. Er befand, dass das der pure Wahnsinn sei und ließ uns wissen, dass er sich
jetzt gleich auf den Weg nach Hause machen würde, unterwegs sich noch ein Schnitzel an der Imbissbude kaufen würde. Er habe seit heute morgen nichts mehr gegessen und sein Magen hinge in der Kniekehle.
Ich guckte Marie an, sie dachte dasselbe und nickte. Ich fragte Jörn: „Du, sag mal, kannst du eigentlich Schränke zusammenbauen? Also ich meine solche Teile von Ikea, die ja immer so schön platzsparend zerlegt und verpackt sind, wenn sie verkauft werden.“ – „Ich denke schon, wir haben zwar zu Hause nichts von Ikea, aber bei meinem Opa habe ich schon öfter mal Kommoden, Schränke und Tische zusammengebaut. Wieso?“ – „Also. Marie studiert ja ab nächster Woche hier an der Uni und sie hat sich heute zwei kleine Schränke gekauft für ihre Sachen. Die kriegen wir aber nicht zusammengebaut, weil wir nicht stehen können und die Kraft nicht haben, sowas aufzurichten und so weiter. Ich schlage dir folgenden Deal vor: Du baust die beiden Schränke zusammen und wir braten dir in der Zwischenzeit ein megagroßes und total leckeres Schnitzel. Was hältst du davon?“
„Hm. Ja. Also soll ich zu euch nach Hause kommen?“ – „Genau, die Kartons sind schon in der Wohnung, die hat ein Nachbar für uns hochgetragen.“ – „Und das dauert wie lange?“ – „Naja, vielleicht eine Stunde? Kommt drauf an, wie schnell du bist. Du schraubst und wir bereiten das Essen zu. Kannst dir sogar noch einen Nachtisch und die Beilage wünschen. Fleisch haben wir eingefroren und der eine Supermarkt hat noch geöffnet.“ – „Ist das irgendein Trick?“ – „Wie meinst du?“ – „Nur so, warum ladet ihr mich zu euch nach Hause ein?“ – „Weil wir anders den Schrank nicht zusammen bauen können. Und dachten, du würdest uns vielleicht helfen.“ – „Also wollt ihr mich jetzt nicht verarschen, richtig?“ – „Nein, warum denkst du das? Ist das so ungewöhnlich? Oder hast du Angst vor uns?“ – „Nein, Angst nicht, aber ungewöhnlich schon. Die letzten Leute, die mich gefragt haben, ob ich helfen könnte, wollten mich nur verarschen.“ – „Ach Jörn, die Haltung finde ich nicht gut. Ich habe das wirklich ernst gemeint mit dem Schnitzel. Marie und ich würden dir eins braten quasi als Arbeitslohn. Und selbst auch was essen.“ – „Okay, dann müsst ihr mir nur die Adresse geben und dann mache ich das. Ich kann auch selbst schnell durch den Supermarkt flitzen.“ – „Nee, das machen wir schon.“
Als wir zu Hause ankamen, stand Jörn bereits vor der Tür. „Geile Bude“, fand er, nachdem er seine Schuhe vor der Tür ausgezogen hatte. Er ging zielstrebig auf die drei Kartons der beiden Schränke zu und meinte: „Ah, das sind die Sachen, die ich zusammenbauen soll? Das krieg ich hin. Habt ihr vielleicht eine Wolldecke oder sowas, damit die Sachen nicht zerkratzen? Die muss man mit der Front nach unten auf den Boden legen und da wäre es gut, wenn da was drunter liegt. Ich wasch mir vorher nochmal kurz die Hände.“ – Gefällt mir. Bevor es losging, fragte ich ihn noch, was er zum Schnitzel dazu haben möchte. Bratkartoffeln? Gemüse? Irgendeinen Nachtisch? Nein, Pommes, Cola und wenn er sich aussuchen dürfte, möge er als Nachtisch am liebsten grünen Wackelpudding, meinte er. Ich musterte vorsichtig seinen Bauch. Nein, häufig scheint er das nicht zu essen. Oder er verstoffwechselt das gut. Egal.
Ich flitzte zum Supermarkt und kaufte Dinge, die ich normalerweise nie kaufen würde. Als ich wieder zurück war, hatte Marie bereits angefangen, die drei Schnitzel zu panieren. Zwei kleine und ein mega-großes. Reicht eine Tüte Backofenpommes? Und den Wackelpudding kriegen wir so schnell natürlich nicht mehr frisch zubereitet… Aber es gibt ihn ja auch fertig zu kaufen. Tiefgekühlte Möhren und Broccoli mit Sahnesoße, dazu noch zwei Zitronen geachtelt für das Schnitzel und dazu die zuckersüße gekühlte Cola und eine Flasche Ketchup – dann konnte der Spaß ja beginnen. Zum Glück hatten wir zwei Pfannen. Und eine Dunstabzugshaube.
