Kein Schrank und zwei Löwen

„Meinst du, wir sollten für heute Abend vielleicht noch ein Regal kaufen?“, fragte mich Marie und spielte dabei eindeutig auf Jörn an. Ich antwortete mit einer Gegenfrage: „Meinst du, er kommt heute nochmal?“ – „Könnte sein. Vermutlich wieder in unserem Badezimmer, wie letzte und vorletzte Woche. Und dann geht er schlafen.“ – Ich grinste und sagte: „Ich finde, wir sollten ihn mal drauf ansprechen.“ – „Beide?“ fragte Marie. „Immerhin hat er letzte Woche eine Hand auf meine Hüfte gelegt.“ – „Echt?! Krass!“ – „Auf deine bestimmt auch, nur du merkst das ja nicht.“ – „Oarrr Marie, du bist so fies! Willst du was von ihm?“ – „Eine Partnerschaft auf jeden Fall nicht. Dafür ist er mir auf die Dauer zu anstrengend. Glaube ich.“ – „Nee, eine Partnerschaft kann ich mir irgendwie auch nicht so richtig vorstellen. Aber ich glaube, das weiß er auch. Also Spaß? Nichts Ernstes, so wie ich es zuletzt eigentlich wollte?“ – Marie sagte: „Ich glaube, er genießt es einfach, Hahn im Korb zu sein und seine vermutlich allerersten Erfahrungen zu machen. Mit 20 kann man sich auch schonmal dranwagen. Und ich glaube, er wird heute wieder an der Tür bimmeln und seiner Mutter was vom Schränke aufbauen erzählen.“

Seine Sache. Es kam wie vorhergesagt. Es klingelte an der Tür, ich ließ ihn rein. Wir hatten eine selbst belegte Pizza im Ofen und während wir mampften und small talkten, nutzte ich den Überraschungsmoment aus, um von meiner eigenen Unsicherheit abzulenken und fragte ihn direkt: „Sag mal, findest du das eigentlich ideal, wenn du uns jetzt jedes Mal über eine Stunde heiß machst und dann plötzlich abhaust und schlafen gehst? Beziehungsweise dich vorher nochmal zehn Minuten heimlich im Bad einschließt?“ – Er verschluckte sich fast. Und wurde dunkelrot. Marie setzte noch einen drauf, grinste in sich hinein und murmelte leise: „Erwischt!“

Er war total verunsichert, wusste nicht, was er sagen sollte. Irgendwie süß. Er sollte sich aber nicht unwohl fühlen, darum löste ich die Situation schnellstmöglich wieder auf: „Bleib doch bei uns. Nächstes Mal.“ – Jörn war allerdings völlig aus der Fassung gefallen. Er sagte nichts mehr, aß nichts mehr und guckte mit leerem Blick in die Gegend. Oh nein, was hatte ich da angestellt? Konnte ich ahnen, dass das jetzt für ihn so eine große Sache war? Ich fragte ihn: „Ist dir das jetzt peinlich oder was? Habe ich dich verletzt?“ – Er guckte mich an und kämpfte offensichtlich mit den Tränen. Er sagte: „Nein, nein, alles gut. Ich wusste nur nicht… ich hatte gedacht…“

Marie sagte: „Es merkt niemand? Na komm, für wie naiv hältst du uns? Sowas rieche ich doch zehn Meter gegen den Wind!“ – Ich verkniff mir ein Lachen über die gewollt oder ungewollt plastische Darstellung, denn ich wollte Jörn nicht noch weiter verunsichern. Ich sagte: „Du musst dich wohlfühlen. Hier soll nichts passieren, was du nicht möchtest. Aber ich würde mir wünschen, dass du ein wenig mehr zu dir selbst stehst.“

Jörn sagte: „Ich bin gerade so verunsichert. Ihr seid beide irgendwie so völlig anders. So unkompliziert. So lieb. So stark. So toll. So brav, aber gleichzeitig eben auch ein wenig ungezogen.“ – Ich runzelte meine Stirn. Er redete einfach weiter. „So verständnisvoll. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, ich bin so glücklich bei euch. Obwohl wir uns kaum kennen und auch ohne dass wir viel miteinander reden. Als Jule mir den Bauch gestreichelt hat, war ich wie elektrisiert. Anschließend habe ich mir gewünscht, sie würde … da unten.“ – Er flüsterte fast. „Und dann hat sie es einfach so getan, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Das war so schön. Ihr seid so lieb zu mir.“

