Es gibt so Vorlesungen, die gibt es gar nicht. Möchte man denken. Während da vorne jemand über die Entzündung des Wurmfortsatzes, im Volksmund auch „Blinddarmentzündung“ genannt, obwohl sich eigentlich nicht der komplette Blinddarm, sondern nur der Wurmfortsatz entzündet, …
also während da vorne jemand referiert, bin ich kurz vor dem Einschlafen. Ich muss mich enorm zusammenreißen, damit meine Augen nicht
zufallen. Und während ich so dem monotonen Dialog zuhöre, sagt der Dozent: „Manche Behinderte erfühlen die Diskriminierung mit ihrem Wurmfortsatz. Und nun lass den sich mal entzünden.“
Wat is los?!?
Ich war plötzlich wieder hellwach. Hatte er mich einschlafen sehen und deshalb einen Spruch gemacht? Wollte er mich ärgern? Obwohl … warum sollte er das tun wollen? Ich überlegte hin und her, was er mit diesem Unsinn gemeint haben könnte. Und kam zu keiner Lösung. Es fragte auch niemand nach. Ich auch nicht. Albern. Es kamen noch mehr Sprüche, zum Beispiel, dass die Entzündung häufiger mal durch ein Hamsterhaar verursacht wird, auch wenn in der Familie des Patienten weder Hamster gehalten noch gegessen werden. Und wenn, dann nur ohne Fell. Gegessen. Gehalten mit Fell. Oder dass es Menschen gibt, die zwei Mal im Leben eine Blinddarmentzündung bekommen. Manche auch drei Mal. Der Wurmfortsatz entzünde sich in der Regel aber nur einmal, werde dann entweder vor Durchbruch und Sepsis operativ entfernt oder danach. Anstrengend.
Richtig lustig wurde es dann aber zwei Stunden später. Ich sollte zusammen mit zwei Kommilitonen und dem Chefarzt zu einem Patienten auf der Chirurgie, der am Nachmittag operiert werden sollte. Hin und wieder gibt es mal entweder seltene oder lehrbuchhafte Erkrankungen oder Verletzungen. Die Patienten werden dann gefragt, ob der Arzt mit zwei oder drei Studenten noch einmal wiederkommen dürfe, bevor es in den OP gehe und fast alle Patienten sind damit einverstanden. Dieser Patient, rund 70 Jahre alt, war auch damit einverstanden. Als ich durch die Tür rollte, flippte er allerdings völlig aus: „Nein, also, nein, nein, wirklich nicht. Bist du Studentin oder Patientin?“, fragte er mich. Ich antwortete: „Meinen Sie mich?“ – „Ja wen denn sonst!“
Und zum Chefarzt meinte er: „Finden Sie das vertrauenserweckend, mir vor einer Operation schon mal den Kontakt zu Behinderten zu verschaffen?“ – Der Chefarzt fragte: „Wie meinen Sie das? Das verstehe ich nicht.“ – „Nomen est omen, schonmal was davon gehört? Es mag ja sein, dass sie Studentin ist, aber sehen will ich solche Kreatur direkt vor der Operation nun nicht noch aus der Nähe! Am Ende träume ich während des Eingriffs noch davon.“ – „Solche Kreatur?“, fragte ich mit ungläubigem Blick. Er antwortete: „Nimm es mir nicht übel, aber das ist mir nicht recht. Als ich jung war, hat man Leute wie dich noch zu Seife verarbeitet. Das mag heute anders sein, aber allzu intensiven Kontakt möchte ich trotzdem nicht zu Menschen wie dir.“
Ich rollte nach draußen auf den Flur. Die beiden Kommilitonen kamen direkt mit. Der Chefarzt blieb kurz im Zimmer, kam nach einer halben Minute hinterher. Als die Tür hinter ihm geschlossen war, fragte ich halbwegs irritiert: „Muss ich mir das gefallen lassen?“ – „Sie müssen nicht. Wenn Sie gegen den Mann vorgehen wollen, haben Sie drei Zeugen. Allerdings befürchte ich, dass dabei nichts rauskommt. Der Mann hat bereits seine Prämedikation bekommen und ein halbwegs cleverer Anwalt wird sich auf die Nebenwirkungen von Midazolam berufen. Mit anderen Worten: Der steht unter Drogen und ist mindestens vermindert schuldfähig, wenn nicht sogar schuldunfähig. Haken Sie es ab, lächeln Sie einmal müde, zeigen Sie ihm meinetwegen auch den inneren Stinkefinger – und dann ist gut.“
Krass. Bisher waren meine Erfahrungen mit der berühmten Scheiß-Egal-Tablette eigentlich nur, dass die Patienten benommen und kuschelig waren. Dass es auch anders geht, war mir bekannt, aber dass das so deutlich und zielgerichtet auftreten kann, war mir neu. Aber das ist ja das Spannende an so einem Studium. Man lernt täglich was Neues dazu.