Wir ließen ihn in Ruhe bauen. Zehn Minuten, bevor das Essen fertig war, klopfte er vorsichtig an die Küchentür. „Will mal jemand gucken?“, fragte er. Ich blieb am Herd, Marie guckte, kam wieder: „Perfekt.“ – Ich rollte auch noch einmal hinter ihm her. „Klasse, hast du wirklich gut gemacht. Und dir ein großes Schnitzel verdient.“ – Er strahlte wie ein kleines Kind. Und erklärte: „Die Türen und Schubladen sind auch alle richtig eingestellt, allerdings soll man das noch an der Wand befestigen. Das habe ich schon zu Marie gesagt, das könnte ich auch tun, aber dafür komme ich lieber nochmal vorbei. Zum Bohren ist es jetzt zu spät, das macht zu viel Krach. Solange dürft ihr euch halt nicht dran festhalten, das könnte sonst umkippen. Ich könnte, wenn es eilig ist, morgen einmal kurz vor der Schule kommen. Ich muss morgen erst um halb zwölf hin, weil die dritte und vierte Stunde ausfällt. Und die erste und zweite habe ich donnerstags sowieso frei.“
Erstmal essen. Jörn verputzte tatsächlich einen megamäßig gefüllten Teller. Ich würde mal sagen: Marie und ich haben zusammen höchtens ein Drittel davon gegessen. Wir unterhielten uns ein wenig, eher smalltalkmäßig. Anschließend, als alle satt waren, sagte Marie: „Guck mal auf die Uhr. Es ist gleich halb 12. Was hältst du davon, wenn du hier bei uns schläfst, morgen früh das Loch bohrst und dann von hier zur Schule fährst?“ – „Hab meine Schulsachen zu Hause.“ – „Oder nach dem Bohren noch kurz zu Hause vorbei fährst und die Schulsachen holst?“ – „Hab keine Schlafsachen dabei.“ – „Kriegst von mir ein T-Shirt, ich habe bestimmt eins, was groß genug ist.“ – „Und wo soll ich schlafen?“ – „Mein Bett ist frisch bezogen und ich schlafe bei Jule im Bett. Vorher gucken wir alle zusammen noch einen Film oder so, morgen früh frühstücken wir zusammen, du bohrst das Loch – wäre doch prima. Zumindest kann ich so schnell nicht gleich schlafen nach der Hauptmahlzeit hier“, sagte Marie.
„Dann muss ich aber einmal zu Hause anrufen und das mit meinen Eltern
besprechen. Die machen sich sonst Sorgen, wenn ich nicht komme.“ – Er holte sein Handy raus und ging nach nebenan. „Nein, das sind zwei Frauen
im Rollstuhl, die an der Uni studieren. Die haben mich gefragt, ob ich einen Schrank aufbauen kann und das ist noch nicht ganz fertig geworden und nun war die Überlegung, ob ich morgen früh vor der Schule kurz weitermache und dann eben meine Schulsachen bei euch raushole. Was? Das ist doch jetzt egal. Nein. Jule und Marie heißen sie. Doch, das stimmt. Nein, sie sitzen neben mir.“ – Was war da denn los.
Einige Sekunden später kam er wieder und hielt mir das Handy hin. „Meine Mutter möchte mit dir sprechen.“ – Ich war so überrumpelt, dass ich ihm das Telefon abnahm. Was sie wohl von mir wollte? Ich meldete mich: „Ja? Guten Abend.“ – „Oh, ja, hallo, ich bin die Mutter von Jörn, und ich wollte nur wissen, ob das stimmt, was er da jetzt erzählt hat. Sie müssen wissen, er flunkert ganz gerne mal, und da er noch nie so spontan von zu Hause weggeblieben ist, kam mir das komisch vor und ich habe mir Sorgen gemacht. Aber er hat jetzt keinen Pyjama dabei, oder?“ – „Da finden wir schon eine Lösung.“ – „Und Sie sind im Rollstuhl, ja?“ – „Ja, genau. Jörn war sehr hilfsbereit und hat für mich und meine Freundin einen Schrank aufgebaut. Leider sind wir nicht ganz fertig geworden und es muss auch noch gebohrt werden. Deshalb hatten wir überlegt, ob wir ihm ein Gästebett anbieten und er das morgen noch schnell beendet.“ – „Ja, sowas kann er. Schränke aufbauen und so. Naja, Sie müssen das wissen, ob Sie ihn eine Nacht bei sich schlafen lassen wollen.“ – „Wie meinen Sie das? Haben Sie Bedenken, dass er mit zwei Rollstuhlfahrerinnen alleine in einer Wohnung ist?“ – „Nein, so jetzt nicht. Aber er ist halt völlig unerfahren. Mit Frauen und mit Behinderten sowieso.“
Jörn nahm mir das Handy aus der Hand: „Es reicht jetzt, Mama. Was sollen die beiden von mir denken?“ – „Mach da keinen Blödsinn, hörst du?“, konnte ich mithören. – „Mama!“ – „Jaja, ich kenne dich, mein Sohn. Schlaf gut und stell dir einen Wecker. Ich will nicht, dass du die Schule schwänzt, haben wir uns verstanden?“ – „Ja, gute Nacht jetzt!“
Das war also Muddi. Live und in Farbe. Und es erklärte vieles. Jörn schien das nicht zu stören. „Ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt alle noch kurz duschen und dann uns schonmal bettfertig machen, uns zu dritt
bei mir ins Bett legen und von dort noch eine DVD gucken“, sagte ich. Jörn guckte mich an: „Zu dritt?“ – „Ja klar, du legst dich zwischen uns und dann gucken wir zu dritt eine DVD. Oder irgendwas aus dem Internet. Hast du irgendeinen Vorschlag?“
Während Jörn duschen ging, sagte ich zu Marie: „Er ist völlig unerfahren, sagt die Mutter. Und er flunkert gerne mal.“ – „Flunkern? Bei der Mutter würde ich mir auch überlegen, was ich da erzähle“, antwortete Marie. Ich sagte: „Wie er sich über das Schnitzel gefreut hat. Und über das Lob für die zusammengebauten Schränke! Irgendwie ist er süß.“ – „Isser auch. Was meinst du, ob er irgendwann drauf besteht, in sein eigenes Bettchen abzuhauen?“ – „Kommt drauf an, was du mit ihm vorhast. Ich glaub, ich kraul ihm mal den Bauch. Nach dem großen Schnitzel spannt das Ränzle bestimmt“, überlegte ich.
