Unbequeme Freunde

Ich hatte gestern erneut Kontakt mit Gerd.
Jenem 51 Jahre alten Patienten, der vor einigen Wochen einen schweren Verkehrsunfall hatte, und der letzte Woche völlig desorientiert war. Ich
bin im Rahmen einer schriftlichen Hausarbeit von meinem Professor darauf hingewiesen worden, dass zwingend auch einige allgemeine Befunde mit erhoben und aufgeschrieben werden müssen. Er wurde beinahe etwas böse: „Das haben Sie ja nun schon etliche Male gemacht und wissen es daher. Warum werden Sie da jetzt nachlässig?“

„Ich bin da keineswegs nachlässig“, widersprach ich und sagte, dass ich jüngst in meinem Praktikum gelernt hätte, dass jene Beobachtungen, die ich keiner chirurgischen Diagnose zuordnen konnte, nichts in der Chirurgie zu suchen hätten. Da hatte ich ja was gesagt. Ich beschrieb die Verwirrtheit des Patienten, sagte, dass ich es für ein Delir (Durchgangssyndrom) halten würde, mir aber gesagt wurde, dass mich das nicht zu interessieren hätte. Das sei Aufgabe des Psychiaters, nicht des
Chirurgen. Ich wusste, dass ich damit provoziere. Ich wusste aber auch,
dass ich es nicht hinnehmen werde, dass mich ein anleitender Arzt erst fünf Minuten mit einem desorientierten Patienten rumlabern und dann dumm
stehen lässt.

Ich bekomme meine Informationen, wenn ich sie denn für das Studium brauche, im Zweifel auch anderswo. Aber kann ich mir denn sicher sein, dass der Patient die Behandlung bekommt, die er braucht? Ein Delir, das zwei Wochen nach dem Koma noch besteht, bedarf einer Behandlung, so habe
ich es gelernt. Wenn das inzwischen überholt ist oder es Ausnahmen gibt, dann möchte ich das auch lernen! Ansonsten interessiert mich wenigstens, ob er behandelt wird.

Ich bin seit heute auf einer anderen chirurgischen Station. In einem anderen Krankenhaus. Offiziell, weil es Probleme wegen des Rollstuhls im
OP gibt. Kapazitätsprobleme. Man bedauert das. Die Patientenakte von Gerd durfte ich nicht noch einmal einsehen. Aber verabschiedet habe ich mich von ihm, er war übrigens völlig wach und orientiert. Und ich habe auch seine Tochter kennenlernen dürfen, die sich bei mir bedankt hat.

Wie gesagt, seit heute findet mein Praktikumstag auf einer anderen chirurgischen Station statt. Mein Professor hat mich noch einmal zur Seite genommen: „Das hat keine disziplinarischen Gründe, dass Sie jetzt woanders sind. Sachlich haben Sie alles richtig gemacht. Ich rate Ihnen nur … nein, ich rate Ihnen nichts. Sie gehen manchmal einen schwierigen,
unbequemen Weg. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen mit chronischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen häufig die schwierigen Wege gehen. Damit werden Sie sich nicht immer nur Freunde machen.“

Ich antwortete: „Das ist mir bewusst. Ich bin mir aber sicher, dass nicht alle Menschen einen großen Bogen um mich machen werden. Es gibt Menschen, die mögen unbequeme Freunde.“ – Streckt er mir doch die Hand aus…

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