Ich hielt es für fair, ihm zu sagen: „Ich will ganz ehrlich sein, Jörn. Ich glaube nicht, dass aus uns eine partnerschaftliche Beziehung werden kann. Ich glaube, dass wir ein bißchen Spaß haben können. Schränke aufbauen, vielleicht mal Fahrrad und Handbike fahren, zusammen was kochen, wir könnten vielleicht auch mal gemeinsam in die Therme oder so – und ansonsten halt mal den einen oder anderen Videoabend. Mit Massage oder ohne, am Bauch, am Rücken oder bei Lust und Bedarf auch ein büschen dazwüschen. Aber viel mehr wird nicht daraus werden, das glaube ich nicht.“

Er stützte sein Kinn auf seine Hand, überlegte einen Moment und antwortete dann: „Vielleicht ist das so auch am besten. Wir kennen uns, wie gesagt, kaum. Für eine Partnerschaft müsste man sich ja erstmal richtig gut kennen. Spaß finde ich gut. Als Mann sowieso. Und sollte sich aus dem Spaß doch noch mehr ergeben, können wir ja nochmal neu darüber nachdenken. Zumindest müssen wir uns dann nichts vormachen, wenn sich der Eindruck verfestigt, dass wir partnerschaftlich nicht zusammenpassen.“ – „Das würde ich auch nicht tun“, erwiderte ich. Jörn fragte: „Sag mal, Jule, hast du eigentlich einen Freund?“ – Ich musste innerlich grinsen und schüttelte den Kopf. Er guckte Marie an: „Du?“ – Marie grinste und schüttelte ebenfalls den Kopf. Jörn sagte: „Ich auch nicht.“

Ach. Er hatte sich wieder gefangen. Inzwischen saß ihm der Schalk im Nacken. Er grinste und fragte mich: „Und wohin soll ich nun deiner Meinung nach nun beim nächsten Mal kommen?“ – Ich überlegte einen Moment, wie ernst das gemeint sein könnte und erwiderte dann: „Keine Ahnung, von mir aus in die Bettdecke. Ist Maries.“ – Marie: „Hallo?! Benehmt euch mal, ja? Ich will erstmal einen Aids-Test sehen, bevor hier irgendjemand mein Bett besudelt.“ – Jörn fragte: „Führungszeugnis auch?“ – „Ja. Und das Bonusheft vom Zahnarzt. Aber mal im Ernst: Aidstest fände ich nicht so verkehrt.“

Ich auch nicht. Was mich ein wenig nachdenklich macht: Vor Jahren bin ich gefragt worden, ob ich mir einen Dreier vorstellen könnte. Damals habe ich kategorisch „Nein“ gesagt. Inzwischen würde ich nicht kategorisch „Ja“ sagen, ich will nichts von Marie. Ich weiß auch nicht, ob es mit Jörn jemals zu mehr kommen wird als ein bißchen rumfummeln unter der Bettdecke. Aber irgendwie möchte ich dennoch gerade nicht ausschließen, dass Marie und ich zu zweit auch dann ein gutes Team sein könnten, wenn es darum geht, jemanden ein wenig zu verwöhnen. Wie gesagt, ohne dabei was von Marie zu wollen. Vielleicht nimmt mir das auch im Moment nur meine Angst, wegen meiner Behinderung nicht attraktiv oder nicht leistungsfähig genug zu sein, ich weiß es nicht. Und ich möchte auch gar nicht so intensiv darüber nachdenken. Sondern lieber spielerisch die Welt entdecken…

Es gibt den erheblich überwiegenden Teil der Menschheit, bei dem möchte ich nicht in der Nähe sein, wenn mehr läuft als Händchen halten und knutschen. Weder mit mir in der Zeugenrolle noch umgekehrt. Bei ganz wenigen Leuten wäre es mir egal, wenn sie es mitbekommen würden oder wenn ich es mitbekommen würde. Marie wäre eine von diesen wenigen Leuten. Ich glaube allerdings, dass funktioniert nur, wenn man sich nicht in Konkurrenz sieht. Wie, wenn zwei Löwinnen von einem Stück Fleisch essen und beide sich von vornherein einig sind, dass niemand dem anderen etwas wegfuttert.

Wir haben uns heute abend nach dem Essen wieder voneinander verabschiedet. Es hat sich einfach so ergeben. Ohne Schrank, ohne Video.
Alle waren glücklich. Zum Abschied hat er uns beiden einen Kuss auf die Wange gegeben. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht.


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