„Hoffentlich pisst du uns nicht alle voll“, äußerte Marie ihre Bedenken. Ich erwiderte: „Jetzt hör doch mal auf damit. Das muss ja nicht gleich sein.“ – Marie streckte mir die Zunge raus. „Lass uns schonmal ins Bett, dann braucht er sich nur noch dazu legen“, fuhr sie fort. Als er wieder aus dem Bad kam, passte Maries T-Shirt weder zur schwarzen C&A-Baumwoll-Unterhose noch zu seiner Größe. Aber es war irgendwie okay. Er fragte: „Zu dritt im Pflegebett?“ – „Wieso? Hat Überbreite und ist elektrisch verstellbar. Wo ist das Problem?“ – „Naja, ich weiß nicht.“ – „Komm rein hier, leg dich hin, Film gucken. Wir beißen nicht, wir haben gerade gegessen.“
Wir kuschelten uns links und rechts an ihn ran, er nahm uns vorsichtig in seine Arme. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen, wie es ihm damit ging. Aber ich vermutete, es ging ihm gut, denn während er in den ersten paar Minuten des Films noch völlig verkrampft zwischen uns lag, wurde er mit der Zeit immer entspannter. Ich drehte mich ein wenig zu ihm und fing an, mit meiner rechten Hand seinen Bauch zu streicheln. „Sag mal, so ein großes Schnitzel ist eine ganz schön große Herausforderung für deinen Bauch, oder? Soll ich mal ein wenig massieren? Ganz vorsichtig?“ – Er genoss es offensichtlich. Nach einiger Zeit wurden meine Kreise unter der Bettdecke etwas größer. Ich guckte in sein Gesicht, er guckte aus dem Augenwinkel zurück und grinste. Auch das schien ihm sehr zu gefallen, was ich nicht nur an seinem Grinsen festmachte.
Irgendwann räusperte ich mich und zog meine Hand zurück. Er sagte: „Bitte weitermachen, das Schnitzel war doch sehr groß.“ – „Krault Jule dir den Bauch oder was?“, fragte Marie einen Moment später und guckte blitzschnell unter die Bettdecke. Und fügte hinzu: „Oh. Jule. Benimm dich mal. Was soll Jörn von uns denken?“ – „Ist mir egal, Hauptsache, er fühlt sich gut.“ – „Tut er das?“, fragte Marie und guckte ihn an. Er nickte ohne eine Wort und grinste. Ich musste kiechern. Ein wenig pubertär das alles. Aber egal, wir hatten unseren Spaß. Noch ungefähr fünf Minuten, dann sprang Jörn auf und verschwand ins Bad. Er müsse auf Klo, meinte er. Als er nach zehn Minuten wiederkam, sagte er, er sei nach dem langen Tag sehr müde und würde jetzt schlafen wollen. Wir sollten nicht böse sein, der Abend sei echt toll gewesen!
Wir wünschten ihm beide eine gute Nacht. „Wenn du einen Gute-Nacht-Küsschen willst, musst du nochmal herkommen“, sagte ich. Nee, heute lieber nicht, meinte er und verschwand. Aber er war happy. Marie guckte mich an, schüttelte den Kopf und sagte: „Was für ein schräger Vogel. Dreimal darfst du raten, was er auf dem Klo gemacht hat.“ – „Egal. Er ist halt unerfahren. Und ’schräger Vogel‘ kannst du laut sagen.“
Immerhin war er am nächsten Morgen noch da und bohrte uns zwei Löcher, damit der Schrank fest an der Wand steht. Das klappte auf Anhieb. Zum Frühstück mag er am liebsten Nutella. Und Kakao. Ob wir so einen Videoabend nochmal wiederholen wollten, vielleicht am Wochenende, wenn er mehr Zeit hat, wollte Marie wissen. Seine Antwort: „Gerne.“ – Na dann: Schaun wir mal.